Der 13. Februar 1945 im kollektiven Gedächtnis Dresdens
Gedenkrituale und Wandel der Erinnerungskultur
Claudia Jerzak
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Eine Menschenkette mit mehreren Tausend Teilnehmenden umschloss am 13. Februar 2024 wieder die Dresdener Innenstadt. Außerem fanden Gedenkandachten statt, in deren Mittelpunkt das gemeinsame Gedenken an das Bombardement der Elbestadt Mitte Februar 1945 stand und das Andenken an Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Auch Neonazis versuchten erneut aufzulaufen, wie in den Jahren zuvor. Hier das städtische Externer Link: Gedenkprogramm 2024.
Am 13. Februar 2024 jährte sich die Zerstörung großer Teile Dresdens zum 79. Mal, die Alliierten hatten damals mit ihren Bombardements den Druck auf das nationalsozialistische Deutsche Reich erhöhen wollen, endlich den Krieg zu beenden. Rechtsextremisten versuchen regelmäßig, dieses Gedenken zu okkupieren, Dresdens Stadtgesellschaft hält seit 2010 dagegen - symbolisch mit einer schützenden Menschenkette rund um das Zentrum.
Erstmals gab es in Dresden eine solche Menschenkette im Februar 2010, auch als Reaktion auf umfangreiche Neonaziaufzüge, die das Gedenken an die etwa 25.000 Bombenopfer in Dresden mit ihren Feindbildern propandistisch für sich ummünzen wollten und Geschichte nach wie vor mit ideologischer Brille fälschen wollen.
So versuchten 2024 wie schon im Vorjahr am 11. Februar 2023 zum wiederholten Male rund 1.000 Rechtsextreme in Dresden einen "Trauermarsch" durchzuführen, wurden aber durch ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis weitgehend isoliert. Ein weiterer Versuch am Abend des 13.2.23 schlug aufgrund von Sitzblockaden ebenfalls weigehend fehl. Beide Male waren rund 2.000 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz, 2024 erneut.
Wie sich das Gedenken in Dresden seit 1945 gewandelt hat, beschreibt im nachfolgenden Text die Dresdener Soziologin Claudia Jerzak :
1. DIE LUFTANGRIFFE AUF DRESDEN UND DIE ENTSTEHUNG DER ZERSTÖRUNGSNARRATIVE
Die Altstadt von Dresden wurde im Februar 1945 bei einem der wenigen Luftangriffe der Royal Air Force und US Air Force auf die Stadt nur wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Rund 25.000 Menschen starben. Nach den Bombardements vom 7. Oktober 1944 und vom 16. Januar 1945 bildeten die Luftangriffe des 13. – 15. Februar in Umfang und Intensität eine neue Qualität der Dresdner Kriegserfahrung.
Das deutsche Reichspropagandaministerium lancierte infolgedessen eine Pressekampagne, die das Bild einer friedliebenden Kunstmetropole zeichnen sollte. So beschrieb der Völkische Beobachter am16. Februar »das Kulturverbrechen in Dresden«, der Freiheitskampf nannte die Alliierten »kulturlose Barbaren«, die sich »am Kulturbesitz der Welt versündigt« hätten. Antisemitische Feindbilder bildeten einen weiteren roten Faden: die Bombardierungen zeigten »die wahre Fratze des immer vernichtenden und mordenden Juden«. Das Reich beschrieb am 4. März »die vier Akte eines kühl berechneten Mord- und Vernichtungsplanes« gegen die unschuldige Zivilbevölkerung und »[e]ine Stadtsilhouette von vollendeter Harmonie«. Die alliierten »Luftgangster« – oder auch »Lufthunnen« – hätten mit der »Fratze der sinnlosen Zerstörung« auf die »Vernichtung abendländischer Kultur« abgezielt (Sparing 1945).
Die Topoi »Terroranschlag« beziehungsweise »Terrorangriffe« steigerten sich in den folgenden Tagen. Der »sadistische Bombenterror« sei »feige«, »brutal« und »skrupellos« auf die Zerstörung der Moral der deutschen Bevölkerung ausgerichtet gewesen. Reichsnahe ausländische Presse griff diese Topoi sowie die gefälschten Opferzahlen von über 200.000 Toten auf. In den wenigen verbleibenden Kriegsmonaten wurde Dresden zum Symbol für die Sinnlosigkeit der Zerstörung einer besonderen Stadt, für die namenlose Dimension der Katastrophe, die plötzlich unzählige unschuldige Opfer traf. Seither konstituiert sich der Mythos Dresden um einen Kern aus dem Bild der unschuldigen Kunst- und Kulturstadt, überzogenen Todeszahlen und Legenden von Tieffliegern. Taylor diskutiert die Totenzahlen und legt sich auf 25.000-40.000 fest. Die von 2004-2010 tätige Historikerkommission konstatiert maximal 25.000 Tote durch die Luftangriffe (Dresdner Historikerkommission 2010).
In der sowjetischen Besatzungszone wurde das Symbol Dresden übernommen, um sich von den »Westmächten« abzugrenzen. Nach anfänglichen Schuldeingeständnissen wurden die Bombardierungen als anglo-amerikanische »Terrorangriffe« bezeichnet. 1948 wollte die SMAD vermeiden, dass die 20 als Großkundgebungen ausgegebenen Gedenkveranstaltungen Trauercharakter annähmen, sondern stattdessen die westlichen Alliierten anklagten.
Infolgedessen bewegten sich die Redner*innen inhaltlich zwischen dem Bekenntnis deutscher Schuld, der Betonung des eigentlich schon entschiedenen Krieges und der Abgrenzung der sowjetischen zur anglo-amerikanischen Kriegsführung. 1949 fanden abermals größere Veranstaltungen statt, die diesen Vorwurf noch verstärkten. Sie wurden allerdings eingeleitet von der Schuldzuweisung an die deutsche sowie explizit die Dresdner Bevölkerung. Die Angaben zu den Totenzahlen stiegen in diesem Jahr von 25.000 auf 32.000 (vgl. Reichert 1994: 151f).
Während der Anfang der 1950er Jahre erfolgenden Integration der BRD in »Westbündnisse« und der DDR in den »Ostblock« bot sich Dresden als starkes Symbol für das Friedensmotiv an. Mit diesem warb die DDR-Führung im In- und Ausland um Zustimmung. Die BRD wurde dagegen als Nachfolgestaat des Dritten Reiches hingestellt, der mit den »alliierten Kriegstreibern« koalierte. Losungen lauteten »Die Mörder Dresdens sind die Kriegstreiber von heute« oder 1952 anlässlich des Korea-Krieges »Gestern Dresden, heute Korea, morgen die ganze Welt – Darum kämpft für die Erhaltung des Friedens!« Die Mythologisierung Dresdens als unschuldige Kunst- und Kulturstadt war in vollem Gange.
Mitte der 1950er Jahre zählten zahlreiche Veranstaltungen bereits zum festen Bestandteil der Dresdner Erinnerungskultur. Am 12. Februar wurden Versammlungen in Betrieben und Schulen sowie Kulturveranstaltungen organisiert. Am Morgen des 13. Februars fanden Kranzniederlegungen auf dem Heidefriedhof sowie an anderen lokalen Erinnerungsorten statt. Am Mittag legte der Verkehr eine einminütige Pause ein. Einer zentralen Gedenkveranstaltung mit prominenten Intellektuellen im Großen Haus des Staatsschauspiels folgte ab 1957 eine Massenkundgebung auf dem Altmarkt. Die FDJ organisierte danach oft einen Fackelumzug. Politische Vertreter*innen aus der DDR und der BRD reisten an, die internationale Presse berichtete regelmäßig (vgl. Neutzner 2005: 148f).
Das wesentliche Element des Dresdner Zerstörungsmythos stellt das Bild der unschuldigen Kunst- und Kulturstadt dar, die plötzlich und kurz vor Ende des Krieges sinnlos zerstört wurde. Bis in die 2000er Jahre sollten die von der nationalsozialistischen Propaganda geprägten Zahlen von bis zu 200.000 Toten kursieren und einerseits das Bild von Dresden, andererseits die Formen der Dresdner Erinnerungskultur beeinflussen.
Werden gedächtnis- und ritualtheoretische Ansätze auf die Dresdner Erinnerungskultur bezogen, wird deutlich: In Gedenkveranstaltungen stellen Akteur*innen mittels kommunikativer Handlungen Erinnerung her. Die jeweiligen Bedeutungsrahmen der Veranstaltungen sind verknüpft mit erinnerungskulturellen, geschichts- bis hin zu gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Gegenwärtige Sinnbedürfnisse bestimmen dabei die Auswahl der teilweise konkurrierenden Bedeutungsrahmen. Das Interesse an der Vergangenheit ist dabei ein Interesse an der Gegenwart, an der (De-)Legitimation bestehender gesellschaftlicher Wertvorstellungen.
2. FORMEN DER ERINNERUNG IN DER DDR
Bereits in den 1970er Jahren gehört es zu den tradierten individuellen, nicht staatlich oder anderweitig institutionell initiierte Praktiken, am 13. Februar vor allem im Innenstadtbereich Kerzen im Gedenken an die Bombardierungstoten aufzustellen. Seinen politischen Bedeutungsgehalt bekam das »Stille Gedenken« jedoch erst im Jahr 1982.
Nach einer relativen Ruhephase der Erinnerungskultur in den 1960er- und 1970er-Jahren (vgl. Ulrich 2002, Neutzner 2005: 157), wurde das Dresdner Gedenken an die Bombardierungen durch eine pazifistische Initiative oppositioneller Jugendlicher im Jahr 1982 wiederbelebt, die später als das Dresdner »Stille Gedenken« bezeichnet werden würde (s. auch Jerzak 2012). 1981 entstand ein loser Zusammenhang von Dresdner Jugendlichen, die sich sowohl in Jungen Gemeinden als auch in der Hippie-Bewegung verorteten. Einige dieser Jugendlichen beschlossen, ihren »Wunsch nach frieden ausdrücken« zu wollen. Diese Initiative dieser, später Friedenskreis genannten Gruppe stand im Zusammenhang mit dem weltweiten Aufschwung der Friedensbewegung seit 1977 (vgl. Jerzak 2013). Aus dem Kreis dieser Jugendlichen war es konkret Johanna Kalex, die auf die Idee zur Protestaktion kam, als einer ihrer Freunde ihr von einer katholischen Wallfahrt nach Polen erzählte. Bei dieser Wallfahrt wurden Kerzen in Form eines Kreuzes aufgestellt und ein Friedensgebet gesprochen. Ein Jahr zuvor war in Polen die freie Gewerkschaft Solidarnosc unter anderem mit Unterstützung der katholischen Kirche gegründet worden, weshalb bereits dieser Symboltransfer von verschiedenen Zeichensystemen geprägt ist.
Um die Konsequenzen militärischer Auseinandersetzungen aufzuzeigen, bot sich die zerstörte Stadt an, noch immer sichtbar in unzähligen Ruinen – an erster Stelle die der Frauenkirche, die bereits 1966 zum Mahnmal deklariert worden war. Nicht nur DDR-weit, sondern auch in den am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten war sie zum Symbol für die »sinnlosen« Zerstörungen und »unschuldigen Opfer in der Zivilbevölkerung« im Zweiten Weltkrieg geworden (vgl. Joel 2011: 204, sowie u. a. Taylor 2004, MacGregor 2014: 493ff, Overy 2014: 894, Grant 2004). Auf diese Deutung bezog sich der Friedenskreis ebenso wie auf die lokale Bedeutung als Gedenk- und Anti-Kriegstag. In der Stasi-Akte zur Flugblattaktion heißt es zur damals aktuellen Verankerung des Tages im kollektiven Gedächtnis, einer der Initiator*innen bemängele, »wie viele Dresdner dieses Datum bereits vergessen haben.«
Bereits in diesem Gründungsmoment kam es zwischen dem Friedenskreis, der Evangelischen Kirche und der SED-Stadt- und Bezirksverwaltung zu Auseinandersetzungen um die Durchsetzung von Geltungsansprüchen.
Das Ausmaß der angedrohten beziehungsweise umgesetzten Konsequenzen seitens der SED sowie des Zuspruchs zu den (Ausweich-)Veranstaltungen verschiedener Akteur*innen verdeutlicht die gesellschaftliche Bedeutung von Sichtbarkeit und symbolischer Repräsentanz akteursspezifischer Zielsetzungen. Der Fackelzug der FDJ [Freie Deutsche Jugend, Jugendorganisation der SED, Anm. CJ], der von der SED als Reaktion auf die Friedenskundgebung an der Frauenkirche geplant war, fand allerdings nicht statt.
Um staatliche Repression wegen pazifistischer, systemfeindlicher Hetze zu vermeiden, akzeptierten die Initiator*innen der Aktion das Angebot der Evangelischen Kirche, die Kundgebung in die nahegelegene Kreuzkirche zu verlegen. Das sogenannte Friedensforum, in den darauffolgenden Jahren weitergeführt als Friedensgebete, sollte bis zum aktuellen Gedenken den Schwerpunkt der Gedenkveranstaltungen der Kreuzkirche am 13. Februar darstellen (vgl. Neubert 1997: 398, Jerzak 2009). Gegen 21:45 Uhr, so vermerkte die Stasi am 13. Februar 1982, endete das Friedensforum: »Ca. 400–500 Jugendliche, vorwiegend im Alter von 15–18 Jahren, trafen sich in Gruppen und Grüppchen an der Ruine der Frauenkirche, wobei der Bewegungsablauf diszipliniert vonstattenging und keine Organisationsformen erkennbar waren. Durch die Jugendlichen wurden bis ca. 50 Kerzen angezündet.« Bis 23:00 Uhr wurden Blumen niedergelegt, »We shall overcome« und »Sag mir, wo die Blumen sind« gesungen und ein Kreuz aus Kistenbrettern mit der Aufschrift »35.000 Tote – warum« aufgestellt. Die Stasi war zufrieden.
3. DRESDEN ALS GESAMTDEUTSCHES SYMBOL IN DER WENDE- UND NACHWENDEZEIT
Ab 1989 flammten bundesweit geschichtspolitische Deutungskämpfen um Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg wieder auf., Infolgedessen nahm auch der Erinnerungsort Dresden an Bedeutung zu. Die Frauenkirche war nicht mehr nur öffentlicher Raum, sondern ein »symbolisch aufgeladenes Ordnungszeichen« (Rehberg 1999: 36), ein erinnerungskultureller »Eigenraum«. Auch hier hatte die NS-Propaganda bereits Grundlagen gelegt, als sie die Frauenkirche als eines der »höchsten Kulturgüter der Welt« einordnete und ihre Zerstörung als bewusste »Schändung« anprangerte.
Diese Provenienz war vergessen als Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in seiner Ankündigung der »Einheit der Nation« an der Frauenkirche zuspitzte: »Und ich möchte hier [!] vor Ihnen diesen Schwur erweitern, indem ich Ihnen zurufe: Von deutschem Boden muss in Zukunft immer Frieden ausgehen – das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!« (Kohl 1989). In diesem Moment wurden die Frauenkirche und mit ihr das zerstörte und wiederaufzubauende Dresden als gesamtdeutsches Symbol wahrgenommen – und zur Legitimation der Wiedervereinigung herangezogen.
Am 12. Februar 1990 veröffentlichte eine Dresdner Initiative den Ruf aus Dresden – 13. Februar 1990 mit den Worten: »Wir rufen auf zu einer weltweiten Aktion des Wiederaufbaues der Dresdner Frauenkirche zu einem christlichen Weltfriedenszentrum im neuen Europa. (...) Wir wenden uns besonders an die Staaten, die den zweiten Weltkrieg geführt haben. Es ist uns dabei schmerzlich bewußt, daß Deutschland diesen Krieg entfesselt hat.«
Mit der Rekonstruktion der Frauenkirche als »Weltfriedenszentrum« wurden die pazifistischen Botschaften der Friedensbewegung durch den Versöhnungsbegriff verdrängt. Obwohl gleichzeitig die Akteur*innen des anti-militaristischen Protests den Ort Frauenkirche verließen und zum Teil an anderer Stelle aktiv wurden, wurde die Protestform der 1980er Jahre dem Äußeren nach beibehalten, so dass das nun gesamtdeutsche »Stille Gedenken« den Anschein von Kontinuität erhielt. Die bürgerschaftliche und nicht zuletzt kirchliche Selbstermächtigung der Opposition in der DDR wurde zum Gründungsmythos, nicht nur für das mit dem Schließen der »Wunde« »wiederauferstehende« Dresden. Vor allem im Ausgleich zu den tiefgreifenden institutionellen Veränderungen, die durch Wende und deutsche Wiedervereinigung eintraten, und der damit einhergehende Identitätsverlust der Ostdeutschen sollte positive identitätsstiftende respektive stabilisierende Erfahrungsräume eröffnet werden. Die lokale Tradition des Stillen Gedenkens bot diese Chance. (vgl. Jerzak 2009).
Diese Loslösung des Rituals von aktuellen Bezügen dezimiert jedoch auch seinen Bedeutungsgehalt. Sollte die Stiftung Frauenkirche nun auf den Ausdruck verzichten, den das »Stille Gedenken« der Empörung und dem Widerspruch innerhalb der nicht diskurs- und beteiligungsorientierten DDR-Gesellschaft verlieh? Bliebe dann nicht nur noch das historisch entkontextualisierende Friedenssymbol Dresden? Und intensivierte dies nicht unfreiwillig die Opfererzählung?
4. NEUERE HERAUSFORDERUNGEN UND KONFLIKTE IN DEN 2000ER JAHREN
Nach einer zunehmenden, aber wenig kontroversen Pluralisierung der Erinnerungskultur während der 1990er Jahre, wurde das Gedenken in den 2000er Jahren durch den Protest gegen die stetig zunehmende Teilnahme alter und neuer Nationalist*innen aktualisiert. Einer ersten Spontandemonstration mit 40 Teilnehmenden 1998, folgte 1999 eine erste Anmeldung der extrem rechten Jungen Landsmannschaft Ostpreußen (JLO), die 150 Neonazis bis in die Nähe der Frauenkirche führte. Die steigenden Teilnehmendenzahlen verdeutlichen, dass der Mythos der sinnlosen Zerstörung der Kunst- und Kulturstadt mit vielen unschuldigen zivilen Opfern für eine bald europaweite Mobilisierung taugte. Im Jahr 2000 reisten 500 Nazis an, unter anderem Größen der Naziszene wie Franz Schönhuber oder Horst Mahler. 2001 nahmen 800 Personen aus dem gesamten rechten Spektrum teil: neben JLO, der NPD und anderen extrem rechten Parteien beteiligten sich in den Folgejahren grundsätzlich auch weitere Vertriebenenverbände und Freie Kameradschaften.
Vom Jahr 2005 bis zum Jahr 2009 stieg die Beteiligung von 4500 auf 7000. Die Motti der »Trauermärsche« im »Gedenken an die Opfer des Bombenholocaust«, wie es im Aufruf der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen hieß, rangierten von »Die Frauen und Kinder Dresdens klagen die Alliierten an!«, »Ehre den Opfern des Bombenterrors« resp. »Wir gedenken der Opfer des alliierten Bombenterrors vom Februar 1945«. Alt- und Neonazis ging es jedoch nicht nur um das Gedenken, sondern ums Ganze. »Völkische Identität wird beschworen, wenn ›das Gedenken und Erinnern [zu] einem wichtigen Grundpfeiler unserer Volksseele‹ erklärt wird und die Bombardierungen zu einem ›alliierten Massenvernichtungsunternehmen‹ motiviert aus ›eliminatorischen Antigermanismus‹ umgedeutet werden.« (Antifa Recherche Team Dresden 2013: 42)
Auch die Totenzahl spielte eine wichtige Rolle. 1990 war der revisionistische britische Autor David Irving in Dresden spektakulär aufgetreten. Dresdner Zeitungen arbeiteten danach mit seiner Behauptung von 135.000 Toten. Irvings Buch »Die Zerstörung Dresdens« war in Deutschland seit 1963 sehr beliebt, da er unter anderem zwischen 100.000 und 250.000 Tote schätzte. Er hatte einen gefälschten Tagesbericht (Nr. 47) des NS-Propagandaministeriums verwendet.
In späteren Ausgaben verringerte Irving die Zahl auf 50.000 bis 100.000. Zuvor schon nannte der westdeutsche Autor Axel Rodenberger 100.000 bis 250.000 Todesfälle (Der Tod von Dresden, 1951). Der damalige Dresdner Oberbürgermeister Walter Weidauer forderte in den 1960er Jahren, von 35.000 auszugehen. Dem folgte der DDR-Autor Max Seydewitz, behauptete jedoch, man müsse darüber hinaus von einigen Tausend Vermissten ausgehen. Seit Ende der 1990er Jahre mobilisierten Alt- und Neonazis mit diesen überhöhten Zahlen für ihre »Trauermärsche«. Aufgrund dessen wurde 2005 eine Historikerkommission von der Dresdner Oberbürgermeisterin einberufen.
Der institutionalisierte Aktionstag wirkte inkludierend in die Neonaziszene hinein, nicht zuletzt deshalb, weil er »einen dauerhaften und nicht ständig erneut auszuhandelnden Konsens« (Virchow 2006: 99), also ein festes Datum im Demonstrationskalender der Neonaziszene darstellte. Ziel der rechtsextremen Anmelder zu Beginn der 2000er Jahre, d. h. der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen, Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) und ab 2004 des »Aktionsbündnisses gegen das Vergessen« – war es stets, ihren »Trauermarsch« im Bereich der Dresdner Altstadt, symbolisch gerahmt von der Silhouette der »Kunst- und Kulturstadt«, durchzuführen. In der seit 2007 organisierten Aktionswoche inszenierte sich das Aktionsbündnis gegen das Vergessen mit unangemeldeten Mahnwachen, Skelett- und Fackelumzügen undsoweiter ebenfalls vorrangig in der Altstadt.
Die Landeshauptstadt Dresden reagierte auf die Aufmärsche und Gegendemonstrationen in den Jahren 2000 bis 2005 jedoch mit einer Allgemeinverfügung für die Innenstadt.
Derzufolge war im Bereich der Frauenkirche und des Neumarktes nur das »Stille Gedenken« erlaubt. Aus raumsoziologischer Perspektive verstärkt diese Festlegung auf eine Nutzung und eine Deutung des Rituals die im Gedenkritual zwangsläufige Platzierung sozialer Güter und Personen an einer Stelle. Diese Platzierung, also das Ereignis selbst, lässt einen einmaligen Ort entstehen. Da Platzierungen jeweils symbolische und materielle Aspekte enthalten (vgl. Löw 2001: 200), von deren Beschaffenheit Flexibilität sowie Privilegiertheit bzw. Peripherie eines Ortes abhängen, ist Raum auch zu verstehen als zeitgebundenes »Ergebnis eines Prozesses der Anordnung« (ebd.: 18). Diese Anordnung wird im Falle des Stillen Gedenkens konserviert. Seine eigentlich zeitgebundene Symbolik wird scheinbar zeitlos – und sakral.
Der Neumarkt und die Frauenkirche stellten so einen sakralisierten »Eigenraum« dar, nutzbar nur durch das »Stille Gedenken« oder im Ausnahmefall durch andere Aktivitäten der Stiftung Frauenkirche, einer Einrichtung der Stadt Dresden, des Landes Sachsen und der Frauenkirche. Nach der Beendigung des Wiederaufbaus und der Einweihung der Frauenkirche im Jahre 2005 wurde in den Jahren 2008 bis 2010 im Rahmen des Gedenkens eine Veranstaltung unter dem Motto Wahrhaftig Erinnern – Versöhnt Leben organisiert. Diese ist als kurzzeitige Reaktion auf die Veränderungswürdigkeit des »Stillen Gedenkens« zu verstehen. Zur nationalsozialistischen Nutzung der Frauenkirche als Dom der Deutschen Christen und zu den zeitgenössischen Neonaziaufmärschen, die sich immer wieder anklagend auf die Zerstörung des kulturellen Erbes und identitätsstiftend auf den Wiederaufbau der Frauenkirche bezogen, musste die Frauenkirche Stellung nehmen.
Dennoch bleibt die Frage bestehen, warum die Landeshauptstadt seit Jahren anderen Akteur*innen Veranstaltungen auf dem Neumarkt verwehrte und dieser Raum sogar per Sächsischem Versammlungsgesetz zu einer Zone erklärt wurde, in der die Würde von Opfern des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise hergestellt würde und somit zu schützen sei (Sächsische Staatsregierung 2012a). Eine Antwort findet sich in der Institutionalisierung des »Stillen Gedenkens« nach der Wende als ursprünglichstem, authentischstem erinnerungskulturellen Ritual. Auf der Suche nach Tradierungen bot sich das Kerzengedenken an, da es symbolisch aufgeladen war. Für die 1982 initiierte erste Zusammenkunft war die Kerze zentral – als erkennbare internationale Symbolik der Friedensbewegung einerseits, als religiöser Bezug auf die »Opferkerze« andererseits. Der damalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer beschreibt die Kerze als Zeichen von Hoffnung, Hingabe und Gewaltlosigkeit, das von den zu dieser Zeit durch die DDR reisenden Taizé-Brüdern übernommen wurde. Für Roman Kalex, Mitinitiator des ersten Friedensprotestes 1982, symbolisierten die Kerzen einfach eine bessere Welt. Die Wortlosigkeit des Gedenkaktes sollte staatliche Repressionen verringern, zugleich aber auch ein Zeichen gegen die wort- und losungsgewaltigen Propagandareden der SED setzen. »We shall overcome« wiederum ist eine Bezugnahme auf die Bürgerrechtsbewegung.
Traditionelle Symbole und zeitgenössische Zeichensysteme wurden zu einem »säkularprotestantischen Ritual« (Rehberg 2012: 204) verbunden. Die Bezüge zur Friedens- und Bürgerrechtsbewegung und zur christlichen Ikonografie verliehen dem Kerzengedenken seinen Bedeutungsüberschuss. Dieser unterstützte den Wiederaufbau der Frauenkirche in den 1990er Jahren.
Und auch der 1990 von der erwähnten Bürgerinitiative lancierte Ruf aus Dresden erbat nicht nur mit dem Argument, mit dem Wiederaufbau würde der Schlusssteins in der Dresdner Silhouette gesetzt, finanzielle Unterstützung. Es sollte darüber hinaus nichts weniger als ein neues »christliches Weltfriedenszentrum« entstehen. Denn »Jahrzehntelang war diese Ruine Anklage und Mahnmal für alle friedliebenden Menschen« (Ruf aus Dresden, 1990). Sowohl religiös als auch säkular gerahmt war die Rede von der Versöhnung aus Dresden und der Frauenkirche als deren Symbol. Die juristische Festlegung wurde begleitet durch die diskursive Verfestigung, »laute« Formen des Protestes gefährdeten das »Stille Gedenken«. Im 2006 gegründeten Bündnis Dresden für Demokratie (BDfD) bestand daher hinsichtlich des 13. Februars ein grundsätzlicher Konflikt in der Wahl der organisatorischen Mittel, um gegen die weiterhin stattfindenden Aufmärsche extrem rechter Gruppierungen zu demonstrieren: Demokratiemeile oder Demonstration (vgl. Schneider 2006).
Die CDU lehnte das Mittel der Demonstration grundsätzlich ab, mit dem Argument, »laute« Aktionsformen gefährdeten langjährige erinnerungskulturelle Traditionen, die dadurch in der Öffentlichkeit in den Hintergrund gerückt würden.
Trotzdem sich das Bündnis Dresden für Demokratie zum Ziel setzte, eine Aktion gegen den rechtsextremen ›Trauermarsch‹ zu gestalten und zu diesem Zweck ein gemeinsames erinnerungskulturelles Selbstverständnis zu formulieren, kritisierten einzelne zentrale Akteur*innen des Bündnisses das von der CDU verteidigte traditionelle »Stille Gedenken« als entkontextualisierte, überholte Form des Gedenkens. Als Reaktion auf den Konflikt trat ein weiteres Bündnis in Erscheinung: Geh Denken wurde bereits im Vorfeld des 13. Februars 2005 gegründet.
Zwischen 2006 und 2009 rief Geh Denken dazu auf, dem europaweit größten Vernetzungstreffen der rechtsextremen Szene entgegenzutreten und das Gedenken an die Bombardierungen in den historischen Kontext einzubetten.
Zwar beteiligte sich die CDU nicht an den Kundgebungen, doch signalisierte die Landeshauptstadt Zustimmung. Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) stellte heraus, es handele sich »nicht um Gegnerschaft, sondern um Ergänzung« der Gedenk- und Protestveranstaltungen. Superintendent Peter Meis sah deren Zusammenspiel als ein konzertiertes Miteinander der Stadt, der jüdischen Gemeinde, der Kirchen, dem Aktionsbündnis Geh-Denken, aller Dresdner und bundesweiter Gäste“.
Unwillkommen waren dahingegen zwei antifaschistische Initiativen: die Initiative gegen Geschichtsrevisionismus demonstrierte am 12. und 13. Februar, das neue Bündnis No Pasarán wurde am 13. Februar auf dem Weg zur zentralen Abschlusskundgebung des Gedenken-Sternmarsches gestoppt.
Aus der Feststellung von No Pasarán, »dass Polizei und Ordnungsbehörde alles daran setzen, linken antifaschistischen Protest zu verhindern und abzudrängen«, resultierte die Entscheidung für die »Vielfalt an Aktionsformen (...), die gegen den Aufmarsch etwas ausrichten kann«. In der Vorbereitung auf 2010 gründete sich das Bündnis Dresden-Nazifrei, das in den folgenden Jahren sowohl mit seinem Mahngang Täterspuren als auch mit dem Sitzblockade-Konzept für Diskussionen sorgte.
5. AUFBRUCH AUS DEM »STILLEN GEDENKEN« AB 2010
Den Anstoß zur Flexibilisierung der diskursiven Verfestigung, »laute« Formen des Protestes gefährdeten das »Stille Gedenken«, und zum Wandel der Gedenkpraktiken in der Dresdner Altstadt gab jedoch die Auseinandersetzung um die zunehmende Teilnahme von Neonazis bei der städtischen Kranzniederlegung auf dem Heidefriedhof. Der städtische Heidefriedhof befindet sich am nordwestlichen Rand Dresdens. Die Gedenkanlage zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg wurde ab den 1950er Jahren errichtet und 1965 mit der Einweihung des heutigen Ehrenhaines abgeschlossen (vgl. VVN/BdA 2006). In dem Areal zwischen dem Eingang zur Gedenkanlage, dem Ehrenhain, und der Gedenkmauer findet jährlich zum 13. Februar die offiziellen Kranzniederlegung der Landeshauptstadt statt, seit der Wende in Abgrenzung zu den propagandistischen Reden der DDR-Zeit als »Stilles Gedenken«.
Seit dem Ende der 1990er Jahre beteiligten sich auch neonazistische Gruppen und die NPD an der Kranzniederlegung. Mit dem Einzug der NPD in den Dresdner Stadtrat und in den Sächsischen Landtag im Jahr 2004 mussten zudem deren Fraktionen protokollarisch eingebunden werden. Als sie zunehmend aggressiv in Erscheinung traten, indem sie beispielsweise ihre Kränze auf den Kränzen der Jüdischen Gemeinde ablegten, wurden zunehmend Forderungen nach symbolischen und rituellen Veränderungen, die einer historischen Kontextualisierung der Bombardierungen Rechnung trugen, hörbar.
Im Jahr 2008 blieb die Jüdische Gemeinde Dresden der Kranzniederlegung fern, weil ihrer expliziten Forderung nach einer Rede der Oberbürgermeisterin Helma Orosz als höchster Vertreterin der Landeshauptstadt Dresden nicht nachgekommen wurde. Diese Rede, also die laute und begründete Distanzierung von extrem rechter Beteiligung an der Kranzniederlegung, konnte mithilfe des Bündnisses Dresden für Demokratie im folgenden Jahr durchgesetzt werden.
Der protokollarische Ablauf der Kranzniederlegung begann also 2009 an der Feierhalle, dem der Gedenkmauer gegenüberliegenden Ende des Ehrenhains. Um den historischen Zusammenhang der Bombardierungen herzustellen, wurde der Stelenkreis explizit in die städtische Gedenkfeier einbezogen.
Am Ende des Ehrenhains thematisierte Orosz in ihrer ersten Rede in knappen Worten die Vorgeschichte der Dresdner Bombardierung. Von Bombardierungen »verschont zu bleiben« sei »eine trügerische Hoffnung« gewesen.
Orosz schließt die historische Einordnung mit einer Bestätigung der Katastrophenerzählung ab. Die Oberbürgermeisterin bedient damit wieder das Bild der unschuldigen Kunst- und Kulturstadt (»Dresden, dieser Edelstein aus Kultur und Kunst«), der sinnlosen Bombardierung und des Feuersturms. SO findet sie keine klare Abgrenzung von den revanchistischen Botschaften rechtsextremer Gruppen, verweist diese rechten Akteur*innen allerdings des Ortes (»Sie besudeln das Andenken an die Toten, sie gehören nicht in diese Stadt, sie schänden diese Stadt, die Bürger dieser Stadt wissen sich zu wehren.«). Dennoch stellt die Rede einen Bruch mit dem Dogma des »Stillen Gedenkens« dar, der sich noch einmal viel stärker auf die Gedenkpraktiken in der Innenstadt auswirken sollte. Denn im darauffolgenden Jahr 2010 rief die Oberbürgermeisterin erstmals zu einer Menschenkette um die Dresdner Altstadt auf.
6. MAHNGANG TÄTERSPUREN, AG 13. FEBRUAR UND MENSCHENKETTE – PLURALISIERUNG DER AKTIONSFORMEN
Mit der Arbeitsgemeinschaft 13. Februar, zu der zivilgesellschaftliche Initiativen, Bürger*innen und Parteien von der Oberbürgermeisterin eingeladen wurden, gründete sich ein neues Bündnis, das den Austausch eines breiten Spektrums städtischer Akteur*innen und mit der Menschenkette eine erste Form des Protestes etablierte, der auch von Oberbürgermeisterin und Stadtverwaltung getragen wurde (vgl. AG 13. Februar). 2010 lud die Landeshauptstadt erstmals zu einer Menschenkette um die historische Altstadt ein, um unter dem Motto »Erinnern und Handeln für mein Dresden« »in würdiger Weise der Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, der von Deutschland ausging, zu gedenken«.
Über 15.000 Menschen beteiligten sich. Bereits 2011 galt die Menschenkette als »gutes, bewährtes und allgemein akzeptiertes« Symbol. Als Reaktion auf angekündigte Störungen durch die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland betonte der Versammlungsleiter Hans Müller-Steinhagen, Rektor der Technischen Universität Dresden, sie sei »ein unmissverständliches Zeichen gegen Rechtsextremismus, gegen jede Form von Gewalt und Ausländerfeindlichkeit sowie für Weltoffenheit«.
Die Menschenkette wurde in gleicher Weise in den vergangenen Jahren durchgeführt. Erst 2014 bettete Oberbürgermeisterin Orosz die Luftangriffe in die Geschichte nationalsozialistischer Verfolgung und Dresdner Kriegsbeteiligung ein (s. u.). In diesem Jahr erkannte die Landeshauptstadt auch erstmals den Mahngang Täterspuren als Teil des städtischen Gedenkens an.
Dresden »lebt von einer Vielfalt der Gedenkkultur. Entscheidend für mich ist dabei, dass die Aktionsformen gewaltfrei sind und sich auf dem Boden der Verfassung bewegen. Insofern kann der Mahngang Täterspuren als ein Teil der verschiedensten Veranstaltungen des Tages gesehen werden, die alle dem Zweck dienen aufzuklären, zu gedenken und Missbrauch zu verhindern«, so Helma Orosz (Fischer, M. 2014).
Der Mahngang Täterspuren ist ein Stadtspaziergang zu Dresdner Orten nationalsozialistischer Täter*innenschaft. Das Ziel der Rundganges, in erster Linie Dresdner*innen für die NS-Geschichte zu sensibilisieren und entgegen der Erzählung von der unschuldigen Kunst- und Kulturstadt herauszustellen, dass Dresden ein »wichtiger Knotenpunkt der Kriegsindustrie, Ort des Leidens für tausende Zwangsarbeiter*innen und Standort wichtiger institutioneller Stützen der NS-Rassenideologie« (Dresden-Nazifrei 2014) war.
Die erste Anmeldung des Mahngangs im Jahr 2011 wurde aufgrund der ordnungspolitischen Maßgaben der Landeshauptstadt Dresden, jeglichen Protest in Hör- und Sichtweite des »Trauermarsches« zu vermeiden, auf einen weit von der Innenstadt entfernten Bereich beschränkt, so dass sich stattdessen 250 Menschen spontan in der Dresdner Altstadt zu einem verkürzten Rundgang trafen. In den folgenden Jahren ging die Arbeitsgemeinschaft 13. Februar zunehmend auf die Forderung des Bündnisses Dresden-Nazifrei ein, die Positionen des Bündnisses zum Protest in Sicht- und Hörweite gegen Aufmärsche extrem rechter Organisationen in die Aushandlung einer gemeinsamen Vorgehensweise eines breiten Akteur*innen-Spektrums einzubeziehen.
»Im Moment überlappt sich das sozusagen – die Auseinandersetzung mit dem Neonaziaufmarsch und die Fragestellung, welche Protestformen sind denn zulässig am 13. Februar, wie auch immer, und die Fragestellung, welche Erinnerungskultur wollen wir denn in dieser Stadt,« beschreibt Grit Hanneforth, Kulturbüro Sachsen, die Situation im Jahr 2011. Mit dem Rückblick auf die erste Menschenkette 2010 beschreibt Hanneforth den Aufbruch der Frontstellung in 2010 und 2011. Diese verfestigte Konfrontation habe sich »nachhaltig verändert, vor allem, als es dann Möglichkeiten gab, erstmal diese Menschenkette quasi als eine Möglichkeit der Beteiligung für viele Bürger*innen und Bürger zu installieren. (…) mit der Menschenkette gab es dann Friedensgebete, Mahnwachen, Kundgebungen, Blockaden – also, dass wir sozusagen eine Breite der Protestform gekriegt haben (…). Das war die einzige Möglichkeit, um von diesem Dissens – wer gedenkt denn hier richtig, wer hat denn hier die richtige Gedenkkultur – wegzukommen.«
Gleichzeitig zur Diskussion um Hör- und Sichtweite stieß der sogenannte »Handygate-Skandal«, eine über 40.000 Mobilfunk-Anschlüsse umfassende Überwachungsmaßnahme (Funkzellenabfrage) an mehreren Aktionstagen, eine Debatte um »Sachsens Demokratie«, den Eingriff in Grundrechte, die Einschränkungen bürgerschaftlicher Strukturen und Protests sowie die repressive Durchsetzung ordnungspolitischer Ansichten der CDU-FDP-Landesregierung an.
Nach dem 13. Februar 2014 sprach der damalige Moderator der AG 13. Februar Joachim Klose von einer »pragmatische Annäherung« (Weller 2014) zwischen der AG und Dresden- Nazifrei. Dieser Annäherungsprozess hat auch die Gedenkpraktiken in der Innenstadt verändert. So betonte die Oberbürgermeisterin Helma Orosz anlässlich der Eröffnung der Menschenkette am 13. Februar 2014, diese sei »ein Zeichen dafür, dass wir Dresdens Beitrag am Nationalsozialismus nicht verdrängen« (Orosz 2014).
Wesentlich konkreter als im Jahr zuvor auf dem Heidefriedhof konfrontiert sie sich und die Teilnehmenden mit der Kritik am Mythos: »Die Flagge der Nationalsozialisten wehte hier vor dem Rathaus, genauso wie im Rest der Stadt. Juden und deren nichtjüdische Angehörige, Sinti und Roma, Gewerkschafter und Sozialdemokraten wurden in Dresden vor den Augen der Öffentlichkeit schikaniert, misshandelt und abtransportiert. Die weltberühmten Galerien wurden von den Dresdnern selbst nach entarteter Kunst durchforstet und im Sinne der Nazis gesäubert. In Dresden wurden Waffen für den Krieg gefertigt und Zwangsarbeiter in Lagern gehalten. (…) Und niemand kann und darf diese Tatsache heute ignorieren. Auch die Angriffe am 13. und 14. Februar ändern nichts daran.« Diese Kontextualisierung folgt einer Reihe von Veranstaltungen, die bürgerschaftliche Bündnisse seit Beginn der 2000er Jahre den geschichtsrevisionistischen und revanchistischen Thesen der JLO, NPD und des Aktionsbündnisses gegen das Vergessen entgegensetzten (siehe auch Pieper et al.2012, Hermann 2014, Heydemann et al 2014, Audioscript).
7. AKTUELLE DEBATTEN UND OFFENE FRAGEN
Dem für die Dresdner Erinnerungskultur rasanten Wandel bis 2015 folgte eine Phase der Reflexion und Stabilisierung vieler neu erschaffener Aktions- und Gedenkformen. Joachim Klose, Moderator der AG 13. Februar, resümiert 2020: »Die Resonanz der Menschenkette wird in der Stadtbevölkerung unterschiedlich bewertet. Trotz des großen Erfolgs, hoher Teilnehmerzahlen und der friedfertigen Bilder, die von Dresden ausgingen, wurde im Jahr 2015 unmittelbar nach der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Zerstörung der Stadt die Frage aufgeworfen, ob eine Menschenkette künftig noch benötigt würde, waren doch die rechtsextremen Provokationen erstmalig seit langer Zeit ausgeblieben.
Die einen sind mit der Menschenkette unzufrieden, weil sie doch nicht in den Rahmen des stillen Gedenkens zu passen scheint; den anderen führt sie nicht weit genug, weil individuelle Haltungen nicht sichtbar werden. So verballhornen sie die Teilnehmer als «Patschhändchenhalter“ und die Bürger fühlen sich wiederum als Opfer eines Diskurses, der nicht der ihrige zu sein scheint. Doch gerade in gesellschaftlich unruhigen Zeiten ist es wichtig zu zeigen, wofür man trotz aller politischen Differenzen steht. Die Menschenkette definiert sich nicht nur gegen etwas, sondern steht für etwas ein. Sie verbindendet Menschen über alle politischen Differenzen hinweg.
In der AG 13. Februar wird die Menschenkette nicht mehr infrage gestellt. Das wird auch in der Dresdner Stadtgesellschaft wahrgenommen, was zur Befriedung der Gesellschaft beiträgt. Diese Haltung ist Ergebnis eines langen internen Abstimmungsprozesses, der trotz unterschiedlicher Interessen und politischem Engagement von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung getragen ist.» (Klose 2020: 68) Und dennoch konnte 2022 keine größere Menschenkette stattfinden, da coronabedingt Versammlungen mit mehr als 1.000 Teilnehmenden nicht genehmigt werden konnten (DNN 2022), erst 2023 hat es wieder offizielle Aufrufe dazu gegeben, diesmal unter dem Motto "Frieden! Gemeinsam gestalten.“ Ebenfalls wurden zahlreiche Andachten und weitere Veranstaltungen durchgeführt.
Improvisiert wurde 2021 die Menschenkette nur virtuell durchgeführt (vgl. Hofmann et al. 2021). Viele etablierte Veranstaltungen fanden allerdings statt (vgl. ADDN.ME 2021, LHD 2021). In 2021 war bereits das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar mit in den Veranstaltungskanon integriert (ehemaligen Zwangsarbeiterlager Hellerberg, Gedenkstätte Münchner Platz Dresden, Fensterausstellung zum Gedenken an die jüdischen Dresdnerinnen und Dresdner und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter).
Junge Menschen konnten einen Zugang zu Geschichte finden über Deutsch-Russische Online-Konferenz für junge Menschen: «Erinnern lebendig und bedeutsam gestalten» sowie den Schülergipfel des Stadtschülerrates Dresden «Täuschend echt/Echt täuschend – Demokratie und Fake News“. Der etablierte Mahngang Täter*innenspuren fand am vorhergehenden Wochenende statt. Künstlerische Interventionen von Bündnis Weltoffenes Dresden (WOD) sowie die Woche des Erinnerns - ein interdisziplinäres Begegnungsprojekt im digitalen und öffentlichen Raum, gestaltet von den Dresdner Kultureinrichtungen. Viele Kirchen führten (Online-)Friedensgebete durch, zentral die Frauenkirche (Zeitzeugenerinnerungen & Versöhnungsliturgie aus Coventry) und die Kreuzkirche. Auf dem Heidefriedhof waren viele der im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg stehenden Begräbnisorte im wahrsten Sinn des Wortes erfahrbar: ein Kunstprojekt "Rolling Angels" bewegte sich mit Engelsplastiken von Ort zu Ort. Eine Rundfahrt zu Friedhöfen und Gräberstatten wurde wiederholt vom Verein "Denk Mal Fort!" mit Ortsbeschreibungen, literarischen Texten und musikalischen Beiträgen gestaltet.
8. SCHLUSSBEMERKUNGEN
Mittlerweile 79 Jahre Dresdner Gedenken an die Luftangriffe vom 13.-15. Februar 1945 zeigen, wie stark gegenwärtige gesellschaftspolitische Vorstellungen Erinnerung und Erinnerungskultur strukturieren, wie der Übergang vom individuellen zum kollektiven, vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis Mythen- und Identitätsbildung intensiviert.
Maurice Halbwachs (1985, 1991) hielt erstmals in seinem 1925 erschienenen Werk »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« fest, dass das individuelle Gedächtnis sozial determiniert sei. Erinnerung sei somit ohne Kommunikation in einer speziellen Gruppe nicht möglich. Diesen Zusammenhang thematisierte er später ebenfalls in seinem fragmentarischen, 1950 veröffentlichten Buch »Das kollektive Gedächtnis«. Die individuelle Erinnerung an vergangene Ereignisse wird demzufolge in der eigenen Gruppe formiert.
Halbwachs Begriff des sozial determinierten kollektiven Gedächtnisses differenziert Jan Assmann in zwei Formen: Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis unterscheiden sich in einer zeitlichen und einer sozialen Dimension sowie einer Dimension der Ausformung alltäglicher oder feierlicher Praktizierung. Die Übergänge zwischen den Gedächtnisformen sind durch (Interessens-)Konflikte gekennzeichnet, insbesondere, weil sich hin zum kulturellen Gedächtnis die Symbolgehalte verstärken.
Das Totengedenken als eine Form des Übergangs zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis bildet gleichzeitig den Ursprung und Zentrum der Erinnerungskultur, da der Tod die Ur-Erfahrung des Bruches zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellt. Aleida Assmann unterscheidet darüber hinaus kommunikatives, kollektives und kulturelles Gedächtnis (vgl. Assmann/Frevert 1999). Individuelle Erzählungen werden im kollektiven Gedächtnis zu Mythen, die der Identitätsbildung dienen.
Die Mythologisierung Dresdens als unschuldige Kunst- und Kulturstadt, die plötzlich und kurz vor Ende des Krieges sinnlos zerstört wurde, sowie die fehlende, in der BRD in den 1980er Jahren begonnene, intensive lokalhistorischen Forschung zu und damit der politischen Beschäftigung mit entkontextualisierenden, verharmlosenden historischen Selbstbildern wie insbesondere in Hamburg hat auch lange Zeit die Auseinandersetzung mit extrem rechten Gedenkakteur*innen behindert. Die Mythologisierung begann mit der nationalsozialistischen Propaganda, setzte sich in SBZ und DDR fort und erhielt mit der Wiedervereinigung Deutschlands einen neuen Stellenwert, zum einen durch den Wiederaufbau der Altstadt, zum anderen durch die breite und zahlreiche Beteiligung aus dem gesamten gesellschaftlichen Spektrum.
Die Dynamik des kollektiven Gedächtnisses, zu entdifferenzieren und Symbolik an gesellschaftlich breit verankerte resp. etablierte Leitideen zu knüpfen, führt zu Ausschlüssen. In Dresden kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu Kämpfen um die Deutungshoheit, zum Ausschluss multiperspektivischer Erzählungen sowie diskursiver und partizipativer Praktiken. Denn die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen um das verfestigte, da identitätsstiftende Selbstbild der (unschuldigen) Kunst- und Kulturstadt sowie um sakralisierte Räume wurden mit allen medialen, ordnungsrechtlichen und ordnungspolitischen Mitteln ausgetragen. Die »nachholende Entwicklung«, die Katastrophenerzählung mit nationalsozialistischer Verfolgung und dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu kontextualisieren, lokalhistorische Forschungsergebnisse zu integrieren sowie Erinnerungen zeit-, das heißt diskursgemäß sichtbar zu machen und zu materialisieren, hat nicht nur das Gedenken vom Mythos befreit und pluralisiert, sondern auch die städtische Identität.
Die von der nationalsozialistischen Propaganda geprägten Zahlen von bis zu 200.000 Toten, die Tiefflieger und insbesondere das Bild der unschuldigen Kunst- und Kulturstadt, die plötzlich und kurz vor Ende des Krieges sinnlos zerstört wurde – diese erinnerungskulturellen Katastrophennarrative und der Zerstörungsmythos beziehen sich auf die umfassende Leitidee vom »Alten Dresden« (Löffler 1955), dem Elbflorenz, der Barockstadt.
Die Stadtsoziologin Gabriela Christmann stellt heraus, dass das »zentrale Darstellungsprinzip« der Stadt Dresden »Ästhetisierung« sei, insbesondere die – identitätstheoretisch gesprochen – selbstbezogene Vorstellung, die eigenen kulturellen Errungenschaften seien einzigartig (vgl. Christmann 2004: 346ff). »Was Dresden an einmaligen Baudenkmälern besaß, ist nicht mehr« – beklagte bereits die nationalsozialistische Presse angesichts dieser selbstverstandenen Dresdner Einzigartigkeit. Die propagandistisch überhöhte »Stadtsilhouette von vollendeter Harmonie« konnte erst mit der Rekonstruktion der Frauenkirche ihre »Wunden« heilen.
Die Auseinandersetzungen um das »Stille Gedenken«, aber auch um den Heidefriedhof haben gezeigt, dass sich Leitideen verändern, durch Wissensgewinne und Perspektivwechsel, vor allem mit neuen Generationen resp. Akteur*innengruppen. In mal mehr, mal weniger konfliktreichen Auseinandersetzungen wandeln sich infolgedessen auch ihre immateriellen und materiellen symbolischen Darstellungen in stadtgeschichtsbezogenen Gedenkveranstaltungen oder an Gedenkorten.
Zitierweise: Claudia Jerzak, „Der 13. Februar 1945 im kollektiven Gedächtnis Dresdens“, in: Deutschland Archiv, 13.02.2024, Link: www.bpb.de/518214. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Thelem Universitätsverlags dem Buch entnommen: Karl-Heinz Reuband (Hg.), "Dresden im Wandel - Kulturelle Repräsentationen und Soziale Transformationen", Dresden 2022, das noch zahlreiche weitere Beiträge über das Selbstverständnis und den Wandel Dresdens enthält. Die Erstveröffentlichung im DA erfolgte am 10.2.2023.
Der Beitrag von Claudia Jerzak ist dem Buch entnommen: Karl-Heinz Reuband (Hg.), "Dresden im Wandel - Kulturelle Repräsentationen und Soziale Transformationen", Dresden 2022, erschienen in Thelem Universitätsverlag mit 506 Seiten.
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Claudia Jerzak studierte Soziologie, Kunstgeschichte und Germanistik an der TU Dresden. Danach war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Mikrosoziologie der TU Dresden im Rahmen des Projekts »Kooperation von Schulen mit Ganztagsangeboten mit außerschulischen Partnern im Freistaat Sachsen«. Seit 2016 forscht sie an der Evangelischen Hochschule Dresden im Projekt »Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen« zu aktuellen Strukturen und Ansätzen der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten. Sie promoviert zum Thema Erinnerungskultur und städtische Identität am Beispiel Hamburgs und Dresdens und veröffentlichte 2012 gemeinsam mit Barbara Lubich und Michael Sommermeyer den Dokumentarfilm »Come together. Dresden und der 13. Februar«. 2009-2012 war sie assoziiert im europäischen Forschungsprojekt »CRIC – Identity and Conflict. Cultural Heritage and the Reconstruction of Identities after Conflict«.
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