„Wie ein Film in Zeitlupe“
Deutsch-deutsche-Geschichte vermitteln, aber wie? Teil I: Comics.
Thomas Henseler
/ 14 Minuten zu lesen
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Erfahrungen und Chancen in der Jugendbildung, hier am Beispiel einer Comicreihe von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler. Dies ist der Start einer neuen Serie des Deutschlandarchivs mit Erfahrungsberichten politischer BildnerInnen unterschiedlichster Prägung, wie es kreativ gelingen kann, Aufmerksamket für den Lernstoff "DDR" und "BRD" zu gewinnen.
Als ich Ende der 1990er-Jahre mit meiner Partnerin Susanne Buddenberg aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin gezogen bin, um gemeinsam an der Filmhochschule in Potsdam zu studieren, war Berlin eine aufregende, pulsierende Stadt. Der Mauerfall war gerade einmal zehn Jahre her, und wir fanden eine Wohnung unweit der Bernauer Straße. Hier gab es noch ein Stück Mauerrest, der eine ungefähre Ahnung davon vermittelte, was es hieß, in einer ehemals geteilten Stadt zu leben.
Doch mittlerweile machten Touristen davor Selfies, auf dem ehemaligen Todesstreifen wucherte Gras und Jugendliche feierten dort Partys. Die Befestigungsreste der SED-Diktatur waren zwar noch sichtbar, doch hatten sie ihre Bedrohlichkeit verloren. Jeder Stein, jedes Haus in der Nachbarschaft war ein stummer Zeuge der Geschichte, doch wir kannten ihre Geschichten nicht. Wir hatten keine Ahnung davon, wie es sich angefühlt haben musste, in einer Diktatur zu leben.
Nach der Filmhochschule arbeitete ich als Storyboarder für verschiedene TV-Produktionen, die die DDR zum Inhalt hatten, und konnte mich so weiter in die Thematik einarbeiten. Aber selbst für den Comic war die DDR-Geschichte Neuland. Die NS-Diktatur wurde im Comic schon ausführlich behandelt und gipfelte 1992 in Art Spiegelmans Graphic Novel „Maus“, in der er die Geschichte seines Vaters während des Holocausts aufzeichnete. Flix widmete sich 2009 erstmals mit „Da war mal was“ Erzählungen aus dem geteilten Deutschland. Simon Schwartz erzählte in „Drüben!“ (ebenfalls 2009) über die schwierige Ausreise seiner Eltern aus der DDR.
Die Zeit schien nun reif für einen eigenen Comic über die SED-Diktatur. Der Kampf einzelner mutiger Helden gegen einen übermächtigen Unterdrückungsapparat ist eine universelle Geschichte. Unsere Zielgruppen sollten Schüler*innen und Jugendliche werden, die die DDR selber nicht miterlebt hatten. Die Protagonist*innen sollten ebenfalls Schüler*innen oder junge Erwachsene sein, mit denen sich die Leserschaft identifizieren konnte. So lag es nahe, Geschichten zu finden, die ihren Lebenswelten entsprachen – und sich zeichnerisch anschaulich darstellen ließen.
In den Geschichten, die wir entwickelten, geht es um Geburtstagsfeiern, Rockkonzerte, um Konflikte mit der Polizei und Autoritäten, erste Liebe, um Anderssein, Mobbing, Bespitzelung und Verrat, aber auch um unerwartete Solidarität, darum, etwas Verbotenes zu tun, aber auch durch Verbote etwas nicht tun zu können.
In unseren Comics konnten wir zudem eine Parallelwelt präsentieren, wo die Realität der heutigen jungen Generation auf den Kopf gestellt wird: In der DDR durfte ich nicht frei meine Meinung sagen; ich konnte nicht dahin in die Ferien fahren, wohin ich wollte; ich durfte von einem Tag auf den anderen nicht mehr meine Freunde und Verwandten im anderen Teil der Stadt besuchen; wenn ich studieren wollte, musste ich vorher zum Militär; es konnte gefährlich sein, Witze über das Staatsoberhaupt zu reißen.
Da Schule ja der Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche die meiste Zeit verbringen, kommt der Schulerzählung in unseren Büchern eine besondere Bedeutung zu. Die Konflikte zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen sind ja immer auch ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft.
Der Vorteil von Comics, genauso wie von Filmen, ist, dass ich mich direkt im Geschehen befinde. Ich habe keine strategische Perspektive, sondern bin ganz nah bei den Emotionen der Akteure. Selbst wenn ich den Text noch nicht gelesen habe, wenn ich die Sprache nicht spreche, bekomme ich schon beim Durchblättern eine Ahnung von der Zeit, vom Handlungsort. Wer sind die Hauptfiguren? Wer sind die Gegenspieler und wie sind die Befindlichkeiten? Anhand der Gesichtsausdrücke und der Körpersprache kann ich die Charaktere gut einordnen.
Als wir auf die Biografie von Peter Grimm stießen, hatten wir eine ideale Vorlage für unsere erste Graphic Novel „Grenzfall“ (2011), eine 100 Seiten lange, durchgängige Geschichte: Ein Schüler, der 1982 in Ostberlin gegen die Meinungsdiktatur rebelliert, Gleichgesinnte in der Familie Robert Havemanns findet, seine Freunde nicht an die Stasi verraten will, kurz vor dem Abitur von der Schule fliegt und zusammen mit Freunden die illegale Zeitung Grenzfall herausgibt, die unzensiert über gesellschaftliche Probleme berichtet, die die Regierung verschweigen möchte. Die Staatssicherheit zieht daraufhin alle Register ihres Überwachungsapparats, um den Grenzfall zu stoppen.
Zudem hatten wir das große Glück, dass wir in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einen aufgeschlossenen Projektförderer fanden. Die Stiftung unterstützte auch alle unsere weiteren Projekte. Da die Produktionszeit der Comics circa ein bis zwei Jahre dauert, ist eine finanzielle Förderung essenziell. Ohne die Stiftung hätten wir unsere Comics nicht realisieren können.
Wir wollten so dokumentarisch wie möglich sein, den beteiligten Personen gerecht werden, und unsere Comics sollten auch im Schulunterricht Verwendung finden können. Dieses Anliegen funktioniert mittlerweile recht gut: Bei Lesungen für Schulklassen projizieren wir ausgewählte Panels per Beamer und lesen dazu aus unserem Drehbuch vor. Denn bevor wir zu zeichnen anfangen, beschreiben wir die einzelnen Bilder in einem Drehbuch, sodass man den Comic schon vor dem inneren Auge sehen kann.
Unsere Lesungen sind für die Schüler*innen wie ein Film in Zeitlupe, die einzelnen Bilder können in Ruhe betrachtet werden, durch die linearen Bildbeschreibungen im Drehbuch werden sie als Zuschauer*innen durch die Zeichnung geführt. Dadurch entsteht eine sehr konzentrierte Aufmerksamkeit in der Klasse, zumal die biografischen Geschichten wie Thriller aufgebaut sind. Die Zeichnungen nehmen die Schüler*innen anerkennend wahr, honorieren den ein- bis zweijährigen Arbeitsaufwand, der dahinter steckt, finden die verschiedenen Arbeitsprozesse von Drehbuch über Scribble, Vorzeichnung, Reinzeichnung, Graustufen/Farbe lehrreich und staunen immer, wenn sie im Making-of die Fotos sehen, die als Vorbilder für die gezeichneten Figuren dienten. Viele Schüler*innen lesen auch gerne Mangas. Dadurch sprechen wir eine ähnliche Bildsprache, und sie finden einen leichteren Zugang zum Thema.
Ein weiterer Zugang war didaktisches Material, das uns für „Grenzfall“ der Geschichtslehrer und Comicexperte René Mounajed entwickelte – es steht zum Download auf der Website des Verlages bereit. Dieses didaktische Material kann gut in die Unterrichtsinhalte eingebunden werden und trägt durch ergänzende Schilderung authentischer persönlicher Schicksale zur Vertiefung des Themas bei.
2.
DDR-Comic 2
Unser zweites Buch „Berlin-Geteilte Stadt“ (2012) war eine Weiterentwicklung des vorangegangenen. Bei der Arbeit an „Grenzfall“ hatten wir die Entdeckung gemacht, dass Geschichte sich buchstäblich in die Architektur einschreibt: In der Zionskirche waren wir auf Spuren eines Protest-Transparents gestoßen, das 20 Jahre zuvor dort gemalt worden war. Die aufgetragene Farbe der einzelnen Buchstaben hatte sich auf dem Fußboden abgedrückt und ist dort immer noch zu finden. Dies nahmen wir zum Anlass, nach Geschichten zu suchen, die an weiteren Orten spielten, die sich seit dem Mauerfall nicht sonderlich verändert haben, sodass Lesende anhand der heutigen Architektur die damaligen Ereignisse noch gut nachvollziehen können.
„Berlin-Geteilte Stadt“ kann so auch als Reiseführer verwendet werden, der an die Original-Schauplätze der Geschichten führt: An den Bahnhof Friedrichstraße, an die Bernauer Straße, die Wilhelmstraße, ans Brandenburger Tor und an den ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße. So könnte man sich beispielsweise mit dem „Berlin“-Buch zum Bundesministerium der Finanzen (BMF) begeben, die Geschichte der Familie Holzapfel aufschlagen, die gezeichneten und realen Gebäudeansichten miteinander vergleichen, um die Flucht der Familie im Juli 1965 mit einer selbst gebauten Seilbahn vom damaligen Haus der Ministerien über die Mauer in den Westteil der Stadt nachvollziehen zu können. Wir wollten, dass die Leser*innen durch die größtenteils unveränderte Architektur eine Brücke zur Vergangenheit und den damaligen Ereignissen bekommen, damit dies auch für ein jüngeres Publikum nachvollziehbar und erlebbar wird. Dies erkannte auch das BMF, weshalb seit 2015 unsere gezeichnete Fluchtgeschichte der Familie Holzapfel als Dauerausstellung im Außenbereich des monumentalen Gebäudekomplexes hängt (siehe Titelfoto) .
Anhand von fünf Geschichten realer Personen wollten wir den Mauerbau und das Leben hinter der Mauer bis zum Mauerfall illustrieren: Eine junge Frau versucht, mit einem falschen Ausweis die DDR zu verlassen. Ein Flüchtling wird an der Grenze erschossen, ohne dass Rettungskräfte ihm helfen können. Eine ganze Familie versteckt sich in einem DDR-Regierungsgebäude und hofft, von hier aus in den Westen zu entkommen. Ein junger Mann fotografiert heimlich die Grenzanlagen und gerät in die Fänge der Staatssicherheit. Ein Ostberliner Schüler erkundet nachts Westberlin und feiert die Party seines Lebens.
Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es eine von Historiker*innen verfasste zeitgeschichtliche Einordnung der einzelnen Geschichten, um größere Zusammenhänge deutlich zu machen. Mit einer durchschnittlichen Länge von 15 Seiten können wir den Schüler*innen während einer Lesung nun eine komplette Geschichte von Anfang bis Ende präsentieren. Die Veranstaltung hat eine Länge von 45 bis 90 Minuten, was den gewohnten Schulstunden entspricht.
3.
Unser drittes Projekt heißt „Geschichte im Untergrund: Tunnel 57“. Helfer aus dem Westen gruben unter der Bernauer Straße einen Fluchttunnel nach Ostberlin und verhalfen 57 Menschen zur Freiheit. Die Aktion dauerte zwei Tage und endete dramatisch mit dem Tod eines Grenzsoldaten. Unser Comic zum Tunnel 57 war zunächst als Ausstellung im öffentlichen Raum konzipiert: Ganz in der Nähe zum realen Handlungsort zeigten wir im U-Bahnhof Bernauer Straße von Oktober bis Dezember 2012 auf großformatigen Tafeln die Ereignisse der Fluchtaktion. Auf der einen Seite schilderten wir die Geschehnisse am ersten Tag, der glücklich endete, auf der gegenüberliegenden Seite die Entwicklung am zweiten Tag, der in eine Tragödie mündete.
Mit dieser sehr öffentlichkeitswirksamen Präsentation konnten wir ein breites Publikum erreichen: neben Schülern*innen auch Familien, Berufstätige, Rentner*innen und Touristen. Wir beobachteten, dass viele Nutzer*innen des öffentlichen Nahverkehrs, die aus der U-Bahn stiegen, positiv überrascht waren, im Bahnhof statt großformatiger Produkt-Werbetafeln nun eine Comic-Geschichte mit einer authentischen Fluchtaktion aus den 1960er-Jahren vorzufinden. Einige Fahrgäste schauten sich neugierig die Ausstellung an und fuhren dann erst mit dem nächsten Zug weiter.
Interessierte hatten zudem die Möglichkeit, auf dem nahe gelegenen Gelände der Mauergedenkstätte die Thematik weiter zu vertiefen, da es dort dauerhaft Informationen über diese Tunnelflucht gibt. Unser Comic fungierte so als Teaser und Door-Opener: Die Besucher mussten nicht erst in ein Museum gehen, um die Ausstellung zu sehen, die Ausstellung kam zu ihnen, ganz alltäglich, auf dem Weg zur Arbeit, ganz profan in einer U-Bahn-Station.
DDR-Comic 5 - Tunnel 57
Im Anschluss brachte die Stiftung Berliner Mauer ein Buch mit dem Titel „Tunnel 57 – eine Fluchtgeschichte als Comic“ heraus, in dem es Interviews mit uns Comicschaffenden gibt, aber auch Gespräche mit den Fluchthelfern und didaktisches Material, entwickelt von René Mounajed und Stefan Semel für Schüler*innen der Sekundarstufe I und II. Dadurch sollten die vorhandenen Kenntnisse im Unterricht zum Themenfeld „deutsch-deutsche Teilung, Mauerbau 1961 und Mauerfall 1989“ ergänzt und vertieft werden. Unter den Aufgabenstellungen finden sich analytische, produktive und kreative Formate. Die Themenfelder sind als Bausteine so konzipiert, dass in Abhängigkeit von Lerngruppe und Zeitrahmen auch nur einzelne Aufgaben herausgelöst und bearbeitet werden können.
In Kreuzberg besuchten wir eine Schule, die innerhalb eines Projektmonats unterschiedliche Formate auf der Grundlage des „Tunnel 57“ entwickeln sollte. So entstanden beispielsweise ein Comic, eine szenische Lesung und ein Hörspiel, welche die Schüler*innen selbst entwickelten. Wir alle waren vom Engagement, vom kreativen Output und von der frischen Herangehensweise der Schüler*innen ans Thema überrascht. Herr Neumann, unser Zeitzeuge, der damals in der DDR einer der hauptverantwortlichen Fluchthelfer war, meinte in der Abschlussdiskussion, dass es ihm gar nicht so wichtig sei, dass alles historisch exakt gezeichnet ist. Aber das Gefühl, die Emotion müsste stimmen: Wie haben sich die Flüchtlinge gefühlt, welche Beweggründe hatten sie, die DDR zu verlassen, wie sind die Fluchthelfer mit ihrer Verantwortung umgegangen? Das waren für ihn die entscheidenden Fragen, wenn man vergangene Geschichte(n) ins Heute überführt.
4.
Unser viertes Buch war „DDR-Geschichte zum Einkleben - Die Teilung Berlins in 8 Stationen“ (2015) . Marie, die Oma der Schüler*innen Lilly (10) und Jakob (8), wächst in Berlin auf. Als Kind erlebt sie das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Besetzung der Stadt und in den folgenden Jahren die Luftbrücke, den Mauerbau, den Alltag in der geteilten Stadt und die Überwachung durch die Stasi. Für die Biografie orientierten wir uns an der Lebensgeschichte einer Zeitzeugin, reicherten diese jedoch mit Erlebnissen anderer Zeitzeug*innen an, da der Zeitrahmen, den wir erzählen wollten, sehr lang war. Im Vorfeld hatten wir uns überlegt: Was bei Fußball-Sammelbildern funktioniert, könnte doch auch in der politischen Bildung klappen: das Sammeln von Stickerbildern zu einem bestimmten Thema. Bei uns sollten es Sammelbilder zu Exponaten in verschiedenen Gedenkstätten sein.
Die Grundidee war, ein Sammelalbum mit einer durchgehenden Hauptfigur zu entwickeln, wobei die Comic-Handlung sich an Themen von acht verschiedenen Gedenkstätten orientieren sollte. Auf einer Doppelseite wurden die beteiligten Gedenkstätten vorgestellt: das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, das Alliiertenmuseum, die Gedenkstätte Berliner Mauer, das DDR-Museum, der Tränenpalast, das Stasi-Museum, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Auf jeder Doppelseite gibt es sechs Bildfelder, in die die Sammelbildmotive einzukleben sind. Die Lesenden sollten aber nur in den Gedenkstätten selbst die jeweiligen Sammelbilder bekommen, um ihr Album zu komplettieren. So wollten wir die Käufer*innen des Albums dazu bewegen, in die Museen zu gehen, um wie bei einer Schnitzeljagd nach der gezeichneten Sammelbild-Vorlage die Original-Ausstellungsstücke zu suchen. Die Lesenden sollten zu Besucher*innen werden und hätten so wahrscheinlich auch die Ausstellungen aufmerksamer wahrgenommen.
Tatsächlich hatten wir den Eifer vieler Leserinnen und Leser dabei aber überschätzt. Zudem nahm eine der Gedenkstätten das Buch relativ kurzfristig wieder aus dem Programm, sodass es keine Möglichkeit mehr für Sammler*innen gab, ihr Buch zu komplettieren. So wurde die Möglichkeit geschaffen, die Aufkleber auch von der Website des Verlages herunterzuladen und selbst auszudrucken. Trotzdem war dieser Aufwand für die meisten Lesenden zu hoch. Wir hatten zunächst gehofft, dass es gemeinsame Aktionen der beteiligten Gedenkstätten geben würde, das Buch zu bewerben. Wir hätten uns auch vorstellen können, an den unterschiedlichen Erinnerungsorten jeweils aus dem passenden Kapitel vor Schulklassen vorzulesen. Man hätte auch eine Rundtour mit Bussen von Station zu Station organisieren können – das alles blieben aber Wunschträume von uns. 2021 haben wir uns entschlossen, die Aufkleber nachzudrucken und mit ins Buch einzulegen. Jetzt muss niemand mehr alle Orte besuchen, um sein Album zu vervollständigen. Nach wie vor sind wir aber von der Idee überzeugt und denken, dass es vor allem für Berlin-Touristen oder für Klassenfahrten interessant sein könnte, einen spielerischen Reiseführer zur Teilungsgeschichte Berlins mittels Aufklebern mit Wissen zu füllen.
5.
DDR-Comic 7 - Meine freie deutsche Jugend
2020 erschien unser fünftes und bisher umfangreichstes Buch: „Meine freie deutsche Jugend“, nach dem Bestseller von Claudia Rusch. Claudia (*1971) wächst in der DDR-Bürgerrechtsbewegung auf. Zu den engsten Freunden ihrer Mutter gehören bekannte Regimekritiker. Die Familie lebt unter ständigen Repressalien und Überwachung durch die Stasi. Claudia erfährt, was es heißt, einem exklusiven Club anzugehören, obwohl sie manchmal gern wie alle anderen wäre. Sie erlebt Ausgrenzung und Eingesperrtsein, aber auch Freundschaft und Solidarität. Es geht um die erste Liebe, mutige Aktionen und um das Erwachsenwerden im Schatten der Mauer. Da viele Geschichten in Claudias Buch, mit der wir bei der Comic-Adaption eng zusammenarbeiteten, aus einer kindlichen Perspektive geschildert sind, griffen wir hier auf einen sehr expressiven, cartoonigen Zeichenstil zurück, der mit der extrovertierten Persönlichkeit der Hauptfigur korrespondiert.
Auch hier ging es nicht darum, die Orte oder die Personen möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen. Realistische Figuren wirken durch die Limitierung der Anatomie manchmal recht steif. Hier konnten wir die Figuren aber durch die Überzeichnung sehr lebendig und agil wirken lassen, um damit auch die Emotionen möglichst deutlich zu visualisieren. Die Arbeit an dem Buch hat sehr viel Spaß gemacht, weil es zum einen, neben aller Tragik, ein selten komisches Buch über die DDR ist. Zum anderen, weil es auch einen comicspezifischen Humor hat, der besonders auch der jüngeren Zielgruppe entgegenkommt. Zudem haben wir hier zu unserer filmischen Arbeitsweise auch grafisch aus dem Vollen geschöpft, mit doppelseitigen Splash-Panels, mit bildlichen Metaphern, Symbolen, reinen Bild-Sequenzen ohne Text, typografischen Spielereien und farbigen Leitmotiven. Auch hier sind die Beweggründe der Hauptfigur gut nachzuvollziehen und in ihrer Zeitlosigkeit universell.
Die extrovertierte Hauptfigur Claudia im Comic "Meine Freie Deutsche Jugend" von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler.
Mit einer Schule aus Strasbourg gestalten wir schon seit Jahren Workshops in der Gedenkstätte Berliner Mauer. Die französischen Schüler*innen haben die Gelegenheit, bei gemeinsamen Lesungen mit Claudia Rusch diese persönlich zu befragen. Als Zeitzeugin kann sie die historischen Zusammenhänge aus einer Insider-Perspektive erläutern. Gemeinsame Veranstaltungen mit Zeitzeug*innen hinterlassen einen bleibenden Eindruck, weil sie lebendige Geschichte sind. Da Claudia Rusch sehr gut Französisch spricht, was auch ein Kapitel im Comic illustriert, ist das Frankophile für alle Teilnehmenden ein Genuss.
Zwischen unserem fünften und sechsten Buch erschien 2021 zum 60. Jahrestag des Mauerbaus unser Comic-Band „Grenzlinien-Auswege aus der DDR“, den wir zusammen mit Birgit Weyhe und Ulla Loge statt eines begleitenden Ausstellungskatalogs für die Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam gestaltet haben .
DDR-Comic 8 Grenzlinien
Von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung finanziert und kostenlos an Besucher ausgegeben, enthält der Comic drei reale Geschichten von Menschen aus drei Jahrzehnten, die in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt einsaßen. Auch hierzu gibt es didaktisches Material. Eine Besonderheit im Buch ist, dass die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den Kapiteln in Form von Sketchnotes dargestellt werden.
Sketchnotes sind eine Mischung aus Skizzen, Zeichnungen und Notizen, die, auf das Wesentliche reduziert, Zusammenhänge veranschaulichen. So wird beispielsweise nach dem ersten Kapitel die deutsche Teilung und der Aufbau des Sozialismus unterhaltsam visualisiert, Fakten und Zahlen werden plakativ veranschaulicht.(Abb 10) Wenn diese Sketchnotes beispielsweise in Form von Handouts oder Postern ausgegeben würden, könnten sie für Schüler*innen eine große Lernhilfe sein, da unser Gehirn sich besonders gut an Bilder erinnern kann.
6.
Im November 2022 ist unser neuestes und sechstes Buch über die Geschichte Berlins erschienen, mit dem Titel „Das Haus, das in einem anderen Land stand“. Hier geht es um fünf Lebensgeschichten von Bewohnern eines Mietshauses innerhalb von sieben Jahrzehnten.
Mit unseren mittlerweile sieben Comic-Büchern und zahlreichen Workshops in Schulen und Bibliotheken haben wir versucht, Schüler*innen zu veranschaulichen, was es heißt, in einer Diktatur aufzuwachsen.
In Diskussionen nach unseren Lesungen haben Schüler*innen oft berichtet, dass es in ihrer eigenen Familie ähnliche Lebensgeschichten gab wie die, die sie gerade im Comic gesehen und gehört hatten: „Ja, mein Opa hatte auch einen Ausreiseantrag gestellt!“ oder „Meine Oma war auch auf den Montagsdemonstrationen!“ An die dramatisch inszenierte und visualisierte Zeitzeugengeschichte in Comicform können sie oft mit ihrer eigenen Familienbiografie anknüpfen, die sie vielleicht vorher gar nicht als etwas Besonderes empfunden haben. So wird ihre eigene Geschichte Teil einer größeren Geschichte.
Sketchnotes aus dem Comic "Grenzlinien" von Thomas Henseler und Susanne Buddenberg.
Unsere Comics sind auf diese Weise auch eine Brücke zwischen den Generationen: Die eigenen, altbekannten und oft gehörten Familiengeschichten werden aufgewertet.
Die Geschichten in unseren Graphic-Novels fordern die Schüler*innen zu einer eigenen, reflektierenden Haltung heraus: Wie hätte ich mich nach dem Mauerbau verhalten, wenn ich zwar im Osten gewohnt, aber im Westen zur Schule gegangen wäre? Wäre ich in der DDR geblieben oder hätte ich versucht, in den Westen zu gehen, mit der Konsequenz einer ungewissen Zukunft, der Aussicht die eigene Familie auf Jahre hinaus nicht wiederzusehen? Wie sehr bin ich bereit, mich anzupassen, und wann, unter welchen Umständen bin ich bereit, sogar mein Leben für die Freiheit aufs Spiel zu setzen?
Diese Frageräume entstehen automatisch bei der Lektüre der Comics, die unterschiedliche Konsequenzen der Entscheidungsfindungen aufzeigen. Die Comics können nur eine Ahnung vom manchmal jahrelangen, zermürbenden Kampf gegen die Diktatur vermitteln. Bei vielen unserer Zeitzeug*innen hatten wir jedoch den Eindruck, dass sie heute wieder genauso handeln würden. Diese Unbeugsamkeit sorgt nicht nur bei uns Chronist*innen für große Hochachtung, sondern augenscheinlich auch bei vielen unserer Lesenden, die sich durchaus empfänglich für die Vermittlung von politischen Inhalten in Comicform zeigen, wenn man die gespannte Stille bei unseren Lesungen und die interessierten Fragen danach als Gradmesser nimmt.
Zitierweise: Thomas Henseler, „Wie ein Film in Zeitlupe“ - Deutsch-deutsche Geschichte im Comic, in: Deutschland Archiv, 02.12.2022, Link: www.bpb.de/515949.
Ergänzend zum Thema:
Weitere Erfahrungen von Comic-ZeichnerInnen, die DDR-Alltag für Jugendliche veranschaulichen möchten: "Externer Link: Die DDR im Trickfilm", von Tommy Schwarwel, Deutschlandarchiv, 20.1.2020.
Thomas Henseler studierte Design an der Fachhochschule Aachen mit dem Schwerpunkt Illustration und Film an der Hochschule für Film- und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. Zusammen mit Susanne Buddenberg gründete er das Studio "Zoom und Tinte" und spezialisierte sich auf Film und Illustration, insbesondere von Projekten zur Geschichtsvermittlung von Themen der deutschen Teilung. Das Duo arbeitet in den Bereichen Comics, Illustration und Storyboards. Parallel dazu unterrichten sie im Bereich Game-Design und geben Workshops in Schulen.
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