Sharon Adler: Dein aktuelles multimediales Kunstbuchprojekt und deine Audioinstallation tragen den Titel „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“. Welche Message transportierst du mit diesem Titel? Welche persönlichen Erfahrungen fließen in den Titel und den Inhalt ein?
Sarai Meyron: Ausgangspunkt des Buches und die Inspiration für den Titel sind die Wiedergutmachungsunterlagen meiner Großmutter. Sie hatte zahlreiche Dokumente, beinahe den gesamten Papierkram, das Hin und Her aus der acht Jahre dauernden Korrespondenz mit den Behörden aufbewahrt. Alles befand sich in einem Aktenordner: Papiere, Zeugenaussagen, ärztliche Bescheinigungen und private Korrespondenzen.
Bei der Lektüre werden die Mauer und der Antisemitismus deutlich, mit dem sie im Amt für Wiedergutmachung konfrontiert war, aber auch ihre Stärke, sich dagegen zu wehren, und die Unterstützung, die sie dabei von verschiedenen Menschen erhielt. Darüber, und über meine gemischten Gefühle, die ich beim Lesen der Dokumente hatte, schreibe ich in meinem Buch.
All das zu lesen war für mich eine bittersüße Erfahrung. Ich habe alles sorgfältig digitalisiert und daraus eine zwei Meter lange Collage erstellt. Sie hätte noch länger sein können. In einem Moment der Fantasie beschreibe ich mich selbst, wie ich die Collage wie einen Schal trage, als ein imaginiertes Schutzschild für den kommenden Tag. Ein Schutzschild, weil es ihre Worte enthält, ihren Kampf mit dem Wiedergutmachungsamt, dessen Position ich als Nachkriegsstandpunkt ihr gegenüber betrachte. Aus diesem Grund erwärmen mich die Worte nicht. Es ist eine visuelle Metapher für das Tragen des Archivs und des Erbes meiner Familie und die Frage, wie sich dieses „Tragen“ auf jeden von uns auswirkt, da wir alle ein Erbe zu tragen haben.
Die Botschaft, die ich damit vermitteln möchte, ist eine Reflexion der Frage, die ich mir mit diesem Kunstbuch gestellt habe: Wie können Vergangenheit und Geschichte bewältigt werden? Wie, in welchen Bereichen wirkt sich das heute auf die Gesellschaft aus?
Der lange Kampf um „Wiedergutmachungszahlungen“ und eine Anerkennung des Unrechts
Sharon Adler: Kannst du bitte noch etwas mehr über deine Großmutter Lore Holtz, geborene Gutwillig,
Sarai Meyron: Ich finde es schwierig, etwas zu beantworten, das für sie eine zutiefst traumatische Erfahrung war. Ich denke, es ist einfach, mein eigenes Verständnis ihrer Erfahrungen zu projizieren, anstatt das, was für sie wahr war. Deshalb habe ich in dem Buch ihre Briefe an das Wiedergutmachungsamt veröffentlicht, damit die Leser*innen sehen können, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg, den sie darin beschrieb, auf sie hatte.
Registrierungsausweis von Lore Gutwillig, Großbritannien 1938, Buchdruck, Tinte, Fotografie, Prägestempel, 12,8 x 20,5 cm. (© Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/120/2, Schenkung von Lore Holtz-Gutwillig)
Registrierungsausweis von Lore Gutwillig, Großbritannien 1938, Buchdruck, Tinte, Fotografie, Prägestempel, 12,8 x 20,5 cm. (© Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/120/2, Schenkung von Lore Holtz-Gutwillig)
Meine Großmutter floh im Alter von 14 Jahren mit dem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach England. Sie stand acht Jahre lang in Kontakt mit dem Wiedergutmachungsamt. Durch einige in den Büchern veröffentlichten Dokumente können die Leser*innen ihren Prozess auf dieselbe Weise wie ich entdecken und in ihren Worten lesen, wie sie gekämpft hat, und die Reaktion des Wiedergutmachungsamtes auf ihre Briefe erfahren. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser durch die chronologische Darstellung der Informationen in meinem Buch die Erfahrung nachempfinden können, dass die Erfahrungen meiner Großmutter sie nicht zum Opfer gemacht haben, sondern dass wir ihre Resilienz und Stärke bewundern können.
Sharon Adler: Anstelle des Begriffs „Wiedergutmachung“ wurde in Israel der Begriff „Pitzuim“ (Hebräisch „Entschädigungen“) verwendet, der dann durch den Begriff „Shilumim“ (Hebräisch: „Zahlungen im Rahmen der Wiedergutmachung“) ersetzt wurde. Kannst du bitte von dem Kampf deiner Großmutter um Restitution bei den deutschen Behörden berichten? Konnte sie ihn abschließen? Was hast du aus den Dokumenten und Briefen, die du in deinem Projekt abgebildet hast, herausgelesen?
Sarai Meyron: Indem sie den Behörden schrieb, dass sie das Trauma, das sie in der „Kristallnacht“ und in Nazi-Deutschland erlebt hat, noch Jahre später belastet und dass sie auch in der Zukunft Nervenzusammenbrüche haben könnte, die ganz klar im Zusammenhang mit der Nazizeit standen, war meine Großmutter ihrer Zeit voraus.
Sarai Meyron wurde 1995 in Israel geboren, ist in den USA aufgewachsen, und zog 2015 nach ihrem Sozialdienst in Israel nach Deutschland. Im Jahr 2022 hat sie ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig abgeschlossen: „Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Sarai Meyron wurde 1995 in Israel geboren, ist in den USA aufgewachsen, und zog 2015 nach ihrem Sozialdienst in Israel nach Deutschland. Im Jahr 2022 hat sie ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig abgeschlossen: „Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Beim Lesen der Dokumente stieß ich auf einen Brief ihrer Psychiaterin. Sie erwähnte darin, dass sie neben meiner Großmutter auch andere Personen kennengelernt hat, die Schwierigkeiten hatten, eine Entschädigung zu erhalten. Sie schrieb auch, dass es ihr so schien, als ob die deutsche Regierung zwar etwas anbot, aber wenig Absichten hatte, das auch umzusetzen. Ich denke, das ist eine soziale Lesart, die wir im Rückblick nur schwer verstehen können. Meine Großmutter erhielt am Ende eine kleine symbolische Summe dafür, dass ihr die Möglichkeit einer Berufsausbildung genommen wurde, sowie einen lächerlich geringen Betrag für die Sachschäden, die ihre Familie am 9. November 1938 erlitten hatte. Wonach sie jedoch wirklich suchte, war etwas Ideelles: die Anerkennung, dass ihr Leben durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs unwiderruflich geprägt worden war.
Sharon Adler: Wie beurteilst du in diesem Kontext Umfrageergebnisse wie die des ZDF aus dem Jahr 2020,
Sarai Meyron: Bevor ich diese Menschen verurteile, was meine erste Reaktion ist, halte ich es für wichtig zu überlegen, woher diese Haltung kommt. In meinen Augen könnte sie von einer wachsenden Tendenz herrühren, die Art und Weise zu ändern, wie Erinnerungskultur strukturiert ist. Und sie könnte den Wunsch widerspiegeln, das Narrativ des Nationalsozialismus, das meiner Meinung nach sehr stark in der deutschen Kultur verankert ist, von „Schuld“ weg zu bewegen.
Ich glaube, dass auch jemand, der nicht während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt hat, die gleiche Verantwortung trägt wie ich heute: sich zu erinnern und aus den Ereignissen zu lernen, um zu verhindern, dass so etwas jemals wieder geschieht. Wenn wir unsere Bildungssysteme überdenken und darüber nachdenken, wie wir aus einer Perspektive der gemeinsamen menschlichen Verantwortung – und nicht der Schuld – über die Vergangenheit lernen können, denke ich, dass viel mehr Deutsche, einschließlich derer, die keinen nationalsozialistischen Familienhintergrund haben, die Bedeutung dieses Themas erkennen werden.
Jüdischsein in Deutschland
Sharon Adler: Wie erlebst und reflektierst du das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland aus der Perspektive einer Israelin?
Sarai Meyron: Ich denke, das ist sehr individuell. In Deutschland werde ich normalerweise zuerst als Ausländerin gesehen, und dann, wenn die Leute erfahren, dass ich aus Israel komme, als Jüdin.
Sharon Adler: Du schreibst „Wenn jüdisch sein keine Kategorie mehr ist, darf es zu einer Facette unserer Identität werden.“ Was bedeutet das für dich im Kontext von „Erinnerungskultur“?
Sarai Meyron: Obwohl es vielleicht gut gemeint ist, habe ich das Gefühl, dass ich in den Augen anderer oft auf den „Juden“ reduziert werde. Eine Kategorie, in die ich nicht hineingehöre. Ich bin viele andere Dinge, bevor ich jüdisch bin, und ich möchte nicht aufgrund meiner Kultur, Herkunft oder Geburt kategorisiert werden. Jüdisch ein ist eine Facette meiner Identität, die auch einen fließenden Aspekt hat, so wie es das Alter oder das Geschlecht sein kann. Werde ich im Kontext von Erinnerungskultur vor allem zuerst als Jüdin gesehen, wird damit eine Art von Kategorisierung und Erwartung geschaffen, unter die ich nicht einsortiert werden möchte.
Sharon Adler: In deinen Arbeiten beschäftigst du dich mit der individuellen und der kollektiven jüdischen Geschichte sowohl in Israel als auch in Deutschland, so auch in der Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“, in der du Fotos aus deinem Familienarchiv zeigst, die zwischen 1930 und 1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. Wofür stehen die gezeigten Fotos für dich, was zeigen sie?
Sarai Meyron zeigt in ihrer Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“ Fotos aus ihrem Familienarchiv, die zwischen 1930 und1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Sarai Meyron zeigt in ihrer Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“ Fotos aus ihrem Familienarchiv, die zwischen 1930 und1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Sarai Meyron: Mir gefällt, wie standardmäßig einige der Aufnahmen in den Familienalben von der Mittelschicht in Deutschland und der Schweiz sind. Franzi, die großartige Grafikerin meines Kunstbuches „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“, wies mich darauf hin, noch bevor ich ihr erzählt hatte, welche Rolle diese Bilder für mich spielen. Sie meinte, dass sie genauso wie die Fotos aus ihrem eigenen Familienalbum aussehen würden. Genau das ist es! Und was ich an ihnen noch für bedeutsam halte, ist dieser Moment, dass Fotos von Freunden daruntergemischt sind und man nicht weiß, wer jüdisch ist und wer nicht. Das Verwenden dieser Fotos war für mich eine Möglichkeit, das deutsche Lesepublikum visuell über die Kategorisierung von „Juden“ zu befragen, von denen ich an den verschiedenen Stellen spreche.
Sharon Adler: Inwieweit sind die Fotos neben deiner individuellen auch repräsentativ für die kollektive jüdische Gesellschaft und Geschichte?
Sarai Meyron: Ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass die Fotos nur eine Facette darstellen. Die jüdische Gesellschaft ist vielfältig, und das sieht man auf den Bildern nicht. Man sieht liberale und weiße Europäer, und Menschen, die ihrem Alltag nachgehen. Noch mehr als eine „Wiedergabe von kollektiv erlebten Traumata“ sehe ich es als eine Botschaft für die Zukunft, dass diese Bilder und Menschen, die in meiner Genetik verankert sind, ein Teil von mir sind, und dass wir uns fragen sollten, welche Geschichte wir in uns tragen und wie wir darauf aufbauen können.
Familie. „Mischidentität“
Sharon Adler: Du hast eine Externer Link: aschkenasische Mutter und einen sephardischen Vater. Was bedeutet diese „Mischidentität“ für dich, für deine Perspektive auf Jüdisch Sein und für deine Arbeit?
Sarai Meyron: Ich wurde 1995 in Israel geboren und bin in den USA und Israel aufgewachsen. Kurz nach meinem Sozialdienst in Israel bin ich allein nach Deutschland gezogen. Mein Migrationshintergrund und der meiner Familie prägen meine künstlerische Perspektive: Ich bin eine Mischung aus irakisch-sephardischen und schweizer-aschkenasischen jüdischen Eltern. Die Einflüsse der Vergangenheit in unserer Gegenwart, die jüdische Diaspora und die weibliche Stimme sind zentrale Themen in meiner Kunst.
Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen, wobei ich häufig die Vergangenheit in Form und Inhalt reflektiere und gleichzeitig auf eine entscheidende, eine wesentliche Verbindung zur Zukunft verweise. Auf diese Weise schaffe ich eine Erinnerung und einen Beitrag für die Zukunft. Mein bisheriges Werk ist eine multimediale Mischung aus Text, Installation, Audio, Video, Collage und Fotografie; ich verwende das Medium, das am besten zum Konzept des jeweiligen Projekts passt.
Exotisierung und Zuschreibungen. Antisemitismus
Sharon Adler: Wie werden deiner Meinung nach jüdische und jüdisch-israelische Menschen in Deutschland heute von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen? Mit welchen Bildern über Jüdinnen/Juden und das Judentum wurdest du in Deutschland konfrontiert?
Sarai Meyron: Ich denke, das größte Missverständnis besteht darin, jüdische Menschen als ein Volk zu sehen, obwohl es ein riesiges Spektrum von unterschiedlichen Ansichten und Einstellungen gibt. Die Bilder, mit denen ich am meisten konfrontiert werde, sind Stereotypen der jüdischen Symbolik, die mich überhaupt nicht repräsentieren.
Die Multimedia-Künstlerin Sarai Meyron erzählt in ihrem Kunstbuchprojekt „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ auch vom acht Jahre langen Kampf ihrer Großmutter um „Wiedergutmachungszahlungen“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die Multimedia-Künstlerin Sarai Meyron erzählt in ihrem Kunstbuchprojekt „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ auch vom acht Jahre langen Kampf ihrer Großmutter um „Wiedergutmachungszahlungen“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Sharon Adler: Welche Art von Zuschreibungen oder Kategorisierungen als israelisch-jüdische Frau hast du persönlich erfahren?
Sarai Meyron: Das sind vor allem Erfahrungen, die ich als Künstlerin mache, zum Beispiel durch die Kategorisierung „jüdische Kunst“. Ich sehe mich eher als Erinnerungskünstlerin, im weitesten Sinne des Wortes - auch unter Berücksichtigung meiner eigenen Erinnerung, der meiner Familie und des gesellschaftlichen Gedächtnisses sowie der nationalen Narrative, die daraus entstehen. Ich denke, meine Kunst richtet sich an viel mehr Gruppen als nur an Menschen mit jüdischem Hintergrund.
Sharon Adler: In deinem Kurzvideo „Woher kommen Sie?“ aus dem Jahr 2017 stellst du deinem imaginierten Publikum Fragen zu Herkunft und Muttersprache. Was war deine Intention, was war der Hintergrund, wie bist du vorgegangen und was hast du für dich aus dieser Arbeit mitgenommen?
Sarai Meyron: Inspiriert wurde es von Small-Talk-Fragen, mit denen ich in Deutschland immer wieder konfrontiert wurde. Durch das Video wollte ich über diese Fragen und auch über die Art und Weise, wie sie mir gestellt wurden, nachdenken. Sie lauten unter anderem: Woher kommen Sie? Was machen Sie in Deutschland? Bleiben Sie in Deutschland?
Diese und andere Fragen stammen aus meiner Erinnerung, und so, wie ich sie wahrgenommen habe, spiegele ich sie den Zuschauer*innen. Ich erhoffe mir dadurch, dass sie nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, diese Fragen, die oft einen seltsamen Beigeschmack haben, gestellt zu bekommen. Ich fand es sehr ermutigend, wie gut diese Arbeit ankam und wie viele Menschen mir sagten, dass sie sich davon angesprochen fühlten. Ich denke, dass das eine Erfahrung ist, die viele Menschen teilen.
Zitierweise: „Ich sehe mich als Erinnerungskünstlerin“, ein Interview von Sharon Adler mit Sarai Meyron. Das Gespräch wurde aus dem Englischen übersetzt. In: Deutschland Archiv, 22.12.2022, Link: www.bpb.de/516554
Ergänzend:
Zu über 40 weiteren Portraits im Rahmen der Serie Externer Link: "Jüdinnen in Deutschland nach 1945"