Ost-West Nachrichtenvergleiche
DDR vermitteln, aber wie? Teil II: Fernsehen
Joachim Meißner
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Aktuelle Kamera versus Tagesschau – Ein interaktiver deutsch-deutscher Nachrichtenvergleich der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, der verdeutlicht wie Medien in autoritär regierten Staaten dazu neigen, Kritik an Zuständen im eigenen Land zu verschweigen. Lehrreich auch für die Gegenwart. Ein Projektbericht von Joachim Meißner.
Im Zeitalter von Fake News und „alternativen Fakten“ braucht es ein Angebot der politischen Bildung, um sich selbst den Wert freier und unabhängiger Medien praxisnah erschließen zu können. Einen Beitrag dazu leistet das Online-Angebot „Aktuelle Kamera versus Tagesschau“ der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.
Es ist Teil des interaktiven Lernprojekts „Good News, Bad News – Die Macht der Nachrichten“ (Externer Link: www.good-bad.news) und richtet sich an alle Interessierte, insbesondere aber an Vertreter*innen der schulischen Bildung und ihre Schüler*innen. Sie erhalten einen Einblick in die deutsch-deutsche Medienarbeit der jüngeren deutschen Geschichte und erfahren, wie essenziell unabhängige Nachrichten für das Funktionieren einer plural verfassten, freien Gesellschaft sind.
Ausgangspunkt: Die Sendungen in Ost und West
Basis für das Projekt ist der Nachrichtenvergleich zwischen „Tagesschau“ und „Aktuelle Kamera“. Erstere (Erstausstrahlung: 26.12.1952) war bereits in der sich nach dem Krieg mit westalliierter Hilfe allmählich entwickelnden Medienlandschaft eines der meistgenutzten Nachrichtenangebote der BRD. Das Pendant in der DDR war die „Aktuelle Kamera“ (Erstausstrahlung: 21.12.1952). Hier war die Berichterstattung stark durch die sowjetische Besatzungsmacht und den sozialistischen Staat gelenkt. Partei- und Staatstreue waren im Gegensatz zum Westen eine der Grundvoraussetzungen für Journalist*innen. Die Nachrichtensendung wurde für propagandistische Zwecke missbraucht.
Der breit angelegte Ost-West-Vergleich ist geeignet, jungen Menschen einen Überblick und ein Gefühl dafür zu geben, wie wichtig unabhängige Nachrichten für das Funktionieren einer Demokratie sind, wie leicht sie im Namen einer politischen Ideologie mit alleinigem Wahrheitsanspruch missbraucht wurden und wie sehr sie nach wie vor missbraucht werden können. Über den historischen Vergleich hinaus sollen Jugendliche mit aktuellen Beispielen auch für die gegenwärtigen Gefahren sensibilisiert werden. Eine wichtige Voraussetzung für eine solche Gegenüberstellung zweier Nachrichtenformate ist deren Vergleichbarkeit.
Dazu wurden Beiträge im Archiv des NDR und im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) recherchiert, die über ein und dasselbe Ereignis am selben Tag sowohl in der Tagesschau als auch in der Aktuellen Kamera (AK) berichtet hatten. Das war allerdings kein leichtes Unterfangen.
Obwohl für den Zeitraum von über 45 Jahren bei einer täglichen Nachrichtensendung mit im Schnitt sechs bis acht ausführlichen Berichtsbeiträgen genügend Material vorhanden ist, reduzierte sich das Angebot aus den unterschiedlichsten Gründen: Mal sprachen urheberrechtliche Vorgaben der Archive gegen eine Online-Nutzung, mal verhinderten technische Gründe die Nutzung, dann wieder stimmten die Berichtszeiträume nicht überein. Und schließlich sollte es auch um Themen gehen, die eine besondere Bedeutung hatten und/oder für Jugendliche ganz allgemein von Interesse sind. Themen wie Sport, Musik, Tanz oder Mode fielen leider regelmäßig durch das Raster.
Nachrichtenvergleiche: Die Themen
Herausgefiltert wurden in mehreren Recherchedurchläufen bislang schließlich fünf Vergleichsthemen, die über die Menüführung einzeln anwählbar sind:
Zum einen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (1976), weil sie ein zentrales Ereignis in den Beziehungen zwischen DDR und BRD war, das große Aufmerksamkeit in beiden Staaten erlangte und mit einem gesellschaftlichen sowie medialen Aufschrei einherging. Dieses Thema leitet die Gegenüberstellungen ein, da über den nachrichtenstrategischen Vergleichswert hinaus die Biografie Biermanns, das Schicksal eines Musikers, der primären Zielgruppe der Jugendlichen eine bessere Identifikation mit dem Thema ermöglicht als zum Beispiel die Rezeption der Start-II-Verhandlungen in den beiden deutschen Staaten.
Ähnliches gilt auch für die beiden folgenden Themen Botschaftsflüchtlinge und Demonstrationen der Opposition. Hier steht zwar kein Einzelschicksal im Zentrum des Vergleichs, dennoch sind die Situationen im Jahr 1989 für die Schüler*innen leicht nachvollziehbar: die verzweifelte Flucht von DDR-Bürgern aus einem autoritären Regime beziehungsweise der mutige Protest gegen dieses Regime – und die Frage, wie hierüber jeweils in Ost und West berichtet wird.
Mit der Rolle der Frau wird ein gesellschaftliches Thema aufgegriffen, das die unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Stellung der Frauen in DDR und BRD anhand des Vergleichs zweier Beiträge zum Weltfrauentag (8. März) beleuchtet. Reizvoll ist diese Gegenüberstellung, weil sich hieran auch die Frage nach dem Stand der Emanzipation in den beiden Gesellschaftssystemen diskutieren lässt.
Schließlich folgt noch Das Schneechaos als vorerst letztes Vergleichsthema. Zum Jahreswechsel 1978/79 erlebten Norddeutschland sowie weitere Teile Nordeuropas extreme Wetterbedingungen historischen Ausmaßes. Sowohl auf Seite der BRD als auch der DDR wurden die katastrophalen Folgen unter anderem durch die Bundeswehr beziehungsweise die Nationale Volksarmee bekämpft. Der Umgang mit Naturkatastrophen in Nachrichtensendungen ist unter dem Eindruck der Klimakrise und ihren Folgen (Gletscherschmelze, Ahrtalflut) für Jugendliche von besonderem Interesse.
Eines der wichtigsten und sicher auch ergiebigsten Themen für einen solchen Nachrichtenvergleich ist mit dem Pendant zum Ende der innerdeutschen Grenze der Bau der Mauer am 13.08.1961. Aus rechtlichen Gründen musste dieses Thema bislang ein Desiderat bleiben – allerdings zeichnet sich zwischenzeitlich eine Lösung ab, die eine Ergänzung demnächst ermöglichen könnte.
Lehrreiche Unterschiede
Bei diesen Vergleichen wird sehr deutlich, dass die Aktuelle Kamera eine Verlautbarungssendung der DDR-Regierung und der SED-Partei war. Besonders klar wird dies im Bericht über die Ausbürgerung Wolf Biermanns, wenn die Nachrichtensprecherin dazu wortgetreu einen Text aus dem Parteiorgan „Neues Deutschland“ verliest. Unverblümt ist das zudem noch im eingeblendeten Nachrichtenbild erkennbar, das die Titelseite der Parteizeitung zeigt.
Anders stellt sich die Situation für die DDR im Fall der Prager Botschaftsflüchtlinge dar. Hier wie bei den Montagsdemonstrationen befindet sich der Staat in der Defensive, muss er doch rechtfertigen, weshalb seine Bürger ihn durch Flucht oder Protest infrage stellen – obwohl er doch nach eigener Auffassung das bestmögliche Staatswesen verkörpert.
In allen drei Fällen zeigt der Vergleich, dass bei den Berichten der Tagesschau im Unterschied zur Aktuellen Kamera eine von der Regierung unabhängige Nachrichtenredaktion arbeitet. Hier wird klar zwischen dem jeweiligen Kommentar und der eigentlichen Nachricht getrennt. Und: Der Kommentarsprecher zum Fall Biermann erwartet (und begrüßt implizit), dass der Liedermacher sich nicht nur zum DDR-Regime, sondern auch zur Politik der BRD kritisch äußern wird.
Ein deutliches Bekenntnis zur Meinungsfreiheit. Im Bericht über die Botschaftsflüchtlinge wird zudem die Aktuelle Kamera mit der Aufforderung an die Regierung in Bonn zitiert, für einen geregelten Botschaftsverkehr zu sorgen. Auch dies unterscheidet die Tagesschau von der Aktuellen Kamera , da sie gegenteilige und oppositionelle Stimmen zu Wort kommen lässt.
Diese unabhängige und kritische Haltung der Tagesschau-Redaktion wird auch in den beiden anderen Beispielen zur Rolle der Frau und dem „Schneechaos“ belegt. Hier werden deutlich kritische Stimmen zitiert, die sich an westdeutsche Spitzenpolitiker richten und in dem einen Fall mangelnden Fortschritt bei der Gleichstellung der Frau kritisieren und im anderen Fall ein ungenügendes Krisenmanagement.
Im Unterschied dazu „feiert“ die Aktuelle Kamera geradezu die Staatsführung und hebt deren Errungenschaften unkritisch hervor. Anders als in der Tagesschau wird der Bericht zum Internationalen Frauentag zur Inszenierung der eigenen Staats- und Parteispitze. Wie der Vergleich zeigt, konnte die DDR durchaus auf Erfolge bei der Emanzipation verweisen.
Ein kritischer Kommentar wie bei der Tagesschau zu möglichen Desideraten, das wird in der Auseinandersetzung im Begleitangebot zu den Filmbeiträgen klar, fehlt jedoch. Zwar waren in der DDR weit mehr Frauen berufstätig und damit auch selbständiger als in Westdeutschland, aber nach wie vor waren sie oft mit der Versorgung von Haushalt und der Kindererziehung alleine gelassen und einer Doppelbelastung ausgesetzt – trotz Krippenplätzen.
Zitat
Der Vergleich der Mediensysteme macht mit Blick auf die Aktuelle Kamera deutlich, dass sich auch hinter deren Berichterstattung der unbedingte Anspruch der SED auf das Meinungsmonopol ausdrückt. Hier steht der Gedanke unmissverständlich im Vordergrund, dass die Presse und mit ihr auch das Flaggschiff der DDR-Nachrichten die Aufgabe hat, die Bürger*innen mit den Ideen der Sozialistischen Einheits-Partei zu belehren, deren Maßnahmen als Erfolge zu verbreiten und keinen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidungen der Führungselite aufkommen zu lassen.
Auch die Berichterstattung über das Schneechaos 1978/79 unterstreicht dies deutlich. „Wir haben alles im Griff“, ist hier die Parole der Partei. Wie abhängig die Reporter von deren Vorgaben waren, zeigt sich paradoxerweise gerade dort, wo die Führung von Staat und Partei aufgrund der dramatischen Wetterverhältnisse mit ihren Weisungen nicht durchdringt.
Für einen Moment können die Journalisten etwas freier berichten – wenn auch im Rahmen der üblichen Restriktionen. Die Berichterstattung verlässt zwar nicht gänzlich den eingeübten DDR-Nachrichtenduktus, dafür wird aber eine implizite Kritik möglich, die erst verständlich wird, wenn sie mit der ansonsten üblichen staats- und parteitreuen Berichtshaltung der Aktuellen Kamera verglichen wird. Auch das greift das Begleitmaterial zum Bericht in der „Lehrkraftecke“ für den Unterricht auf (siehe unten).
Materialien:
Ausgestattet und flankiert werden diese Themen und Angebote unter anderem mit:
Original-Filmmaterial der jeweiligen Nachrichtensendungen
Transkripten der jeweiligen Filmsequenzen
Begleittexten sowie interaktiven Zuordnungsaufgaben, Memoryspielen, Quiz, etc.
bebilderten Zeitleisten, die je eine Chronik der Entwicklung zum Mauerfall mit Blick auf die Ausreise der DDR-Bürger*innen und zu den Montagsdemonstrationen geben.
Erklärvideos unter anderem zu Themen wie „Was sind eigentlich Nachrichten?“.
einem Slider, der den direkten Vergleich zwischen den unterschiedlichen Auffassungen von Journalismus in den jeweiligen Systemen ermöglicht.
einem Glossar nachrichtlicher und journalistischer Fachausdrücke, das in ein 360-Grad-Tableau integriert ist.
Links zu Reportagen in den Nachrichtenredaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender
Einbettung
Eingebunden ist dieser Nachrichtenvergleich in einen größeren Zusammenhang aktueller Nachrichtenkontexte. Denn mit der Gegenüberstellung und Analyse der beiden Nachrichtenformate soll nicht nur Geschichte erfahrbar gemacht werden. Die Erarbeitung der historischen Inhalte mündet in die ebenfalls interaktiv und spielerisch angelegte Untersuchung und Aufbereitung heutiger Nachrichtenphänomene: Was ist Framing und wo zeigt es sich heute? Worauf gründet die Pressefreiheit und wo ist sie in Gefahr (mit Material von Reporter ohne Grenzen zu Russland und China)? Was genau sind Nachrichten und welche Funktion hat ein Gatekeeper? Wie denkst Du über „Cancel Culture“?
Die „Spielecke“ (www.good-bad.news/spielecke) richtet sich mit „Shit Happens“ an einen jüngeren Nutzerkreis, mit „Klicks unter Kontrolle“ an ältere Schüler*innen. Im ersten Fall erleben die Jugendlichen in einem Videoclip von Youtube-Künstlerin Coldmirror, was passieren kann, wenn man Nachrichten unkritisch und nur oberflächlich wahrnimmt – unabhängig davon, über welches Medium man sie erhält.
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Im zweiten Angebot ("Klicks unter Kontrolle") steckt man als Spieler*in in der Rolle eines hochrangigen Beraters der fiktiven Regierungspartei „Wir haben Recht“ (WhR), dessen Aufgabe es ist, die Medienfreiheit zugunsten der herrschenden Partei einzuschränken, etwa durch Gesetze und Reaktionen auf bestimmte Vorkommnisse. Das Spiel selbst ist eine Art „Assistenz“, die die Spielenden bei ihrem Job unterstützt und durch die diversen Entscheidungen führt. Gezeigt wird ihnen, wie die Medienfreiheit in einigen Ländern systematisch untergraben wird.
Schließlich liefert die „Lehrkraftecke“ (www.good-bad.news/lehrkraftecke) ausführlich praktische Anregungen für eine Nutzung im Unterricht und gibt Anleitungen, Bonusmaterial und technische Hilfestellung zu den Inhalten der Website. Ein Link zum multimedialen Lerntool “Ex-Grenze” bietet eine sinnvolle Ergänzung, wenn es darum geht, Schüler*innen den geschichtlichen Hintergrund zur deutschen Teilung zu erläutern und sie motivierend an die deutsch-deutsche Thematik heranzuführen.
Die Web-Anwendung ist so konzipiert, dass die Nutzer in ihrer Medienkompetenz geschult werden und sich gleichzeitig spielerisch und interaktiv sowohl mit der deutsch-deutschen Geschichte als auch mit der Rolle und Funktion von (Nachrichten-) Medien in Demokratien und Diktaturen auseinandersetzen. So können sie den eigenen Nachrichtenkonsum reflektieren und ein Bewusstsein für die Relevanz unabhängiger Nachrichten und die Notwendigkeit einer freien Presse erhalten.
Die Implementierung des hier genutzten freien und quelloffenen interaktiven Lerntools „H5P“ ermöglicht einen attraktiven und zeitgemäßen Zugang gerade für jugendliche Nutzer der Webseite. Auf diese Weise können sie sich auf spielerische Weise durch digitale Features mit dem Thema Nachrichten in demokratischen und diktatorischen Systemen im oben gezeigten Sinne vergleichend beschäftigen. Die Möglichkeit des Lerntools, dass die Schüler*innen eigene Texte zu bestimmten Themen verfassen und sie mit ihrer Lehrkraft und/oder Mitschüler*innen austauschen können, gab diesem Tool den Vorzug vor anderen.
Übrigens lassen sich die H5P-Inhalte auf der Seite des Projekts herunterladen und in moodle einbinden, wenn die Möglichkeit besteht, das H5P-Plugin zu installieren. Das ermöglicht den Lehrkräften, die Aufgaben in anderen Kontexten einzusetzen und die Antworten der Schülerinnen und Schülern einzusehen.
Nachrichtenvergleich: 2 Beispiele
I. Die Macht der Bilder
Das Kapitel „Botschaftsflüchtlinge“ (Externer Link: www.good-bad.news/botschaftsfluechtlinge) greift die Berichterstattung von Tagesschau und Aktueller Kamera über die Ausreise der in die Prager Botschaft geflüchteten DDR-Bürger auf. Am 1. Oktober 1989 durften mehrere Sonderzüge mit Genehmigung der DDR-Behörden die Botschaftsflüchtlinge nach Westdeutschland bringen. Doch in beiden Ländern sah man die Geschehnisse sehr gegensätzlich. Das zeigt sich besonders gut in den abendlichen Nachrichtensendungen. Der Aufmacher zum Thema spiegelt auch visuell diesen Gegensatz und ist gut geeignet, über die Macht der Bilder auch in Nachrichtensendungen mit Schüler*innen zu sprechen, ihren Gebrauch zu vergleichen und zu analysieren. Hierzu können die Schüler*innen die Sendungen direkt in den Videoplayern abspielen.
Auffällig ist bei der Gegenüberstellung beider Nachrichtenmeldungen, dass während der Verlesung des Nachrichtentextes zu Beginn der Sendung in der Tagesschau ein Foto von offensichtlich glücklichen, aus dem Zug winkenden Flüchtlingen gezeigt wird. Die Aktuelle Kamera hingegen verzichtet auf ein Foto und zeigt nur einen Schriftzug. Das Lerntool macht die Schüler*innen durch Popups darauf aufmerksam, die an passender Stelle immer wieder mit entsprechenden Fragen aufploppen. Sind die Fragen beantwortet, setzt sich das Video fort.
So wird den Schüler*innen die Rolle von Bildern in der Nachrichtenpräsentation bewusst gemacht und durch weitere Fragetools in den Videos oder in sich anschließenden Webelementen (zum Beispiel mit der Analyse eines Kommentars) reflektiert und vertieft. An die Schüler*innen richten sich dabei zentrale Fragen: Welche Gründe könnte die Redaktion der Aktuellen Kamera haben, auf ein Foto zur Illustration der Nachricht zu verzichten? Welche Gründe hingegen könnte die Tagesschau bewogen haben, die eigene Nachricht mit einem solchen Foto zu illustrieren?
Mit solchen und weiteren Fragen wird die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf ein scheinbar harmloses Detail gelenkt, das nur zu leicht übersehen wird: auf die Fotos, Illustrationen und Statistiken, die die Nachrichtenverlese meist begleiten. Oftmals werden diese bildhaften Begleitmedien nur als Randinformationen zur Verdeutlichung des gesprochenen Textes gewertet. Doch das unterschätzt die Macht der Bilder!
Zitat
Noch nie in der Geschichte der Nachrichten spielten Bilder eine so große Rolle wie heute. Allein schon die enorme Bilderflut, die täglich von Ereignissen auch durch den Einsatz neuer digitaler Medien (Stichwort: Smartphone) produziert wird, unterstützt diesen Einfluss. Aber wie das hier angeführte Beispiel zeigt, war der bewusst gewählte Einsatz von Bildern beziehungsweise der Verzicht auf sie bereits zuvor gängige Praxis in der nachrichtlichen Berichterstattung.
Wie praktische Übungen mit dem Tool im Unterricht gezeigt haben, trägt dieser aktive, von den Schüler*innen selbst vollzogene Vergleich zu ihrem Verständnis bei, dass die Bilder mitunter eine größere Wirkung haben können als der gesprochene Text, und dass es keine willkürliche und unbedachte Entscheidung ist, bestimmte Bilder auszuwählen, sie einzusetzen oder auf ihren Einsatz zu verzichten. Durch einen Transfer dieser Analyse auf Meldungen heutiger Nachrichtendienste – ganz gleich, ob es Fernsehnachrichten, Meldungen in der Presse oder Push-Nachrichten von Messenger-Diensten sind – lassen sich die Schüler*innen ganz generell für den Einfluss und die Macht der Bilder sensibilisieren.
II. Bad News – „(K)ein Wort der Kritik!“
Das Beispiel „Schneechaos“ (https://good-bad.news/schneechaos/) greift das Extremwetter-Ereignis am Jahreswechsel 1978/79 auf. Innerhalb von Stunden fällt am 28. Dezember die Temperatur um fast 30 Grad, ein 72-stündiger Schneesturm erfasst den Norden Deutschlands – im Westen wie im Osten. Die Situation ist ernst: Der „Jahrhundertwinter“ fordert Tote in beiden deutschen Staaten. Tagesschau und Aktuelle Kamera berichten über das Unwetter und seine massiven Auswirkungen auf Mensch und Tier. Dass auch über eine Naturkatastrophe, an sich ein eher ideologiefreies Thema, unterschiedlich berichtet werden kann, zeigt sich im Nachrichtenvergleich.
Stellt man die Ausgaben der beiden Nachrichtensendungen vom 1. Januar 1979 gegenüber, dann fällt unter anderem auf, dass in beiden Berichten mehrere und unterschiedliche Formen von Kritik vorkommen. Die Textanalyse der beiden Nachrichtensendungen, die durch die Verschriftlichung der jeweiligen Beiträge (Transkript) unterstützt wird, lässt drei Formen dieser Kritik erkennen. Zwei davon seien hier kurz skizziert: So gibt die Reportage der Tagesschau ebenso wie die der Aktuellen Kamera eingangs zwar einen Lagebericht von den Verhältnissen in den betroffenen Regionen. Die Tagesschau verweist aber ausdrücklich auf Stimmen, die sich mit der Bewältigung der Notlage durch verantwortliche Stellen unzufrieden zeigen, wenn es heißt:
„Inzwischen ist erste Kritik laut geworden. Es wird von mangelnder Koordinierung in den Katastrophenstäben gesprochen. Auch sei die Bundeswehr, so ein anderer Vorwurf, zu spät eingeschaltet worden.“
Explizit werden vom Sprecher Vorhaltungen gegenüber höchsten staatlichen Stellen zitiert, auch wenn deren Herkunft vage bleibt – durchaus ein Punkt, der Schüler*innen zur Kritik an dieser Meldung anregen könnte. Denn so bleibt die Quelle der Kritik einem Millionenpublikum unbekannt und hinterlässt den Eindruck, es sei hier Hörensagen verbreitet worden.
Ein Unterschied in den Darstellungen zeigt sich im Setting der gezeigten Interviews: Während im Bericht der Aktuellen Kamera lediglich ein Interview mit Generalmajor Mally, einem Verantwortlichen aus dem Krisenstab, durch einen Reporter geführt wird, der nur nach Verhaltenshinweisen für Verkehrsteilnehmer gefragt wird, muss sich der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Gerhard Stoltenberg, auf einer Pressekonferenz den kritischen Fragen der Journalisten stellen und Rede und Antwort stehen.
Einem abgesprochenen und strikten Vorgaben folgenden Frageritus, der im Ergebnis die souveräne Kontrolle durch die Staats- und Parteiführung zum Ergebnis haben soll, steht auf der anderen Seite ein Meinungspluralismus in Form einer Vielzahl von Reportern unterschiedlicher und unabhängiger Medien gegenüber. Um für diesen Kontext die grundlegenden Unterschiede beider Mediensysteme zu vermitteln, lässt sich das Kapitel „Aktuelle Kamera vs. Tagesschau“ (Externer Link: www.good-bad.news/aktuelle-kamera-vs-tagesschau) heranziehen.
Im Anschluss an die Videos drängen sich hierzu Fragen an die Schüler*innen auf, die in der „Lehrkraftecke“ beispielhaft angeführt sind und als Impuls für eine Auseinandersetzung mit den Nachrichteninhalten und deren Verhältnis zu einer kritischen Berichterstattung dienen können, etwa wenn gefragt wird:
Worin unterscheidet sich die Interviewsituation in der Aktuellen Kamera von der in der Tagesschau mit Blick auf die Zahl der beteiligten Personen und der räumlichen Atmosphäre?
Welche Form der Befragung von verantwortlich Handelnden lässt eurer Meinung nach mehr kritische Fragen zu? Begründet eure Auffassung.
Welche der beiden Nachrichtensendungen ist kritischer gegenüber den in dieser Krise Verantwortlichen? Begründe deine Meinung.
Darüber hinaus lässt sich die unterschiedliche Berichterstattung mit den Schüler*innen durch eine Slide-Show und ein Erklärvideo zur Funktion kritischer Medien in einer Demokratie vertiefen.
Mediengrafik
Für die Schüler*innen wird auf diese Weise deutlich, wie schwierig es in autoritären Staaten ohne freie Presse ist, über Missstände zu berichten und so zu deren Überwindung beizutragen.
Zitat
Der Absolutheitsanspruch der SED als Partei, die von sich behauptet, keine Fehler zu machen und infolgedessen auch keine strukturellen Probleme kennt, erlaubt keine Kritik. Auch nicht durch die Presse, die nach Auffassung der Partei die Aufgabe hat, die Massen mit den Ideen der Kommunistischen Partei zu belehren und zu erziehen. In einer Erziehungsdiktatur geht es vor allem darum, den Bürgern die Notwendigkeit der gerade geübten Politik zu verdeutlichen, nicht darum, sie zu kritisieren.
Fragegrafik zur Aktuellen Kamera
Wie wichtig es ist, dass frei über Ereignisse berichtet werden kann, zeigt sich auch an dem Beispiel gegenwärtiger Naturkatastrophen. Die Überschwemmungen im Ahrtal im Sommer 2021 mit ihren schwerwiegenden Folgen führten zum Beispiel zu kritischen Fragen – nicht nur bezüglich der Verantwortung von Politiker*innen, sondern auch mit Blick auf die Klima- und Umweltpolitik überhaupt. Ein Themenkreis, der an der Lebenswelt der Schüler*innen anschließen dürfte.
Einsatzmöglichkeiten in der Bildungsarbeit
Das Projekt ist für den Einsatz im Bildungsbereich besonders geeignet, ermöglicht es doch, flexibel und je nach Lehr- und Lernstand alle Klassenstufen und Schulformen anzusprechen. Die Bandbreite reicht von einfachen Zuordnungsaufgaben über Verständnistests bis hin zur Möglichkeit, selbst Texte und Meldungen nach handwerklichen Standards im Rahmen einer „Nachrichtenwerkstatt“ zu schreiben, die an Lehrkräfte und Mitschüler*innen gleichermaßen verschickt, ausgetauscht und diskutiert werden können.
So lassen sich diese Themen für den Einsatz im Unterricht individuell skalieren, von der Rezeption der Bild- über die Text- bis zur Kommentarebene. Für manche Klassen und Unterrichtsformen (Projektunterricht, Wahlpflichtunterricht, Doppelstunde, Vertretungsunterricht und anderes mehr) lassen sich so je angepasste Unterrichtseinheiten durchführen.
Die auf Interaktion angelegten Lernelemente erlauben die Selbstkontrolle der Nutzer*innen durch Überprüfung der Lösungen und verweisen mit motivierenden Hinweisen auf Wiederholungsläufe. So ist es möglich, die unterschiedlichsten Aspekte des Themas in historischer und gegenwärtiger Hinsicht zu erschließen und durch eigene Bewertungen zu kommentieren. Dabei erfahren die Nutzer*innen sowohl Grundlagen einer seriösen Berichterstattung als auch Instrumente journalistischer Kernkompetenzen. Hierbei werden alle medialen Ebenen berücksichtigt. Bild-, Ton- und Texterzeugnisse können so jeweils für sich, aber auch in ihrer medialen Wechselwirkung im Hinblick auf ihre Nachrichtenfunktion kritisch analysiert werden.
Informationen für Lehrkräfte bieten weiterführende Zusatzaufgaben, methodische Anregungen und didaktische Hinweise. Querverweise verbinden Aufgabenstränge über die Menüstruktur hinaus dort, wo sich thematische und inhaltliche Zusammenhänge anbieten. Durch Anstöße zur eigenen produktiven Arbeit sollen die Angebote als Aufforderung zur aktiven Medienarbeit verstanden werden können.
Verlinkungen zu externen Angeboten wie „Ex-Grenze – war da was?“ helfen dabei, sich die historischen Voraussetzungen der deutsch-deutschen Teilung ebenfalls auf interaktive Weise zu erschließen. So wird das Ziel der Sensibilisierung der Nutzer*innen für den geschichtlichen und gegenwärtigen Einsatz von Wort und Bild zur Informationsvermittlung auf für die Zielgruppe attraktive, nachhaltige und zeitgemäße Weise erreicht.
Zitat
Das Projektergebnis erlaubt so neben der geschichtlichen Auseinandersetzung mit der Rolle und Funktion der Medien in gegensätzlichen gesellschaftlichen Systemen auch die Reflexion des eigenen Nachrichtenkonsums und schafft ein Bewusstsein für die persönliche beziehungsweise eigene Relevanz unabhängiger Nachrichten und die Notwendigkeit einer freien Presse.
Zitierweise: Joachim Meißner, „Ost-West Nachrichtenvergleiche. DDR vermitteln, aber wie? Teil II: Fernsehen", in: Deutschland Archiv, 20.12.2022, Link: www.bpb.de/516550.
Joachim Jauer, "Externer Link: D - wie Dialog". Wie deutsch-deutsches Fernsehen ausprobiert wurde, das Beispiel des ZDF-Magazins "Kennzeichen D", Deutschlandarchiv vom 3.8.2022.
Dr. Joachim Meißner ist Fernsehjournalist beim Hessischen Rundfunk, verantwortlich für das Programm Wissen und mehr. Schwerpunkte seiner Arbeit sind journalistische und wissenschaftliche Beiträge zur politischen Kultur, zum Bereich Bildung und Schule, zur Theorie der Utopie, zur Geschichte der Propaganda und zum Südseemythos. Das Projekt "Good News - bd News" stellte er erstmals 2022 auf der Geschichtsmesse der Stiftung Aufarbeitung in Suhl vor. Das Projekt wird kontinuierlich ausgebaut.
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