Deutschlands Chinapolitik – schwach angefangen und stark nachgelassen
Axel Berkofsky
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Russlands Krieg gegen die Ukraine hat auch auf anderen politischen Feldern sensibler gemacht, zum Beispiel wenn es um den Umgang und mögliche Abhängigkeiten von diktatorisch regierten Staaten geht. In diesem Kontext betrachtet der Chinaexperte Prof. Axel Berkofsky die deutsch-chinesischen Beziehungen und verfolgt ihre Wege zurück. Sein Aufhänger ist der umstrittene Terminal-Deal im Hamburger Hafen 2022.
24,99 Prozent eines Terminals im Hamburger Hafen gehören zukünftig quasi der Kommunistischen Partei (KP) Chinas. Das sind zwar nicht die ursprünglich zwischen dem Hamburger Hafen und der chinesischen staatseigenen Reederei Cosco vereinbarten 35 Prozent, aber nichtsdestotrotz das bedauernswerte Ergebnis einer aus meiner Sicht opportunistischen deutschen Chinapolitik.
Eine Politik, die über Jahrzehnte durch den Slogan „Wandel durch Handel“ als den deutschen Interessen dienlich beschrieben wurde. Cosco und andere staatseigene Konzerne (siehe unten) haben sich über die Jahre in eine Vielzahl europäischer Häfen eingekauft, und es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass sich Peking mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, zu seinen Gunsten wirtschaftliche mit geopolitischen Interessen zu kombinieren. Bundeskanzler Olaf Scholz, so wirkten seine Reaktionen, ließ jedoch all das offensichtlich unbeeindruckt.
Von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machend, setzte er den Verkauf durch, der ohne eine sogenannte Kabinettsbefassung Cosco erlaubt hätte, die ursprünglich vereinbarten 35 Prozent des Container-Terminals Tollerhort der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) zu kaufen. Scholz gab sich sichtlich zufrieden mit dem aus der Sicht seiner (vielen) Kritiker „faulen“ Kompromiss und flog dann für ganze zwölf Stunden zu einem verspäteten Vorsprechtermin nach China. Eine Reise, deren Timing nicht hätte falscher sein können.
Ein deutscher Bundeskanzler besucht als erster westlicher Staats- und Regierungschef ein Land, dessen Präsident sich auf dem KP-Parteikongress kurz vorher zum alleinigen Herrscher auf Lebenszeit hat ausrufen lassen. Es kam dann auch wenig überraschend, dass der Abstecher des Kanzlers nach China in der Presse mit vielen Attributen versehen wurde – „politisch klug“, „standhaft“ und „erfolgreich“ gehörten jedoch erwartungsgemäß nicht dazu.
Dass der Fokus der Berichterstattung des chinesischen Staatsfernsehens über das Treffen zwischen Xi Jinping und Olaf Scholz auf dem zustimmenden Nicken des Kanzlers während der Rede des chinesischen Diktators lag, trug außerdem nicht unbedingt zur Glaubwürdigkeit des Kanzlers bei. Chinas Central Television (CCTV) schnitt die Berichterstattung des Treffens so zusammen, dass der etwas hilflos wirkende Scholz praktisch ohne Pause in die Kamera nickte, während Chinas Alleinherrscher seinem deutschen Gast erklärte, wie deutsch-chinesische Beziehungen auszusehen und zu funktionieren haben – und das alles vor dem Hintergrund der von der Ampelkoalition vor einem Jahr im Koalitionsvertrag angekündigten neuen Chinastrategie, die, wie es damals hieß, „in der systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen“ soll.
Bei dieser Ankündigung ist es jedoch – zumindest bisher – geblieben. Die neue Chinastrategie lässt weiterhin auf sich warten, und im Oktober dieses Jahres war zu lesen, dass das von Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) geführte Auswärtige Amt eine neue Strategie voraussichtlich erst Mitte 2023 vorstellen kann. Das wären dann fast zwei Jahre nach Baerbocks Amtsantritt, aber zumindest – so stellt das Auswärtige Amt in Aussicht – wird es keine „Weiter-so-Strategie“ werden. Bis dahin jedoch praktiziert Deutschland unter Kanzler Scholz scheinbar genau das: ein „Weiter so“ der von der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) praktizierten, den Wirtschaftsinteressen Deutschlands (um fast jeden Preis) dienenden deutschen Chinapolitik der letzten 15 Jahre.
Von Anfang an falsch
Aber der Reihe nach, und zunächst ein Ausflug in die Geschichte deutsch-chinesischer Beziehungen. 1964 unternahmen Bonn und Peking in Bern den ersten Versuch, ein Handelsabkommen zu verhandeln. In damals geheimen Verhandlungen trafen sich bundesdeutsche und chinesische Offizielle insgesamt drei Mal im Laufe des Jahres 1964 in der bundesdeutschen Botschaft in Bern. Das allerdings letztendlich erfolglos: Die „Berlinfrage“, die „Taiwanfrage“ und ein quasi-Veto aus den USA führten seinerzeit dazu, dass die Verhandlungen im November 1964 ohne Ergebnisse abgebrochen wurden.
Nachdem Peking sich anfänglich bereiterklärt hatte, auch Westberlin in das Handelsabkommen einzubeziehen, machte China im Laufe der Verhandlungen einen Rückzieher und verkündete, dass Westberlin aus seiner Sicht nicht Teil der Bundesrepublik sei und deswegen auch nicht Teil eines bilateralen Handelsabkommens sein könne. Aber auch Bonn trug seinen Teil dazu bei, dass die Verhandlungen in der Schweiz zu keinem Ergebnis führten. Die deutsche Regierung trug ihren Unterhändlern auf, der chinesischen Seite deutlich zu machen, dass ein Handelsabkommen nichts an der Haltung der bundesdeutschen Regierung in der Taiwanfrage ändern würde. Bonn würde es deswegen weiterhin offen lassen, ob aus bundesdeutscher Sicht die Regierung in Peking oder vielmehr Taipei das chinesische Volk vertrete.
Das war seinerzeit ein „Deal Breaker“ für Peking, und dann ließen auch noch die USA Bonn wissen, dass es mit den Kommunisten in Peking nichts zu verhandeln gebe. Im Rahmen eines Treffens zwischen dem deutschen Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) und US-Außenminister Dean Rusk informierte Rusk Erhard seinerzeit, dass die USA China wegen dessen Unterstützung des Vietcong, der gegen US-Truppen in Nordvietnam kämpfte, als „Feind“ ansähen und Peking deswegen nicht als Verhandlungspartner für ein Handelsabkommen in Frage komme.
Daraufhin behauptete der von den USA unter Druck gesetzte Erhard, dass er in Wirklichkeit niemals die Absicht gehabt habe, ein „richtiges“ Handelsabkommen, sondern lediglich ein „Warenabkommen“ mit China zu verhandeln. Als die USA unter Richard Nixon Ende der 1960er-Jahre entschieden, die Spannungen zwischen Peking und Moskau politisch zu nutzen und dabei auf Chinas Unterstützung bei Verhandlungen mit Nordvietnam hofften, wurde auch Deutschland (und Japan) „erlaubt“, diplomatische Beziehungen mit China zu knüpfen.
Diesmal aus chinesischer Sicht mit Erfolg: Bonn knickte ein und erkannte Pekings „Ein-China-Prinzip“ an, wofür es 1972 mit diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik belohnt wurde. Und dann ging es – um es salopp auszudrücken – handelspolitisch los. Den Grundstein für den raschen Ausbau deutsch-chinesischer Wirtschafts- und Handelsbeziehungen in den 1970er-Jahren legte nicht zuletzt Franz-Josef Strauß (CSU). Ausgerechnet Strauß, eigentlich überzeugter „Kommunistenhasser“ und eher rechten und faschistischen als linken Regimen zugetan (wie zum Beispiel dem damals von General Pinochet regierten Chile), besuchte China im „Auftrag“ deutscher/bayrischer Konzerne gleich zwei Mal in den 1970er-Jahren und wurde beide Male mit allen Ehren in Peking empfangen.
Unter Mao Zedong gab sich die Volksrepublik seinerzeit äußerst und unerwartet pragmatisch und sah in Strauß nicht zuletzt einen Verbündeten in seiner Abneigung gegen die verhasste Ostpolitik Willy Brandts, welche der chinesische Diktator aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen als eine gegen China gerichtete Verschwörung betrachtete. Strauß‘ erster Besuch in China fand im Januar 1975 statt.
Er muss während seiner Gespräche genau das gesagt haben, was Peking von ihm hatte hören wollen, denn im Oktober 1975 reiste er ein zweites Mal nach China, noch vor dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), der anders als Strauß monatelang mit Peking verhandeln musste, ob und wie ein Treffen mit Mao stattfinden könnte. Im Oktober des gleichen Jahres wurde Strauß vom China Council for the Promotion of Foreign Trade eingeladen. Er traf Deng Xiaoping und Chinas Außenminister Qiao Guanhua und sein Foto wurde in Vitrinen in Peking gezeigt – eine Ehre, die, wie damals in Peking betont wurde, nur drei Deutschen zuteil wurde: Karl Marx, Friedrich Engels und jetzt dem aus der Reihe deutscher kommunistischer Intellektueller fallenden Franz-Josef Strauß.
Freiwilliges Umfallen
Wie andere Staaten (etwa Frankreich , Japan und die USA) hatte sich die Bundesrepublik seinerzeit dem Diktat Chinas in Sachen „Ein-China-Politik“ gebeugt, als es dazu aus realpolitischer Perspektive eigentlich keinen Anlass gegeben hatte. Das sich im Zuge der Kulturrevolution im nahezu kompletten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Chaos befindliche China war Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre ohne Zweifel mehr auf Handel mit und Investitionen aus Europa und Deutschland angewiesen als andersherum und war eigentlich nicht in der Position, dem Westen die Bedingungen der Zusammenarbeit zu diktieren. Zumindest darf doch bezweifelt werden, dass China Anfang der 1970er-Jahre auf die „Ein-China-Politik“ als „Eintrittskarte“ für bilaterale Wirtschafts- und Handelsbeziehungen bestanden hat.
Das ab Ende der 1970er-Jahre von Deng Xiaoping regierte China war seinerzeit de facto gezwungen, sich nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Isolation auf Wirtschafts- und Strukturreformen zu konzentrieren, und Investitionen aus dem Ausland sollten dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Die Motive europäischer Staaten, stattdessen den opportunistischen Weg des geringsten Widerstands zu wählen, unterschieden sich von denen der USA. Während europäische Politiker und Unternehmer erst eins und später dann beide Augen auf China als Absatzmarkt und Produktionsstandort richteten, bestand in den USA die Hoffnung, dass Peking seinen Einfluss auf die politische Führung Nordvietnams geltend machen und Washington helfen würde, das Ende des Vietnamkriegs mit Hanoi zu verhandeln. Außerdem hoffte man in Washington, dass eine Annäherung an China das Zerwürfnis Chinas mit der Sowjetunion weiter zementieren würde, was strategisch und geopolitisch hätte ausgenutzt werden können.
Als ganz so einfach sollte sich das allerdings nicht herausstellen. Ganz im Gegenteil: Die USA kämpften bis 1975 und verloren dann den Vietnamkrieg; bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen sollten nach dem ersten bilateralen Treffen in Peking 1972 noch weitere sieben Jahre vergehen. Ungewollt leistet Peking heute mit seiner außen- und sicherheitspolitischen Aggressivität möglicherweise wertvolle Unterstützung für eine mögliche Korrektur des strategischen Fehlers des Westens in den 1960er- und 1970er-Jahren.
Bisher zeichnet sich das jedoch noch nicht ab, weil sich der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen nicht dazu durchringen können, die anachronistische „Ein-China-Politik“ zu überdenken und aufzuhören, so zu tun, als sei Taiwan – wie es China ganz alleine entschieden hat – eine abtrünnige chinesische Provinz. Die von der KP Chinas regierte Volksrepublik China hat in Wirklichkeit keinen einzigen Tag auf Taiwan regiert, und Taiwan gehört auch nicht – wie es Peking behauptet – seit jeher zu China. Taiwan wurde vielmehr 1684 Teil Chinas letzter kaiserlicher Dynastie (der Qing Dynastie 1644-1912) und nach der Niederlage Chinas gegen Japan im japanisch-chinesischen Krieg von 1894 bis 1895 von Japan (bis 1945) annektiert.
Mit der Brechstange
Doch wieder zurück in die Gegenwart chinesisch-deutscher Beziehungen und in die Niederungen deutscher Politik. „Cosco gewinnt über die Beteiligung an der Terminalgesellschaft einen indirekten Einfluss und wichtige Informationen über eine kritische Infrastruktur“, wurde Marcel Fratzscher, Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Fratzscher empfiehlt der EU und Deutschland, sich ein Beispiel an den USA zu nehmen und die Beteiligung nichteuropäischer Unternehmen an wichtiger Infrastruktur nicht nur zu untersagen, sondern auch bestehende Beteiligungen wieder rückgängig zu machen.
Europäische und deutsche Unternehmen hätten außerdem nicht den gleichen Zugang und die gleichen Rechte in China, wie sie chinesische Unternehmen in der Europäischen Union genießen, stellt Fratzscher richtigerweise fest. „Mit dieser Politik macht Europa China stark und schafft seinen eigenen Unternehmen langfristig große Wettbewerbsnachteile – solange diese Asymmetrie nicht behoben wird.” All das sind die seit Jahren von Kritikern deutscher und europäischer Chinapolitik vorgetragenen Warnungen, die mit dem Cosco-Hafendeal wieder einmal in den Wind geschlagen wurden. Ganz im Gegenteil, fand wie oben erwähnt offensichtlich der Bundeskanzler, der auf die sogenannte Teiluntersagung verweist, auf die sich der Hafen und die Investitoren aus China einigen mussten.
Das stellt sicher, dass Cosco ein Minderheitsaktionär bleibt und als dieser kein Mitsprache- und Wahlrecht bei strategischen Entscheidungen des Unternehmensmanagements hat. Das bleibt jedoch ein schwacher Trost aus der Sicht derjenigen, die den Hafendeal prinzipiell als den deutschen Interessen schadend ablehnen. Das Beharren des Kanzlers war in Anbetracht der begründeten Bedenken der an dem Genehmigungsverfahren beteiligten Ministerien kaum nachvollziehbar und muss in China als ein Triumph gefeiert und als Bestätigung verstanden worden sein, dass sich die größte Wirtschaf Europas dem wirtschaftlichen Druck Chinas ohne viel Gegenwehr beugt.
Cosco & Co. sind schon (fast) überall
Das ist nicht nur ein deutsches sondern auch ein europäisches Problem. Eine ganze Reihe anderer europäischer Staaten und Regierungen hat Cosco und anderen staatseigenen chinesischen Unternehmen Teile ihrer Häfen verkauft – aus Geldnot, Geldgier oder beidem. Irgendwo angesiedelt zwischen Fatalismus und Resignation weisen die Kritiker des sich immer weiter ausbreitenden Netzes chinesischer Beteiligungen an europäischen Häfen darauf hin, dass die Liste der Häfen in den kommenden Jahren noch länger werden wird: Cosco und die China Merchants Group (CMG) besitzen jetzt schon Anteile an Terminals in Antwerpen und Zeebrügge (Belgien), Montoir, Dunkirk, Le Havre, Nantes und Fos (alle Frankreich), Thessaloniki und Piräus (Griechenland), Marsaxlokk (Malta), Rotterdam (Niederlande), Bilbao (Spanien), Genua und Triest (Italien). 2016 kaufte Cosco einen Mehrheitsanteil (51 Prozent) des Hafens in Piräus, der im Oktober 2021 auf 67 Prozent erhöht wurde.
Cosco hat Beteiligungen in Häfen in 61 Ländern. Die Firma kontrolliert insgesamt 357 Terminals in Südostasien, im Nahen Osten und Europa. CMG hat in 68 Häfen in 27 Ländern investiert. Über 80 Prozent der von China kontrollierten Terminals gehören Cosco, China Merchants Group (CMG) und der CK Hutchison Holding. CMG ist wie Cosco ein staatseigenes Unternehmen, während CK Hutchison ein Privatunternehmen ist, mit engen Beziehungen zur Zentralregierung in Peking.
Chinaexperten warnen seit Jahren davor, dass chinesische Investitionen in Häfen Teil von Chinas globaler geopolitischer und geostrategischer Politik sind. „Investitionen in Häfen in strategisch wichtigen Regionen erlauben China nicht nur, Einfluss in dem Land auszuüben, in dem es investiert hat, sondern auch in den Nachbarstaaten“, sagt Graig Singleton von der Foundation for Defense of Democracies (FDD) in Washington in einem Interview mit Voice of America (VOA). Einfluss, der nach Ansicht von James R. Holmes, Inhaber des J.C. Wylie Maritime Strategy Lehrstuhls am U.S. Naval War College in Rhode lsland, Regierungen dazu zwingen könne, mehr und mehr dem politischen Druck der KP Chinas nachzugeben. „Seehäfen sind daher wichtige Instrumente zur Ausweitung von Chinas kommerziellem, diplomatischem und politischem Einfluss“, warnt er.
Kein Wandel durch Handel
Denjenigen, die immer noch davor warnen, dass weniger Investitionen in und Handel mit China zu weniger Einfluss auf chinesische Innen-und Außenpolitik führt, scheinen vergessen zu haben, dass dieser vermeintliche Einfluss seit jeher – und ganz besonders seit 2012 und der Machtübernahme Xi Jinpings in China – nicht existiert hat. Das deutsche Mantra „Wandel durch Handel“, die Hoffnung also, dass das wirtschaftliche Einbinden Chinas durch sich intensivierende Handels- und Wirtschaftsbeziehungen die chinesische Diktatur auf lange Sicht in eine Demokratie „verwandelt“ (wie es in Südkorea in den 1980er- und Taiwan in den 1990er-Jahren der Fall war), war immer eine Illusion – allerdings eine, gegen die sich besonders die von Angela Merkel geführte deutsche Regierung jahrelang wider besseren Wissens widersetzt hat.
Dass Handel mit China letztendlich zur Demokratisierung Chinas führen könne, war auch deswegen unglaubwürdig, weil es in erster Linie Staatskonzerne der KP waren (und weiterhin sind), die von steigenden Exporten nach Deutschland und in den Rest der Welt profitieren. Zudem darf davon ausgegangen werden, dass auch diejenigen Politiker und Unternehmer, die sich nur oberflächlich über chinesische Innen- und Außenpolitik informiert haben, verstanden haben müssten, dass Demokratisierung in jedweder Form in dem von Xi Jinping seit 2012 regierten China nirgendwo auf der politischen Tagesordnung zu finden ist. Was über all die Jahre hätte misstrauisch machen müssen, aber im Eifer des Gefechts um den Zugang zu den Märkten in China weitestgehend ignoriert beziehungsweise gutgeheißen wurde, ist die Tatsache, dass die chinesische Führung unter Xi Jinping wie auch unter seinem Vorgänger Hu Jintao Angela Merkel mehr als einmal zum Vorbild pragmatischer und ergebnisausgerichteter europäischer Chinapolitik hochstilisierten.
Multinationale Einknicker
In China investierende deutsche und europäische Unternehmer haben über Jahre und Jahrzehnte die Haltung kultiviert, dass der Schutz der Menschenrechte und das Einhalten von Arbeitsschutzgesetzen in China sie nichts angehe. Im Gegenteil: Im Februar 2018 beispielsweise sah sich der deutsche Autobauer Mercedes-Benz gezwungen, sich bei der chinesischen Regierung dafür zu entschuldigen, in einem auf Instagram geposteten Foto den Dalai-Lama zitiert zu haben.
Die Entschuldigung ließ nicht lange auf sich warten und erfolgte, nachdem sich die chinesische Regierung und Teile der chinesischen Internetgemeinde (die eigentlich keinen Zugang zu dem in China blockierten Instagram hat) darüber beschwert hatte, dass das Foto des Dalai-Lama, abgebildet neben einem Mercedes Coupé, die territoriale Integrität Chinas in Frage stelle. „Betrachte die Lage von allen Seiten, und Du wirst offener werden“, wurde der Dalai-Lama von Mercedes zitiert, was in Pekings Ohren hinreichend „separatistisch“ geklungen haben muss, um den deutschen Autobauer zur Selbstzensur zu motivieren.
Der Post wurde seinerzeit gelöscht, und in Anbetracht der Wichtigkeit Chinas als Absatzmarkt für Daimler entschuldigte sich der Konzern bei Peking in aller Form für den vermeintlichen Fehler. Auch die Lufthansa beugte sich 2018 chinesischem Druck, als sie sich von Peking daran „erinnern“ ließ, dass Taiwan ein vermeintlich untrennbarer Teil Chinas sei.
Nachdem die Civil Aviation Administration of China (CAAC) internationale Fluglinien angewiesen hatte, auf ihren Flugplänen und Internetseiten sicherzustellen, dass Taiwan unzweideutig als ein Teil Chinas identifiziert wird, gehorchte die Lufthansa unverzüglich. Seitdem kann man einen Lufthansaflug von Frankfurt nach Taipei nach „Taiwan, China“ buchen. Die Lufthansa war seinerzeit nicht die einzige internationale Airline, die sich Nachhilfeunterricht in Linguistik, Semantik und Zensur hat geben lassen. Auch British Airways gehorchte der chinesischen Zensur unverzüglich und ohne Widerrede.
Deutschland beziehungsweise deutsche Unternehmen produzieren und verkaufen in China mittlerweile so viel, dass sich zahlreiche Branchen abhängig und erpressbar gemacht haben. China ist Deutschlands größter Handelspartner, das bilaterale Handelsvolumen (Importe und Exporte) belief sich im Jahr 2021 auf 245 Milliarden Euro, fünf Mal so viel wie noch im Jahr 2005. Deutschland ist außerdem unter anderem bei Importen von Computerchips, Solarpaneln und seltenen Erden, wie andere Staaten auch, von China abhängig. 2021 verkaufte Volkswagen zwei von fünf Autos in China, und 14 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen wurden in China getätigt.
Die Investitionen von vier deutschen Unternehmen – Mercedes-Benz, BMW, Volkswagen und BASF – machten zirka ein Drittel der Gesamtinvestitionen aus der EU aus. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 investierten deutsche Unternehmen zirka 10 Milliarden Euro in China. Der Chemiekonzern BASF, in China vertreten von Jörg Wuttke, Vorsitzender der EU-Handelskammer in Peking, plant außerdem, in den nächsten Jahren weitere 10 Milliarden Euro in China zu investieren. Um der vermeintlichen wirtschaftlichen Abhängigkeit Deutschlands von China nicht die vermeintliche Dramatik zu nehmen, erwähnen deutsche Wirtschaftsbosse in der Regel dann eher daher lieber nicht, dass China mindestens genauso abhängig ist von Deutschland und Europa wie anders herum.
Schlussfolgerungen
Russlands Überfall auf die Ukraine und die Versuche Moskaus, Europa und Deutschland energiepolitisch zu erpressen, sollten auch die letzten „Chinaversteher“ davon überzeugt haben, dass wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeiten von Diktaturen zu vermeiden sind. Diktaturen sind nur dann dazu bereit, sich politisch einbinden zu lassen, wenn sie von der Staatspleite und/oder von Hungersnöten und humanitären Krisen bedroht sind.
China ist eine Diktatur, aber alles andere als in Geldnöten, was den Schluss zulässt, dass jedwede europäische Kritik an der Menschenrechtslage und der Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten in Peking auch weiterhin auf taube Ohren stoßen und als unerwünschte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas ignoriert werden wird.
Die deutsche Chinapolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte war naiv und, wie oben beschrieben, letztendlich kontraproduktiv. Oder besser gesagt: Sie waren politisch kontraproduktiv wegen der (verschwendeten) Zeit und Ressourcen, die Berlin über die Jahre in die Illusion investiert hat, dass man China politisch einbinden könne. Wirtschaftlich hingegen hat sich die deutsche Chinapolitik der vergangenen Jahrzehnte buchstäblich bezahlt gemacht, und deutsche Konzerne machen in China weiterhin prächtige Geschäfte.
Damit das auch so bleibt, werden die in China investierenden deutschen Unternehmen aller Voraussicht nach auch in Zukunft Chinas Staatsführung vor allzu viel deutscher Kritik an ihrer oppressiven Innen- und aggressiven Außenpolitik schützen. Wenn in der Vergangenheit doch ab und an (aber ganz vorsichtig) auch etwas zur Menschenrechtslage und/oder der systematischen und durch Technologie perfektionierten Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in China gesagt wurde, fielen diese Beiträge nicht nur sehr kurz aus, sondern trafen auch auf taube Ohren in Peking.
Vielleicht ändert ja Chinas umstrittene Teilübernahme eines Containerterminals im Hamburger Hafen im Sinne von „Wandel durch Handel“ etwas daran. Wahrscheinlich ist es aber doch eher nicht. Geschäft geht übers Prinzip, leider offensichtlich besonders das mit China.
Zitierweise: Axel Berkofsky, „Deutschlands Chinapolitik – schwach angefangen und stark nachgelassen“, in: Deutschland Archiv, 15.12.2022, Link: www.bpb.de/516236. Alle hier veröffentlichten und zitierten Texte sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Weitere DA-Beiträge über Deutschland und China von Axel Berkofsky:
ist Associate Professor an der Universität Pavia in Italien und Co-Direktor des Asienprogramms am Mailänder Istituto per gli Studi di Politica Internazionale (ISPI). Er ist profilierter Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die deutsch-chinesischen Beziehungen, insbesondere auch zwischen der DDR und China bis 1990.
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