Ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine in der Nacht auf den 24. Februar 2022 werde ich den unangenehmen Eindruck nicht los, dass der eigentliche Krieg immer noch bevorsteht.
Diese Sorge liegt nahe, wenn man die Stimmungen in Russland – und vor allem in der Staatsbürokratie und der Präsidialadministration – verfolgt: Diese scheint viel stärker als noch vor einem Jahr davon überzeugt, dass der gewählte Kurs richtig ist, dies ist zumindest aus allen offiziellen Verlautbarungen zu schließen.
Die euphorische, aber wenig Neues sagende und trotzdem häufig von Applaus unterbrochene Rede Wladimir Putins vor den Vertretern der Föderalen Versammlung am 21. Februar 2023 ist nur ein weiterer Beweis dafür, ebenso das Moskauer Propagandakonzert für die eingesetzten russischen Soldaten vor Putin und einer "penibel ausgewählten Menge" am 22. Februar 2023 Es ist offensichtlich, dass dieser Krieg zumindest aus der Sicht der russischen Führung bisher durchaus erfolgreich verlief, obwohl der ursprüngliche Plan eines Blitzkrieges gescheitert ist – und dass diese Führung überhaupt nicht daran denkt, den Krieg zu beenden. Im Gegenteil, die Pläne werden immer ambitionierter, sie erstrecken sich immer weiter in die Zukunft. Der geopolitische Appetit wirkt immer größer, die Darstellung der eigenen historischen Mission immer größenwahnsinniger.
Überhaupt wurden die Zielsetzungen des Angriffs auf die Ukraine im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder neu und anders definiert. Inzwischen reichen sie von der „Befreiung“ der gesamten Ukraine bis zur „Formierung einer demokratischen Weltordnung“. Dieser Umstand hat zeitweise einige russische Journalisten und Politikexperten, so zum Beispiel Andrey Malgin oder Boris Pastuchow, zur Annahme veranlasst, dass das Ziel von Putins Krieg der Krieg selbst sei. Dies würde jede Suche nach einer friedlichen Lösung von vornherein ad absurdum führen: Wie verhandelt man über einen Frieden mit jemandem, der eine Konfrontation sucht? Mit jemandem, der ein Jahr nach Beginn dieses Krieges, den als einen solchen zu bezeichnen in Russland noch immer streng verboten ist, mit sich selbst sichtbar zufrieden scheint und sich in seinem Kurs auf Konfrontation bestärkt sieht?
Die Erfassung aller Kriegsopfer und -schäden wird noch lange dauern. Aus Russland gibt es keine oder völlig unglaubwürdige Angaben über die eigenen Verluste, zumal die der russischen Armee inzwischen Staatsgeheimnis sind und nicht veröffentlicht werden. Was man heute bereits angeben kann, ist, dass mindestens acht Millionen Menschen in der Ukraine durch den russischen Angriff ihre Wohnungen und Häuser verlassen mussten, nach sehr vorsichtigen Schätzungen mehrere Zehntausend ukrainische Soldaten gefallen sind, Tausende ukrainische Zivilisten getötet wurden, von den verwundeten und traumatisierten ganz zu schweigen. Die ukrainische Wirtschaft muss beständige Zerstörungen und Destabilisierung durch den Krieg verkraften. Und das alles ohne konkrete Ziele des Aggressors?
Russlands Kriegspropaganda: „Bemühen uns um eine ‚demokratische Weltordnung‘“
Russland bestreitet nach wie vor, die Ukraine angegriffen zu haben (!), und sieht sich folglich auch nicht im Krieg mit ihr - aber kämpft mit allen Mitteln - und welchem Ziel? Alles wirklich, wie es offiziell heißt, nur ein „spezieller Militäreinsatz“ gegen ein "Nazi-Regime" oder gegen einen absolut abwertend dargestellten Westen, in dem „Pädophilie zur Norm“ geworden sei? Auch diese Umstände trüben die Aussicht auf Friedensverhandlungen nach wie vor.
Nach Moskauer Darstellung habe der Westen über die Ukraine aggressive Absichten gegen Russland gestartet, warum dieses ein Recht und eine Pflicht habe, sich zu verteidigen. Öffentlichen Verlautbarungen russischer Offizieller nach verteidigen die Streitkräfte bloß die Souveränität und die Unabhängigkeit Russlands. Diese These ist womöglich wie keine andere zu einem propagandistischen Axiom geworden.
Der Umstand, dass die Kampfhandlungen nicht auf russischem Territorium stattfinden und damit die „Souveränität und Sicherheit“ Russlands auf dem Territorium eines anderen souveränen Staates, der Ukraine, durch die Verletzung von dessen Souveränität und Sicherheit „verteidigt“ wird, wird in russischen Medien nicht hinterfragt.
Genauso selbstverständlich werden von Russland über die Ukraine hinaus globale Ansprüche formuliert – mit einem selbstbewussten, ja pathetischen Oberton. So hielt der russische Botschafter in den USA, Anatolij Antonow, Anfang Februar 2023 fest, dass es das wichtigste Ziel Russlands in der Ukraine sei, eine „demokratische Weltordnung, die sich auf Gleichheit und Völkerrecht gründet“, zu gestalten. Aus diesen Worten ergibt sich, dass eine unabhängige Ukraine, wie sie seit 1991 besteht, die demokratische Weltordnung und das Völkerrecht störe, doch allenfalls stört der ukrainische Demokratiebazillus Russlands Diktatur.
Das Ringen um Logik – oder wenigstens Plausibilität – ist spätestens seit dem 24.2.2022 ein schweres Geschäft. Zahlreiche im Exil lebende russische Experten, Politiker und Journalisten bemühen sich in analytischen Texten und Interviews um Einsicht in die Pläne und das Weltbild Putins. Sie fragen sich, ob der Einmarsch in die Ukraine ein Fehler, maßlose Paranoia oder nicht minder ein Ausdruck maßloser Anstandslosigkeit und Dummheit seien.
Die erneute Lektüre von George Orwell, Sebastian Haffner oder Viktor Klemperer könnte, so hoffen viele regimekritische Intellektuelle, helfen, aus dem Nebel der gänzlich verdrehten Begriffe und konsequent geleugneten Tatsachen herauszutreten und irgendeinen „rationalen Halt“ zu finden, aber auch das scheint zum Scheitern verurteilt. Stattdessen wirkt sich die Profanierung der Grundbegriffe („Krieg“ und „Frieden“, „Aggressor“ und „Opfer“) und die Verohnmachtung der Sprache als einer der wichtigsten Erfolge des „Putinismus“ aus, was den militärischen, politischen und intellektuellen Widerstand gegen Putin ebenfalls erheblich erschwert.
Harte Repression
Die Willkür bei der Verwendung von Sprache und der Deutung von Begriffen geht Hand in Hand mit der Willkür der Repression. So erging es - augenscheinlich vorbereitend auf den Krieg - der ältesten und international bekanntesten NGO Russlands, „Memorial“, die sich seit über drei Jahrzehnten mit konsequenter historischer Arbeit um Erinnerung an die Opfer des Staatsterrors in der Sowjetunion bemüht hat und die mithilfe dubioser Vorwände verboten wurde.
Am Vorabend des Großangriffs auf die Ukraine wurden einige zentrale Stellen von „Memorial“ geschlossen, weil dieses – so die offizielle Begründung – die historische Erinnerung verzerre, Desinformationen verbreite und die Bürgerrechte verletze (!). Dass gerade die drei wichtigsten Ziele der Arbeit von „Memorial“, nämlich die historische Arbeit, die öffentliche Aufklärungsarbeit und die Menschenrechtsarbeit, – und nichts anderes hat die NGO in den letzten dreißig Jahren gemacht! – von der Staatsanwaltschaft als Begründung für ihre Auflösung herangezogen wurden, ist kafkaesk. Die Auflösung von „Memorial“ war der Auftakt einer rückblickend sehr erfolgreichen Kampagne zur Verschärfung der Repression und endgültigen Brandmarkung von Andersdenkenden – auch und gerade mithilfe verdrehter Begriffe und der Profanierung wirklich jeglicher Argumente.
Trotz aller Erschwernisse veröffentlichten Ende November 2022 Menschenrechtsaktivisten der Organisation „OWD-Info“ Ergebnisse ihrer Monitoringarbeit: Bis zu diesem Zeitpunkt wurden in Russland seit Beginn des Großangriffs auf die Ukraine fast 20.000 Menschen wegen ihrer Kritik an diesem Krieg verhaftet und mehr als 5.500 Verfahren wegen „Diskreditierung des Einsatzes der Streitkräfte Russlands“ eingeleitet, wofür hohe Geldstrafen, aber auch mehrjährige Gefängnisstrafen drohen. So erhielt zum Beispiel im Juli 2022 der junge Blogger Alexej Podnebesnyj eine Geldstrafe, weil er einmal auf Social Media den „Einsatz“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine in Anführungszeichen setzte. Diese hätten, so die Gerichtsdokumente, den Begriff „Einsatz“ ironisch verzerrt. Diese Ironie brachte dem Angeklagten eine Strafe von 400 Euro ein, womit er noch Glück hatte.
Dagegen erhielt die Journalistin Marija Ponomarenko im Februar 2023 sogar sechs Jahre Straflager für ein Posting auf ihrem Telegramkanal über das am 16. März 2022 durch die russischen Streitkräfte bombardierte Theater im ukrainischen Mariupol, in dem sich zu diesem Zeitpunkt mehrere Hundert Menschen, darunter sehr viele Kinder, vor den Kampfhandlungen versteckt hatten. Ponomarenko drückte damals die Befürchtung aus, dass dabei Tausende unschuldige Menschen starben. Heute geht man auf der Grundlage von unterschiedlichen Schätzungen davon aus, dass damals zwischen 300 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Moskau bestreitet das hartnäckig, erklärt solche Angaben zum „fake“ und strebt eine strafrechtliche Verfolgung all jener an, die seine offizielle Version anzweifeln.
Vielleicht deshalb, weil 2022 so viele Verfolgungen wie in keinem anderen Jahr des postsowjetischen Russlands stattfanden, sind gerade – wenn man sich denn um ein Verständnis der Vorgänge im Inneren bemüht – die vorliegenden Gerichtsdokumente aufschlussreich: An ihnen fällt stets auf, dass die Verfolgung Andersdenkender vorwiegend mit einer einzigen Begründung erfolgt: dass nämlich dem Kurs des Präsidenten nicht widersprochen werden dürfe. Auch ein neues Gesetz, wonach jede pazifistische Haltung als „Diskreditierung der Streitkräfte Russlands“ und damit als strafbar gedeutet wird, enthält in den Formulierungen eine bemerkenswerte Spezifikation. Strafbar ist diese Haltung nämlich nicht, weil der russischen Armee damit ein Imageschaden zugefügt oder sie gar in ihrer Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt würde.
Strafbar ist allein, und das steht in den Gerichtsdokumenten wörtlich, den Einsatz der Streitkräfte in der Ukraine anzuzweifeln, der durch Putin beschlossen wurde. Mit anderen Worten: Strafbar ist, mit der Entscheidung des Präsidenten, in die Ukraine einzumarschieren, nicht einverstanden zu sein – aus welchem Grund auch immer. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass nicht alle der 2022 Festgenommenen gegen Putin waren (und sind?). Viele von ihnen haben sich in seinem Russland sehr wohl gefühlt und sich kaum für die politischen Entwicklungen hin zu einer harten Diktatur interessiert; sie wurden von der drastischen Verschärfung der Repressalien ab Februar 2022 völlig überrascht.
Solche Gerichtsdokumente können eine wertvolle Quelle auch für Einsichten in die Zielsetzungen Putins sein. So stand im bereits erwähnten Gerichtsbeschuss gegen Alexej Podnebesnyj (und seine Anführungszeichen), dass der Einsatz der Streitkräfte Russlands in der Ukraine der „Unterstützung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit“ diene (!), obwohl offenkundig das genaue Gegenteil zutrifft. Hinweise auf Fakten und Argumente (wenn man überhaupt über diese Möglichkeit verfügt), werden geschickt ad absurdum geführt. So behaupten Vertreter der russischen Staatselite und die zahlreichen ihr zuarbeitenden Intellektuellen allen Ernstes, dass das militärische Vorgehen in der Ukraine insbesondere gegen den ganz und gar heuchlerischen, sich selbst und andere belügenden „Westen“ gerichtet sei – das sei sogar seine wohl wichtigste Mission. Die jüngste Rede Putins vor der Föderalen Versammlung ist wieder ein gutes Beispiel dafür.
In dieser Rede, wie auch in vielen weiteren seiner Statements, betont Putin das, was die ihn unterstützende intellektuelle Eilte (übrigens nicht nur in Russland) gerne immer wieder wiederholt: dass Liberalismus, Demokratie, Moral, Rechtsstaat und so weiter nichts anderes als Fiktionen, „fakes“ und hinterhältige Dominanztechnologien des Westens seien und dass Russland viel besser wisse, wie man diese politischen Institutionen und Werte etabliere! Doch die langen Jahre des „Putinismus“ zeugen konsequent davon, dass es eines seiner wichtigsten Ziele ist, die Überzeugung, dass Menschen politische Freiheiten haben wollen und schätzen können, als eine Fiktion darzustellen beziehungsweise als solche zu entlarven. Zusätzlich berufen sich die Staatsmänner Russlands darauf, dass sie in diesem Bestreben weltweit von der Mehrheit der Staaten freudig unterstützt würden.
Die Stimmung gegenüber dem Krieg
Zumindest in Russland können sie derzeit tatsächlich mit einer weitgehenden Unterstützung rechnen. Zum „Nicht-Krieg“ in der Ukraine herrscht bei der Mehrheit der Bevölkerung wenn nicht eine offene Unterstützung, so doch zumindest eine wohlwollende oder gleichgültige Akzeptanz. Insgesamt lässt sich nach einem Jahr Krieg sagen, dass sich erstaunlich viele Menschen mit ihm abgefunden haben.
Bestimmte Kreise haben sich, etwa vom Staat gut dotierte patriotische Initiativen in der Kulturbranche oder zahlreiche Businessstrukturen, die sich auf mehr oder weniger legale Parallelimporte spezialisieren, sichtbar sogar ziemlich gut damit arrangiert.
In Russland ist heute kaum eine offene politische, öffentliche, journalistische oder auch nur literarische proukrainische Geste möglich. Mehrere Hunderttausend Menschen mussten Russland deswegen verlassen; im Land selbst etablierten sich zum einen verschiedene Praktiken des Konformismus, zum anderen nicht minder diverse Formen, im stillen Untergrund wenigstens etwas Freiheit zu bewahren und Widerstand zu leisten. Genaue Angaben, wie groß diese Segmente der Bevölkerung – die Ausgereisten, die Zurückgebliebenen und Konformen sowie die Gebliebenen und verdeckt Oppositionellen – sind, lassen sich heute nicht machen, zumal es zwischen diesen drei Gruppen bemerkenswert fließende Übergänge und Überlappungen gibt.
Soziologisch betrachtet sind die Prägung der Bevölkerung durch profanierte und verdrehte Begriffe, das massive Lügen und das systematische Auf-den-Kopf-Stellen elementarer Tatsachen sowohl in den Medien als auch in der Arbeit der riesig gewordenen Staatsbürokratie die schlimmsten (Zwischen-)Ergebnisse von 24 Jahren Putin. In der Bevölkerung wirklich verankerte Begriffe und Haltungen sind rar geworden; eine aufrichtige und begründete Überzeugung versucht man zu vermeiden, solange man eine (aus der Sicht des Kremls) „richtige“ vortäuschen kann. Es darf aber vermutet werden, dass dieser Zustand weniger unter Putin ganz neu errichtet, sondern wiederbelebt und verschärft wurde.
Denn auch in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion war nicht so sehr eine prinzipiengetreue ideologische Haltung (oder wie es damals hieß: „richtige Gesinnung“), sondern vielmehr die Bereitschaft, eine Haltung vortäuschen zu können, relevant. Betrug, Verstellung, List, Heuchelei, Lüge und Misstrauen einerseits und die unaufhaltsame Suche nach den letzten legalen oder verbotenen Inseln der Echtheit, authentischen Leidenschaft und vertrauensvollen Offenheit andererseits – dies waren die wichtigsten politischen Prägungen des Menschentypus homo sovieticus.
Der lange Schatten der Sowjetunion
Der russische Philosoph und Soziologe Igor Tschubais nannte die letzten Aufbruchsjahre der Sowjetunion, die unter dem Namen Perestrojka (Umgestaltung) in die Geschichte eingingen, eine Lüge der besonderen Art, in seinen (paraphrasierten Worten) war es eine Manipulation der Aufdeckung von Sachverhalten zur Aufdeckung von Manipulationen. Die damalige Führung der KPdSU nutzte Parolen der „Tauwetter“-Generation (ab Mitte der 1950er Jahre) und dann der Dissidentenbewegung für eigene propagandistische Zwecke – ohne sich auch nur im Geringsten um deren Ziele und Werte zu bemühen. Eine der verheerenden Schwächen der gesellschaftlichen Reflexion während der Perestrojka bestand in deren Unfähigkeit, die eigenen Ideale und Illusionen und die politischen, sozialen und historischen Irrtümer zu verurteilen. Enttäuschung und Ernüchterung fanden keine logische Fortsetzung, was eine umfassende juristische und moralische Verurteilung der Struktur der Herrschaftsbeziehungen in der sowjetischen Gesellschaft bedeutet hätte.
So mündete die Enttäuschung über die Realität der Sowjetunion in eine beinahe noch stärkere Enttäuschung über die Perestrojka und eine langsame Restauration von autoritären Verhältnissen, die wiederum nach und nach in eine neue Diktatur abdrifteten. Dass dieser letzte sowjetische Versuch, den Irrglauben und die Lüge loszuwerden, sich schließlich selbst als Irrglaube und Lüge herausstellte, dürfte wesentlich zur Entwicklung der postsowjetischen russischen Gesellschaft beigetragen haben – wie auch dazu, dass Betrug und „fakes“ (wieder) einen besonders hohen Stellenwert in seiner politischen Kultur einnehmen konnten: Es ist möglich, dass sie selbst die Verhältnisse in der Sowjetunion übertroffen haben.
Alte und ältere Menschen, die sich an die 1960er, 1970er und 1980er Jahre gut erinnern, geben oft an, dass die derzeitigen Lügen in Medien und Bürokratie von Putins Russland die UdSSR in Sachen Dreistigkeit erheblich übertreffen. Heute werden zahlreiche (unter anderem in der psychologischen Wissenschaft entwickelte) Technologien der Manipulation und Zersetzung des Denkens eingesetzt; die unentwegt produzierten „fakes“ und Fiktionen sind viel aggressiver und besitzen mehr Zerstörungspotenzial als zu sowjetischen Zeiten.
Der ungetrübte Glaube an den eigenen Sieg
Denis Wolkow, Direktor des renommiertesten Meinungsforschungsinstituts Russlands, „Levada Center“, vertritt inzwischen die These, dass die Unterstützung des laufenden großen Krieges gegen die Ukraine jahrelang aufgebaut worden sei und bereits 2021 konsolidiert war. Die dann 2022 erhobenen Daten und die Dynamik ihrer Veränderung (oder Nicht-Veränderung) waren daher für Wolkow keine Überraschung mehr. So gab knapp weniger als die Hälfte der Befragten im Januar 2023 an, die „Situation um die Ukraine“ (der Begriff Krieg darf in den Fragen nicht verwendet werden) kaum oder gar nicht zu verfolgen, was fast genau den Antworten auf diese Frage im März 2022 entsprach. In mehreren Texten und Interviews gehen die Wissenschaftler aus dem „Levada-Center“ darauf ein, wie solche Daten zu interpretieren sind und inwiefern sie das tatsächliche Stimmungsbild wiedergeben. Mit mehreren Methoden und analytischen Instrumenten sichern sie die Validität ihrer Daten ab und legen dar, dass bei einem behutsamen Vorgehen durchaus die Stimmungslage erfasst und korrekt wiedergegeben werden kann.
Laut diesen Befragungen geben 75 Prozent der Befragten nach wie vor an, „die Tätigkeit der Streitkräfte Russlands in der Ukraine“ bestimmt oder eher zu unterstützen. Ebenfalls ist nach einem Jahr Krieg der Anteil der Befragten fast unverändert, die davon überzeugt sind, dass Russland siegen wird: 73 Prozent waren im März 2022 davon überzeugt, 71 Prozent sind es heute.
Was sich geändert hat, sind die Schätzungen der Befragten, wie viel Zeit für diesen Sieg notwendig sein wird: War noch im Frühjahr 2022 die Mehrheit davon überzeugt, dass dafür weniger als ein Jahr notwendig ist, gehen inzwischen 43 Prozent davon aus, dass die „Kampfhandlungen in der Ukraine länger als ein Jahr“ (gerechnet von jetzt an) dauern werden. Man ist siegesgewiss und stellt sich relativ leicht auf eine längere Militärkampagne ein.
Die zentralen Merkmale der unter Putin 2022 endgültig errichteten Diktatur entsprechen durchaus jenen Diktatur-Kriterien, die Hannah Arendt formuliert hat: Die Sakralisierung der Staatsführung und das Prinzip ihrer absoluten Unfehlbarkeit, ein elaborierter repressiver Staatsapparat und die durch Propaganda vermittelten zahlreichen Lügen und Fiktionen, allen voran die Fiktion einer absoluten Notwendigkeit, sich vor inneren und äußeren Feinden schützen zu müssen.
Der russische Soziologe Lew Gudkow schlägt allerdings vor, die totalitären Ordnungen nicht als ein fixes historisches Modell zu behandeln, sondern sie in ihrer jeweils spezifischen Dynamik zu verstehen, denn sie würden nach einer bestimmten Eigenlogik „evolutionieren“, besonders, wenn sie viele Jahrzehnte lang bestehen und als Sieger aus Kriegen hervorgehen würden. In solchen Gesellschaften etablieren sich nachhaltig auf mehreren Ebenen verankert:
(1) das Prinzip der Unfehlbarkeit der Staatsmacht, aber auch
(2) ein durchgängig als legitim erachtetes Recht des Stärkeren,
(3) eine hohe Gewalttoleranz,
(4) enorme Korruption beziehungsweise Korrumpiertheit auf allen Ebenen von Bürokratie und Verwaltung und
(5) die Unmöglichkeit der Kritik von Gewaltwillkür und Machtmissbrauch.
Fazit
An der Geschichte der späten Sowjetunion und insbesondere den Umbrüchen im postsowjetischen Russlands lässt sich die systematische Suche nach einem politischen System beobachten, in dem die autoritären und totalitären Praktiken nur so weit Anwendung finden, als das System nicht instabil wird. Mit anderen Worten (so anscheinend die Lehren aus der Zeit des massiven Staatsterrors unter Josef Stalin): Es wird ein autoritäres Regime oder gar eine Diktatur präferiert, die Massenterror und sinnlos ausufernde Gewalt nach Möglichkeit vermeidet. Bei den Repressalien greift der repressive Staatsapparat vor allem zu verschiedenen Taktiken von Bestechung, Erpressung und Zersetzung, was unter anderem der Grund für die unter Putin wuchernde Korruption ist.
Immerhin ist Putin im spätsowjetischen Komitee für Staatssicherheit (KGB) sowie den während der Perestrojka rasch entstandenen kriminellen Strukturen und nicht im Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) unter Stalin sozialisiert worden. Nun wird auch Hoffnung in neue Medien-Technologien gesetzt, die zur Errichtung von Fiktionen dienlich sind und dies noch raffinierter als bisher bewerkstelligen.
Zu den historischen Lehren aus Sicht Putins gehört sicherlich auch, dass man Lügen und Fiktionen wie auch die manipulativen Praktiken der Korruption nicht nur innen-, sondern vielfach auch außenpolitisch einsetzen sollte (was dann in der Folge unter anderem zur Ernennung früherer westlicher Politiker in Aufsichtsräte großer russischer Staatsfirmen führte). Es ist ihm offensichtlich bewusst, dass sich für seine Ambitionen der profane geopolitische Appetit wenig eignet, vielmehr soll das Gewalthandeln im Namen von „echten Werten“ und erhabenen Missionen (wie etwa dem „Weltfrieden“) erfolgen.
Und so muss man im Falle von Russland unter Putin leider konstatieren, dass sich dieses Regime nach außen wie innen ziemlich erfolgreich zu tarnen wusste und weiß. Dabei bleibt es das Ziel der Herrschenden, aber auch das der Mehrheit der Bevölkerung, Beweise für die Richtigkeit der eigenen Positionen und eine Unfehlbarkeit von Russland zu erlangen – selbst um den Preis immer neuer Kriege. Auch das macht aktuell die Hoffnung auf erfolgreiche Friedensverhandlungen illusorisch. Und es bedarf viel Mut und selbstbewusste Gegenkraft, um den oben beschriebenen Bestrebungen entgegenwirken zu können.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, "Wenig Hoffnung auf baldigen Frieden", in: Deutschland Archiv, 23.2.2023, www.bpb.de/518509.
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