Fußball mit und ohne Seele
Katar, Fußballkommerz und das Ende vom DDR-Fußball. Ein Essay & ein Interview.
Anne HahnFrank Willmann
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Nicht nur über das frühe Ausscheiden der Männer-Nationalelf bei der WM 2022 stöhnen deutsche Fußballfans, oder über Katar als WM-Ausrichter und die Kommerzialisierung des Fußballsports durch die FIFA. In Ostdeutschland ist aber nach wie vor auch ein Thema, wie nach dem Mauerfall vor über 33 Jahren der Ostfußball scheiterte und die "Geldwerte" des Westfußballs übergestülpt bekam. Mit Folgen bis heute. Das beschreiben die beiden bpb-FußballbuchautorInnen Anne Hahn und Frank Willmann in einem Essay und in einem ergänzenden aktuellen Videointerview.
Um gleich zur Sache zu kommen. In diesem Beitrag geht es zunächst nicht um den Zustand der aktuellen deutschen Elf, um die umstrittene WM in Katar 2022 oder die FIFA, erst im nachfolgenden Externer Link: Video-Interview. Wohl aber geht es auch um die grenzenlose Kommerzialisierung des Fußballsports aus einem anderen Blickwinkel. Und zwar in Deutschland nach dem Mauerfall im Zuge der Wiedervereinigung.
Denn drastisch gesagt: Gemeinsam mit der DDR-Industrie wurde ab 1990 auch der Ost-Fußball plattgemacht. Damit war der Schlusspunkt unter die sportliche Geschichte des Fußballs in der DDR gesetzt – sie bleibt eine Geschichte des Scheiterns.
In dieser Geschichte gab es einige Achtungserfolge, allen voran das 1:0 der DDR-Nationalmannschaft gegen den "Klassenfeind" Bundesrepublik, ausgerechnet bei der WM 1974 in Deutschland-West. Jürgen Sparwasser schoss das einzige Tor des Spiels, welches man zurecht als Jahrhunderttor feierte. Bei den Olympischen Spielen gelang es der DDR 1964 und 1972, die Bronzemedaille zu holen, 1976 wurde sie in Montreal sogar Olympiasieger, allerdings waren die westlichen Staaten gar nicht angetreten, weshalb der Olympiasieg wenig über den damaligen Leistungsstand der DDR-Mannschaft innerhalb des Weltfußballs aussagte. Im Clubfußball gab’s für die Ostkicker nichts zu holen. Der 1. FC Magdeburg gewann zwar 1974 den Pokal der Pokalsieger gegen den großen AC Milan, das war’s auch schon an Herrlichkeit.
Die DDR-Sportfunktionäre versuchten einiges, um das Niveau zu heben. Ab 1965 beschloss man die Gründung von zehn Fußballclubs, die innerhalb weniger Monate gebildet wurden, zusätzlich existierte die ab den späten 1960er Jahren ähnlich einem Fußballclub geförderte SG Dynamo Dresden. Ab Anfang der 1970er Jahre errichtete der DFV (Deutscher Fußball Verband) Trainingszentren und die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) bei den Fußballclubs. Die Spitzenfußballer der DDR-Oberliga waren im Prinzip privilegierte Vollprofis. Ihre Gehälter übernahmen Großbetriebe, Ministerien oder staatliche Einrichtungen. Neben den offiziellen Gehältern floss unter der Hand viel Geld an die Spieler, herausragende Kicker wurden gern mit Haushälften, Autos und Urlaubsreisen geworben und belohnt – und gleichzeitig am Gängelband gehalten, zu politischen Stellungnahmen genötigt. Individualisten beäugte man kritisch, es galt das Prinzip des Kollektivismus.
Die DDR hatte offiziell zwei Seiten, eine schöne und eine sehr schöne
Natürlich geiferten die Funktionäre gegen die Bonner Revanchisten und prangerten das unmenschliche Profitum in der Bundesrepublik an, bei paralleler Bevorzugung des jeweils eigenen Clubs. Stadien im Osten wurden teilweise sportfremd nach politisch-historischen Persönlichkeiten benannt und Parolen darin plakatiert. Die SED-Bezirksleitungen beeinflussten Spielertransfers, ganze Mannschaften wurden in andere Städte verpflanzt (Dynamo Dresden nach Berlin, Vorwärts Leipzig nach Berlin, später nach Frankfurt/O., BSG Empor Lauter nach Rostock), es kam laufend zu mutwilligen Umstrukturierungen und Umbenennungen der Clubs. Und auch zu einschüchternden Aktionen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
Zitat Wolfgang Schmidt, Auswerter und Analytiker beim MfS (Stadionpartisanen):
„Es gab auch beim BFC Fußballfanatiker, einschließlich Minister Mielke, mit denen konnte man sachlich über Fußball nicht diskutieren. Mielke war ein ganz wilder, Heinz Hoffman genauso, wenn es um Vorwärts Frankfurt/Oder ging. Wenn beide sich bei Fußballspielen trafen, kam man sich vor wie im Kindergarten. Man durfte in den Medien den BFC auch nicht mit der harmlosesten Kritik angreifen … Ich glaube, sechs Leute haben sich mit nichts anderem als dem BFC beschäftigt. Die haben sich aber weniger den Sicherheitsaufgaben zugewendet, als solchen Blödsinn zu machen, sich über den DFV in die Schiedsrichterauswahl zu mischen. Das hat uns berechtigt viel Ärger eingebracht.“
Fluktuation
Seitdem es zwei deutsche Staaten gab, gab es auch einen „Spielertransfer“ von Ost nach West. Die Fußballer gingen nicht nur aus politischen Gründen, sie wussten, dass sie im Westen eine ganz andere finanzielle Basis als Profifußballer haben würden. Hunderte von DDR-Spielern verließen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Bis zum Mauerbau war es relativ einfach, zu verschwinden. Union Oberschöneweide 06 verlor Anfang der 1950er Jahre eine ganze Mannschaft an den Westen, ebenso wie der Dresdner SC, als er seinen Namen nicht weiternutzen durfte. Mit dieser Mannschaft verabschiedete sich auch der spätere Bundestrainer Helmut Schön.
Ab dem Mauerbau 1961 wurde eine Flucht in den Westen komplizierter und war praktisch nur noch privilegierten Spielern aus DDR-Spitzenmannschaften möglich. Die Spieler setzten sich bei internationalen Spielen im westlichen Ausland oder in Jugoslawien ab. Geflüchtete Spieler bekamen im Westen ein Jahr Sperre, da der Weltfußballverband FIFA diesen Wechsel als illegal wertete – und zu Hause tobte Erich Mielke* (Minister des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und Protegé des BFC Dynamo).
Ende der 1980er Jahre verließen ausgerechnet sehr viele BFC- Spieler illegal die DDR. Ein prominentes Beispiel ist Lutz Eigendorf (einer der besten BFC-Spieler), der sich bei einem Spiel in Westdeutschland 1979 absetzte und 1983 bei einem Autounfall ums Leben kam. Für daraufhin geäußerte Vermutungen, dass die Stasi ihre Finger im Spiel gehabt hätte, gab es naheliegende Hinweise, aber schlussendlich keine BeweiseHeribert Schwan, Tod dem Verräter. Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf. München 2000.. Erfuhr die Stasi im Vorfeld von einer Fluchtabsicht, landete derjenige im Gefängnis, wie der Dresdener Spieler Gerd Weber und seine Mitwisser. Je populärer ein Überläufer war, desto härter wurde der Verrat geächtet, viele Spieler wurden in der Bundesrepublik vom MfS weiter „bearbeitet“.
*Es gibt eine Reihe von Tonbandaufnahmen, auf welchen Mielke geflüchteten Spielern den Tod wünschte, besonders, wenn es Spieler vom BFC oder von Dynamo Dresden waren. Das war für ihn Hochverrat.
Stadionpartisanen
Fußball spendet uns Zerstreuung vom Alltäglichen und ist Gruppentherapie. Der Fußballplatz ist ein Ort, wo man sehr konkrete und sehr abstrakte Ängste abbauen kann. Auf und neben dem Sportplatz ist Fußball zugleich Ausdruck von Gewalt und Repression. Das war auch in der kleinen DDR so. Neben der evangelischen Kirche bot nur die Anonymität in den Stadien die Möglichkeit, politischen Protest zu äußern. Unter der Oberfläche ausgedehnter Langeweile knisterte und brodelte es. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wurden Krawalle bei Fußballspielen in der DDR zum Problem. Die Staatsgewalt wurde in der Anonymität der Masse rund um das Fußball-Geschehen angegriffen. Mit wachsender Besorgnis registrierten die Behörden Massenschlägereien, Plünderungen von Geschäften und Zusammenrottungen Jugendlicher, beispielsweise in den grenznahen Stadtteilen Berlins.
Zitat Willy, Fan des BFC Dynamo (Stadionpartisanen):
„Manchmal sind wir schon zwei Tage vorm Auswärtsspiel mit dem Zug losgefahren. Ooch vor Langeweile, die Zone war derart langweilig. Ich glaube, ich habe nicht einmal eine Fahrkarte gelöst. Wenn der Schaffner kam, ist man im nächsten Bahnhof raus, um den Zug herumgerannt und am hintersten Ende wieder rin. Die Züge hielten damals in jedem Kaff. Die Trapo ist im Zug immer mit, aber die ham sich zurückgehalten. Die warn teilweise gut drauf, hatten das Arbeiten auch nicht erfunden. Durch dauerndes Umsteigen brauchte man bis Jena sieben Stunden. Man kannte ja den Spielplan, da sind wir mitunter in Leipzig oder Halle ausgestiegen und haben zum Beispiel auf Erfurter gelauert, die unterwegs zu Union waren. Leipzig war der zentrale Punkt, da kam fast jeder Fantroß vorbei auf dem Weg nach Nord oder Süd. Die Bullen haben nie richtig durchgesehen.“
Derbys der heißeren Art spielten sich in Leipzig und Berlin ab. Lok und Chemie Leipzig, BFC Dynamo und Union waren die größten Kampfhähne der Republik in ihrer eigenen Stadt. Es krachte regelmäßig bei Derbys und Pokalspielen. Frei nach der Regel: Der minder privilegierte Klub zog das Volk an, vermeintliche „Staatsfeinde" traten in der Masse auf, um ihr Mütchen zu kühlen. Jena und Erfurt lieferten sich heftige Schlachten, Halle und Magdeburg ebenfalls. In Aue, Zwickau und Karl-Marx-Stadt gab’s Haue. Nur wenn’s international zur Sache ging, wurden die Rivalitäten kurzeitig hintangestellt.
Zitat Max, Fan des Lok Leipzig (Mitten drin – Fußballfans in Deutschland):
„Zu DDR-Zeiten war die Stadt geteilt. Chemie hatte mehr Fans und mehr Sympathisanten, der ewig benachteiligte Arbeiterverein aus Leipzig-Leutzsch. Das war doch was in der DDR. Der Probstheidaer Fußball war schon vor dem Zweiten Weltkrieg bürgerlicher, seit 1963 dann auch der auserwählte, geförderte Klub in Leipzig. Bei Europa-Cup-Spielen hatte Lok oft ein großes Publikum, mehr als 100.000 gegen Bordeaux 1987, da gab es auch eine Gruppe Chemie-Fans im Stadion, die gehofft haben, dass Lok ins Finale kommt!“
Jedes Dorf hatte seinen Hauptfeind, meist den engsten regionalen Nachbarstamm. Dresden hasste Lok und umgekehrt. Nur den BFC Dynamo hassten alle. Als Dauermeister der 1980er Jahre mit Oberfan Stasi-Erich an der Spitze war auswärts keine Sympathie zu erwarten. Die BFC-Fans kehrten das folkloristische Element heraus, besangen „ihren Führer“ Erich Mielke und bewarfen die Sachsen hin und wieder mit begehrten und allein in Ostberlin erhältlichen Südfrüchten.
Das Fan-Volk brüllte sich die Kehle aus dem Leib und vermutete überall den privilegierten Hauptstädter. Als Provokation erklang nicht selten ein „Juden Berlin“ in den Stadien der DDR, bei den beliebten Flutlichtspielen sang Publikum mitunter Liedzeilen aus dem Repertoire des Nationalsozialismus. Der alltägliche Rassismus, gemischt mit einem fetten Schuss Homophobie, fand nahezu in allen Stadien statt.
Zitat Anhänger des 1. FC Magdeburg (Stadionpartisanen):
„Es gab Donnerstage, da legten die Männer über Nacht ihre Hände in Obstessig. Am nächsten Morgen war die Haut weich wie ein feuchter Lappen. Die Hools zogen sie ab bis auf das rohe Fleisch, um am Freitag nicht malochen zu müssen. Stattdessen fuhren sie mit ihrem BFC zum Auswärtsspiel, die dritte Halbzeit inklusive.“
Wo politischer Protest geäußert wurde, war in der DDR die Staatssicherheit nicht weit. Zur besseren Beobachtung und Zersetzung des „rowdyhaften“ Fangeschehens beim 1. FC Union wurde zunächst eine zweiköpfige Arbeitsgruppe des MfS gebildet. In einem Land, wo der Antifaschismus Staatsdoktrin war, hatte man das Hooligan-Problem lange nicht wahrhaben wollen. Das Phänomen einer jugendkulturellen Protesthaltung breitete sich in der gesamten DDR aus, die „Bearbeitung“ der Fanszene durch Mitarbeiter des MfS begann ebenfalls republikweit.
Zitat Harald Wittstock, hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS (Stadionpartisanen):
„Der Schwerpunkt unserer Abteilung lag beim Anhang des 1. FC Union, der wurde seit Anfang der 80er Jahre intensiv bearbeitet. Beim BFC war die Bearbeitung eher stiefmütterlich, es waren ja auch viele Kinder von Mitarbeitern im Anhang […] die Jungs hier hatten nichts zu verlieren. Es handelte sich um eine Gruppe von maximal 30 bis 50 Leuten. Das war keine homogene Gruppe, es sind immer welche dazukommen und welche abgesprungen. Der Kern waren 15 bis 20 Mann und die waren alle gleich gekleidet mit ihren Jeans und Aufnähern, dann ihre Spitznamen!“
Einzelne „Rowdys“ aus dem Anhang beider Berliner Fußballclubs wurden wegen banaler Straftaten zu Haftstrafen verurteilt und so willkürlich aus dem Fan-Umfeld entfernt. Sie hatten nach Verbüßung der Haftzeit harte Auflagen zu erfüllen, durften die Spiele ihres Vereins nicht besuchen oder mussten für einige Jahre in anderen Städten der DDR leben. Trotzdem nahmen die gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um den Fußball zu. Unter ständiger Beobachtung zu stehen, hieß gleichzeitig – es war immer ein Publikum anwesend. Das regte an, und der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Ein BFC-Fan gab beispielsweise gegenüber der Staatssicherheit zu Protokoll: „Unser Ziel ist es, immer etwas zu machen, womit keiner rechnet! Während eines Spiels baden zu gehen oder nach entsprechender Musik durch die Stadt zu tanzen. Oder, wie in Aue, ein Feuerwerk am hellerlichten Tag zu veranstalten …”
Zitat Wolfgang Schmidt, Auswerter und Analytiker beim MfS
„Mit dem Aufkommen der Skinheads gab es starke Veränderungen in der Fußballszene. […] Diese Erscheinungen waren immer Nachahmungen dessen, was die jungen Leute aus dem Westen mitbekamen … Da wurde jeder Blödsinn übernommen, bis hin zu denen, die dann in Särgen geschlafen haben. Da es in der DDR innere Spannungen und ungelöste Konflikte gab, fanden diese Dinge einen Nährboden. Die eigenständige Erarbeitung eines Weltbildes war verpönt. Belohnt wurde der Opportunismus, bestraft wurde das Aufmüpfigsein. Die DDR hatte offiziell zwei Seiten, eine schöne und eine sehr schöne. Alles andere wurde unter den Tisch gekehrt und hat uns im Grunde in unseren Untergang geführt.“
Die Stasi dokumentierte die ab Mitte der 1980er Jahre verstärkt auftretenden Äußerungen rechtsradikaler Provenienz unter dem Fußball-Anhang. Eine zielgerichtete strafrechtliche Verfolgung wurde nicht angewandt. Das änderte sich mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Skinheads nach einem Punkkonzert in der Berliner Zionskirche am 17. Oktober 1987. Bei dem Überfall wurden viele Jugendliche verletzt, unbeteiligte Passanten angegriffen und etliche Bürger Zeuge des Nichteingreifens von Seiten der Volkspolizei. Die für den Überfall dinghaft gemachten vier Skinheads wurden einige Wochen später zu Haftstrafen zwischen ein und zwei Jahren verurteilt, vor allem wegen starker Proteste aus der Bevölkerung erhöhte die Staatsanwaltschaft das Strafmaß kurz darauf auf bis zu vier Jahre. Mehrere der Verurteilten waren dem Anhang des BFC Dynamo zuzurechnen. Jetzt begann auch die Kriminalpolizei, sich für das Thema zu interessieren.
Zitat Wolfgang Schmidt, Auswerter und Analytiker beim MfS:
„Der Angriff der Skinheads auf die Zionskirche war für uns und die VP ein Signal, noch härter gegen rechte Gruppierungen vorzugehen. Uns waren 1987 DDR-weit etwa 1.000 Skinheads bekannt. Davon lebten 400 in Berlin. Viele davon gingen zum Fußball. Die meisten gingen zum BFC. Etwa 80 konnten wir namentlich zuordnen. Der BFC konnte sich seinen Anhang nicht selbst aussuchen. Ich weiß nicht, warum die Skinheads zum BFC gingen, vielleicht war es der halbmilitärische Charakter des Clubs. Militärisches zog ja solche Menschen an.“
Rechtsradikale wurden allgemein als „negativer Anhang von Fußballclubs“ wahrgenommen und verharmlost. Eine soziale Arbeit mit Fußball-Fans wurde nicht angestrebt, der Staat vertraute auf die üblichen Reglementierungen und kümmerte sich Ende der 1980er Jahre verstärkt um Punks, die erstarkende Friedensbewegung und die politische Opposition. Hools und Skins erschienen als das kleinere Problem. Willy, BFC Dynamo (Stadionpartisanen)
„Bei EC-Spielen ist selten was passiert. Mit Hamburgern ham wir Brüderschaft getrunken und mit dem Fanclub Rothenbaum Aufnäher getauscht. AS Roma war hier, hat Streit gesucht und ihn bekommen. Belgrad auch. Da hat’s richtig geknallt. Die wollten sich kampeln […] gab’s barbarische Senge. Hatten die nicht mit gerechnet. Dachten wohl, die Stasi hätte uns besser im Griff. Schwere Verletzungen gab es selten, allerdings ist am Alex mal das Auge von C. fast kaputt gewesen, das hing nach einer Schlägerei halb raus, wurde wieder repariert. Wenn mal einer umgekommen wäre, hätten die Bullen anders reagiert.“
Mit dem Ende der DDR endete auch die Überwachungsarbeit an den Fußball-Fans. Der Protest gegen ein verhasstes Regime vermischte sich zunehmend mit bloßer Gewaltartikulation auf den Fußballplätzen, der Staat reagierte ohnmächtig. In Auftrag gegebene Analysen wurden gelesen und erschrocken beiseitegelegt. Hilflosigkeit kennzeichnete den Überbau.
Fan-Arbeit in der Bundesrepublik
Ende der 1980er Jahre trat die tendenziell rechtslastige Hooligan-Bewegung, die sich in den 1950er Jahren in England rund um den Fußball entwickelt hatte, überall in Europa auf und dominierte viele Jahre die Gewaltdiskussion. In der Bundesrepublik erlag 1982 der Bremer Werder-Fan Adrian Maleika nach einem Steinwurf in Hamburg seinen Verletzungen.
Zitat Johannes, Fan des HSV (Mittendrin, Fußballfans in Deutschland):
„Nach dem Spiel im Volkspark war es ganz extrem, die Gästefans sind aus der Ostkurve raus und in den Volkspark, das war damals ein Wald, die HSV-Fans aus der Westkurve raus auch in diesen Wald. Es gab damals keine berittene Polizei und es war unmöglich, mit Fahrzeugen da hinzukommen, auch mit Pferden nicht. In diesem Wald gab es massive Auseinandersetzungen. Das endete 1982 unglücklicherweise nach einem Auswärtsspiel von Werder Bremen mit dem Tod von Adrian Maleika, der von einem Stein getroffen wurde.“
Eine Folge dieser Entwicklung war ein Projekt von Studierenden um Professor Narciss Göbbel an der Uni Bremen, die sich bereits seit Ende der 1970er Jahre mit den Werder-Fans unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten beschäftigt hatten. Sie versuchten, sich mit Hilfe der Feldforschung und einer Subkulturtheorie den Fan-Phänomenen in der Bundesliga zu nähern und beschlossen angesichts der Gewalttätigkeiten unter den Fans, ein entsprechendes Konzept zu entwickeln. Es wurden zwei Pädagogen gefunden und als ABM-Kräfte unter dem Titel „Fan-Projekt Bremen“ Anfang 1981 bei der Bremer Sportjugend zunächst für ein Jahr eingestellt.
Nach dem tragischen Tod Adrian Maleikas im Oktober 1982 beschloss das Fan-Projekt Bremen, die Werder- und HSV-Fans vor dem Rückspiel in Bremen zusammenzubringen. In einer Veranstaltung auf halber Strecke zwischen beiden Städten trafen sich im Februar 1983 Fans beider Seiten, Mitarbeiter, Trainer, Vereinsfunktionäre und Medienvertreter. Es wurde diskutiert und gestritten, bis man sich einigte, das Kriegsbeil zu begraben und über einen Waffenstillstand abzustimmen, der von der Mehrheit angenommen wurde. Es kam zu keiner weiteren Eskalation zwischen den Fans beider Seiten. Fan-Projekte etablierten sich in Hamburg (1983), Mannheim/Ludwigshafen (1983/86), Bielefeld (1984), Frankfurt am Main (1984), Hannover (1985), Karlsruhe (1986) und Dortmund (1988), aber das Problem mit einem in Teilen rechtsradikalen und gewaltbereiten Anhang blieb in bundesdeutschen Stadien bestehen.
Verschmelzungen
Das „Überschwappen“ westlichen Gedankenguts wurde der DDR-Jugend fortwährend vorgeworfen. Die Ost-Berliner Fans bestätigen diesen Vorwurf als Gewinn, gerade die Besonderheit der Berliner Lage war eine Chance. Flugblätter, Fußballbilder, Schals, Aufnäher und Sportnachrichten flossen über die Mauer. Das Outfit des Ost-Berliner orientierte sich natürlich gen Westen. Neben dem Austausch von Informationen und Accessoires kam es auch zu tatsächlichen Begegnungen. Fans ostdeutscher Vereine fuhren zu internationalen Begegnungen ihrer bundesdeutschen Lieblingsvereine im sozialistischen Ausland, oder westdeutsche Fans besuchten Spiele in Ost-Berlin und der DDR.
Zitat Mampe, Union-Fan (Stadionpartisanen):
„1977 sind bei Union das erste Mal größere Mengen Hertha-Fans aufgetaucht. Die Herthaner sind von alleine gekommen. Ein besonderes Datum war der 13. August 1977. Union spielte 2:1 in Magdeburg. Dort waren ungefähr 100 Hertha-Fans mit gewesen. […] Die Bullen sind nicht gegen die Herthaner eingeschritten. Da waren zwei, dreitausend Unioner mit gewesen, da hätten die Bullen den Kürzeren gezogen.“
1978 fuhren Herthaner gemeinsam mit Union-Fans zu einem Auswärtsspiel nach Halle und die neu gewonnenen Freunde von Union mit zum Hertha-Spiel in Dresden. 1981 traf man sich in Prag zur Intertotorunde Bohemians Prag – Hertha BSC. Alles unter Beobachtung und Auswertung durch das MfS.
Zitat Bürste, Union-Fan (Stadionpartisanen):
„Karten hatten wir keine, brauchtest du auch nicht, das war in der Sommerpause, TOTO-Cup, ein kleines Stadion. Wir haben uns im U Fleku getroffen. Ein Zug Herthafans war auch da, so 300 bis 400 Mann. […] An das Spiel kann ich mich kaum erinnern, aber an einen Typ, der dauernd fotografierte, aber nicht das Spiel, sondern die Leute drum herum. Ein paar Tage später in Berlin kam der Schrieb mit einer Vorladung in die Wendenschloßstraße zum Verhör oder im DDR-Deutsch „Klärung eines Sachverhaltes“. Die hatten so viele geile Fotos von uns allen und fragten frei nach dem Motto: Kennen Sie den und den? – ‚Nö‘.“
Aus dieser Fahrt nach Prag resultierte sogar der Alptraum jedes DDR-Funktionärs, eine Liebesgeschichte Ost-West. Bürste, Union-Fan, lernte auf der Zugfahrt zurück nach Berlin, eine Gruppe Herthaner kennen, mit denen gefeiert wurde, sie hatten reichlich Bier und andere leckere Sachen. „An die Party kann ich mich ganz genau erinnern, denn da habe ich meine spätere Frau Bine kennengelernt. Bine war mit dem Hertha-Fanclub HFC und ihren Eltern aus West-Berlin zu dem Spiel gefahren. Wir haben die ganze Zugfahrt geredet und dabei gefeiert. Danach entstand eine Art Brieffreundschaft zwischen uns. Junge aus Ost-Berlin, Mädchen aus West-Berlin.“ Aus der Brieffreundschaft wurde eine Fernbeziehung, Bine kam immer öfter nach Ost-Berlin, ging zu Union-Spielen, reiste auswärts mit nach Chemnitz, erlebte ein Konzert von Pankow mit ihrem ostdeutschen Freund, der 1985 per Ausreisantrag das Land verließ. Inzwischen feierte das Paar Silberhochzeit.
Mit dem Fall der Mauer, dem Umbruch aller Lebensgewohn- und -gewissheiten rückte auch der DDR-Fußball aus dem Fokus der Menschen. Die Jugend brach auf, die Welt zu erkunden. Von Rostock bis Aue verwaisten die Tribünen. Fußball hatte keinen guten Leumund in der Gesellschaft, das sollte sich erst mit der Weltmeisterschaft 1990 ändern. Fußballfans waren 1989/90 eine unbeliebte Randerscheinung. Und doch zogen Truppen skandierender und marodierender Jugendlicher durchs sterbende Land. In den Stadien war Anarchie angesagt. Es gab Massenschlägereien mit der Polizei und westdeutsche Hooligans, die ihr Mütchen kühlen wollten, verbündeten sich mit ostdeutschen Hooligans.
Zitat Willy, BFC Dynamo (Stadionpartisanen):
„Die Ausschreitungen in den Wendewirren haben doch viel mit dem zu tun, was in der DDR abging. Endlich konnte man es den Bullen mal richtig zeigen. Da knallte es bei vielen Spielen. Es ging nur gegen Bullen, die blöden Ostbullen. Jetzt konnte man denen endlich alles heimzahlen. Die uns jahrelang geärgert und getriezt hatten.“ Die Polizei wurde provoziert, geschlagen und bestenfalls ausgelacht, mit ihren Mützen wurde Fußball gespielt. Viele Jugendliche ließen die Sau raus, nachdem sie bemerkten, dass sie Läden plündern konnten. Keine Polizei, niemand hielt sie auf. Es wurden Tante-Emma-Läden, Elektronikgeschäfte, Supermärkte und Tankstellen auseinandergenommen und rund ums Stadion für Remmidemmi gesorgt. So kam es 1990 dazu, dass der Berliner BFC-Dynamo-Fan Mike Polley in Leipzig von einem überforderten Polizisten erschossen wurde.
„Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?“
Die Maueröffnung geschah mitten in der Saison 1989/90. In der DDR-Oberliga spielten 14 Mannschaften – die besten von ihnen hätten gut im unteren Drittel der Bundesliga mitspielen können. Aber es herrschte heilloses Durcheinander in der sich auflösenden DDR. Natürlich auch im Fußball. Und die DDR-Fußball-Funktionäre waren nicht vorbereitet auf das, was über sie hereingebrach. Sie ahnten nicht, was für Auswüchse der Kapitalismus bereithielt, dass und wie Vereine plattgemacht werden würden. Keiner der Funktionäre trat Ende 1989 freiwillig zurück. Erst Anfang 1990 erlag DFV-Präsident Erbach dem Geldsegen und trat ab, die Restfunktionäre folgten im April des Jahres. Verantwortlich war aber auch der westdeutsche Fußballverband DFB, der seinen ostdeutschen Bruderverband DFV nicht freundlich an die Hand nahm, um diesen in die blühenden Landschaften zu geleiten. Der DFB ließ den ostdeutschen Verband am ausgestreckten Arm verhungern, ein Grund dafür waren offenbar auch politische Feindbilder. DDR-Fußballfunktionäre wähnten im DFB immer noch Alt-Nazis, und DFB-Funktionäre hielten ihre Amtskollegen aus dem Osten für verblendete Kommunisten, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Sie warteten einfach ab, bis sich der Osten selbst auflöste. Im sportlichen Bereich dauerte nur die Vereinigung des westdeutschen und ostdeutschen Schachverbandes länger als die Vereinigung der beiden Fußballverbände.
Der Fußballverband der DDR entwickelte in der Saison 1988/89 einen Mustervertrag für den Verdienst eines Oberligaspielers. Das war ein Novum, denn in der DDR floss eine erhebliche Menge des Einkommens unter der Hand. Zum Beispiel verdiente ein Spieler beim 1. FC Magdeburg etwa 1.500 DDR-Mark, was etwa einem Professorengehalt entsprach. Außerdem bekam er von seinem Direktor des Schwermaschinenbaukombinates, bei dem er offiziell angestellt war, ein zusätzliches Gehalt. Dieses Salär überbrachten tatsächlich Leute am Monatsende in Tüten. Stimulation durch Geld und Devisen war in der Endzeit der DDR im Fußball weit entwickelt. Wenn er zudem noch Nationalspieler war, bekam er von der Nationalmannschaft monatlich eine Summe X. DDR-Oberligafußballer lebten vergleichsweise sehr gut.
Findige westdeutsche Kapitalisten wie Rainer Calmund und andere Manager von Bundesligavereinen witterten sofort die Chance, für kleines Geld sehr gute Spieler zu bekommen. Calmund nahm Kontakt zum BFC Dynamo auf und Andreas Thom wechselte schon im Dezember 1989 für 2,5 Millionen D-Mark als erster ostdeutscher Spieler zu Bayer Leverkusen. Diese Summe bezahlte Calmund nicht nur in der begehrten West-Mark, sondern auch in Naturalien. Für den Transfer von Andi Thom gab es eine dreistellige Anzahl chinesischer Mofas und Mopeds obendrauf – allerdings ohne Ersatzteile. Der BFC wiederum bezahlte seine Leute mit den Mofas, die schnell auf dem Müll landeten, weil sie in der DDR kaum jemand reparieren konnte. Calmund und andere Geschäftemacher verscherbelten allen möglichen Ramsch gewinnbringend in den Osten und angelten sich zahlreiche hochqualifizierte Spieler.
Noch während dieser Saison gingen rund 60 weitere Oberligaspieler in den Westen. Allein der BFC Dynamo verlor 22 Spieler – zwei komplette Mannschaften. Natürlich hatten auch die Spieler selbst daran Anteil, welche nachvollziehbarerweise keine Lust mehr auf Reglementierung und eine Bezahlung in Ost-Geld hatten. Sie wollten die harte D-Mark und so schicke Autos und Häuser wie die Profis im Westen.
Die Preise für die ostdeutschen Spieler entsprachen bei Weitem nicht dem tatsächlichen Marktwert, es floss auch illegal Geld in die privaten Taschen von Spielern, damit Transfers zustande kamen. Das war ein offenes Geheimnis. Wer bestimmte Summen bezahlte, bekam was er wollte. (Illegale Geldzahlungen sind im Fußball zwar heutzutage schwieriger zu handhaben; wie das Buch „Football Leaks“ von Rafael Buschmann und Michael Wulzinger aufdeckt, jedoch immer noch aktuell.) Selbst Spieler, die jahrzehntelang in der Sozialistischen Einheitspartei gewesen waren, monatlich ihre Parteiversammlungen absolviert und ihr Land im Ausland als „Diplomaten im Trainingsanzug“ würdig vertreten hatten, strichen beim Geruch des ersten D-Mark-Scheins die Segel.
Als der Westen sich die interessanten Filetstücke einverleibt hatte, ließ man den Rest durch Unterlassung oder aktive Mitwirkung kaputtgehen und beseitigte damit unerwünschte Konkurrenz aus dem Osten, wo nur wenige die Stimme laut dagegen erhoben. So findet sich seit 1998 in der Vereinshymne des 1. FC Union die Zeile, „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union, Eisern Union.“
Ausplünderung
Für den DDR-Fußball gab es, anders als für die Wirtschaft, eine Übergangsphase. Die DDR-Oberliga spielte noch die Saison 1990/91 zu Ende, obwohl es keine DDR mehr gab. Diese Saison bedeutete eine weitere getrennte Spielzeit und damit das komplette Ausbluten der Clubs. Jeder Spieler, der noch halbwegs geradeaus gehen konnte, wechselte in den Westen. Im Gegenzug kamen Leute in den Osten, die die Bundesliga loswerden wollte: alte, übergewichtige, mitunter sogar drogen- oder alkoholkranke Aussortierte, welche fortan ostdeutsche Plätze und Trainerbänke prägten. Das Niveau sank ins Unterirdische.
Gleichzeitig erschien die Garde der Baufürsten im Osten. In dieser Übergangssaison wurde fast die Hälfte aller Oberligavereine von Bauunternehmer-Präsidenten geleitet. Sie kamen mit großen Versprechungen, weil sie über die Möglichkeiten der Fußballclubs an lukrative Bauaufträge der jeweiligen Stadt kommen wollten. Sie wollten „etwas für die Region tun“. Beim BFC, bei Dynamo Dresden, bei Lok- und bei Chemie Leipzig waren Bauunternehmer aktiv und hinterließen verbrannte Erde. Besonders gravierend wirkte Rolf-Jürgen Otto in Dresden, er trieb den Club in die Insolvenz und wurde anschließend wegen der Veruntreuung von drei Millionen D-Mark verurteilt. Eisenhüttenstadt ließ sich dagegen 50 geleaste Audis sowie unnötige Versicherungen für seine 33 Angestellten aufschwatzen, die den Etat belasteten. Fast alle Vereine erlebten die zweifelhaften Freuden einer Insolvenz. Die DDR-Fußball-Oberliga endete 1991 als Oberliga des Nordostdeutschen Fußballverbandes. Wenn eine gleichberechtigte Zusammenführung beabsichtigt gewesen wäre, hätten sich DFB und DFV im Januar 1990 zusammensetzen und beschließen müssen, dass man ost- und westdeutsche Clubs beider Ligen ab der kommenden Saison in der Bundesliga zusammenführt. So hätten die Ost-Clubs vielleicht eine Chance gehabt. Tatsächlich durfte nur eine kleine Minderheit ostdeutscher Vereine im gesamtdeutschen Profifußball mitspielen, während der Westen gar keine Abstriche machte. Ostdeutsche Traditionsvereine wie der einstige Europapokalsieger 1. FC Magdeburg und der Rekordmeister BFC Dynamo versanken sofort im Amateurbereich.
Erst im Sommer 1991 durften zwei Clubs in die Bundesliga nachrücken (Hansa Rostock und Dynamo Dresden) und sechs weitere in die Zweite Liga (Chemnitzer FC, Rot-Weiß Erfurt, der 1. FC Lokomotive Leipzig, Chemie Halle und der FC Carl Zeiss Jena). Zu diesem Zeitpunkt waren die Ost-Clubs schon ausgeblutet – es hatte sich mit dem Fußball in Ostdeutschland auf Jahrzehnte erledigt.
Im Dezember 2019 erschien das Zeitspiel Magazin für Fußball-Zeitgeschichte mit dem Titel „70 Jahre DDR-Oberliga.“ Neben einer kurzen Geschichte derselben, der tabellarischen Übersicht aller Spielzeiten, der ewigen Tabelle und Mini-Porträts aller Oberligisten versammelten die Herausgeber vier Fans traditionsreicher Ost-Vereine zu einem spannenden Gespräch, bei welchem unter anderem die Frage gestellt wurde, ob das Erbe der DDR-Oberliga beziehungsweise des DDR-Fußballs angemessen gewürdigt werde.
Uwe Busch (Hansa Rostock):
„Eigentlich ist die [gesamtdeutsche Wahrnehmung] vor allem bei zwei Ereignissen in Erscheinung getreten. Einmal beim Gezerre um eine faire Aufstiegsregelung aus den ostdeutschen Regionalligen. Das begann ja schon mit der 2+6-Regel, und danach ging es relativ schnell, dass der Fokus auf den Osten in den beiden obersten Spielklassen durch die Abstiege der damaligen Vertreter immer mehr zurückging … Ein Moment, der die Wahrnehmung des Ostfußballs wieder verbesserte, war für mich das Zusammentreffen von sieben ehemaligen DDR-Oberligisten in der 3. Liga 2017/18. Da wurde vielen Leute erstmals bewusst, dass auch in unserem Teil Deutschlands schon länger großer Fußball gespielt wird.“
Die Gesprächs-Vertreter von Dynamo Dresden und dem 1. FC Magdeburg bestätigen dem Zeitspiel diesen Eindruck: Man wäre jahrelang nicht ernst genommen worden, nach vielen Jahren internationalen und hochklassigen Fußballs wurde vor allem in Magdeburg nur noch Amateurfußball gespielt. Letztere hatten Begegnungen mit 45 Zuschauern. In dieser Zeit, als der 1. FC Magdeburg über die Dörfer tingelte, gründete sich die Ultragruppe Commando Eastside, welche sich als Supporter etablieren konnten und mit ihrer Abkehr vom „Ultra-no-Fans-Gedöhns“ mit dem letzten Regionalligajahr 2015 und im ersten Drittligajahr das gesamte Stadion mitnahm, berichtet Alexander Schnarr (1. FCM). Die Ultrabewegung hielt auch in die Stadien Ost-Deutschlands Einzug und wandelte allmählich das negative Image auf den Rängen, brachte Stimmung in die Stadien („Europas größte Blockfahne“ Dynamo Dresden-1. FC Magdeburg, 31. Oktober 2015/ „Horror-Choreo“ 1. FC Magdeburg-BVB/DFB-Pokalspiel, 25. Oktober 2017). Wurden die rechtsradikalen, älteren Hools in den meisten ostdeutschen Stadien an den Rand oder vollständig verdrängt, bestimmen sie gegenwärtig in Chemnitz und Cottbus teilweise die Außenwirkung der Fanszene und stehen den rechtsgerichteten Szenen in einigen westdeutschen Stadien nichts nach. Zitat Robert Claus, Autor „Hooligans“ 2017, (Mitten drin – Fußballfans in Deutschland)
„Bis auf wenige Vereine wie Babelsberg und St. Pauli gibt es im Grunde keinen Verein, dessen Fanszene von Rechtsextremen frei wäre. Das ist im Pott nicht anders. Aachen, Duisburg, in Gladbach gibt es eine ältere rechte Hoolszene, wir wissen auch, dass der ältere gewaltaffine Teil der Kölner Ultraszene relativ gute Verbindungen hat zu russischen Neonazis in Moskau. Ich könnte jetzt die einzelnen Vereine durchgehen, wir finden eigentlich in jeder Fanszene entweder bei den Älteren oder auch bei dem jüngeren, gewaltaffinen Teil Verbindungen zur Hoolszene, zu Neonazis und mittlerweile auch immer mehr zu polnischen oder russischen rechten Hooligangruppen.“
Alte Fan-Feindschaften führten 2016 im Fall Magdeburg-Halle zum Tod eines jungen Fans des 1. FC Magdeburg, die genauen Umstände des Todes konnten nicht geklärt werden. In Berlin versank der BFC Dynamo nebst Anhang im Nirwana der Regionalliga, während Union und seine Fans republikweit Achtungserfolge erzielten. Die Fan-Freundschaft zwischen Hertha BSC und Union Berlin ging nach anfänglichen Umarmungen zu Ignoranz über und mündet nach drei Jahrzehnten in gepflegtem Hass unter Ultras.
Tatsächlich waren im Osten nach der letzten Saison 1990/91 alle Strukturen gründlich zerstört. Nicht nur sämtliche guten Spieler waren abgewandert, auch alle bewährten Trainer, Nachwuchskoordinatoren und Jugendspieler. Es blieb eine Brache übrig, viele Jahre lang. 1998 erlebte die DDR-Oberliga als Regionalliga Nordost (Gebiet der ehemaligen DDR plus Westberlin) eine traurige Renaissance: mit dem Chemnitzer FC, dem VfB Leipzig, 1. FC Magdeburg, BFC Dynamo, FC Carl Zeiss Jena, Rot-Weiß Erfurt, Dynamo Dresden, Sachsen Leipzig sowie Stahl Eisenhüttenstadt waren neun der 14 Oberligisten der letzten Spielzeit 1990/91 vertreten. Im gesamtdeutschen Profilager waren lediglich Bundesligist Hansa Rostock und Zweitligist Energie Cottbus unterwegs. Der Ost-Fußball hatte seinen Tiefpunkt erreicht. 1998/99 verbuchte Dynamo Dresden mit durchschnittlich 3.313 Zuschauern den ewigen Minusrekord und verschwand mit Einführung der vier Regionalligen sogar in der Viertklassigkeit, ebenso wie der 1. FC Magdeburg und der BFC Dynamo.
Es brauchte beinahe zwei Generationen, bis sich der Osten aus dem Staub erheben konnte. Mit riesigen Anstrengungen wurden wenigstens ein paar Vereine wieder erfolgreich. Ein Ausnahme-Beispiel ist Aue im Erzgebirge, ein kleiner Ort mit 16.000 Einwohnern und einer McDonald’s-Bude als Hauptattraktion, dessen Fußball-Verein es schaffte, sich dauerhaft in der Zweiten Liga zu etablieren. Erzgebirge Aue ist mit 1019 Spielen sogar Rekordhalter der DDR-Oberliga. Unternehmer vor Ort nahmen sehr früh den Verein in ihre Hände und vertrauten nicht auf temporäre Verantwortliche.
Ein anderes Beispiel für zwischenzeitlichen Erfolg war der Fußballclub Energie Cottbus. Die 1995 dort stattfindende erste Bundesgartenschau in den neuen Bundesländern wurde genutzt, um in Cottbus Voraussetzungen für Profifußball zu schaffen – das Stadion mit Hilfe der Stadt und das Team unter Leitung des letzten DDR-Nationaltrainers Ede Geyer. 2000 gelang der Aufstieg, der Club konnte in der Bundesliga sechs Jahre mit robustem Fußball und intensivem Fan-Support aufspielen. Aktuell spielt Cottbus viertklassig und ist auch wirtschaftlich in die Krise geraten, die Probleme der strukturschwachen Räume in der ehemaligen DDR sind keineswegs überwunden. Von Misswirtschaft und schlechtem Management über viele Jahre haben sich einst große Clubs wie Lok Leipzig (1987 Finalteilnahme im Europapokal der Pokalsieger) noch nicht erholt.
Zitat Max, Lok Leipzig (Mitten drin – Fußballfans in Deutschland):
„Ehrlicherweise gibt es hier nicht viele wirkliche Geldgeber. Sachsens Ministerpräsident hat recht mit seinem Ausspruch, dass es eine Schande für die ostdeutsche Industrie ist, dass erst ein Österreicher kommen musste, damit ein ostdeutsches Team wieder in der Bundesliga spielt. In Leipzig gibt es mit Amazon, DHL, Porsche oder Audi genug Industrie und Dienstleistungsgewerbe, aber in den Sport, vor allem in Fußball investieren die wenig hier. Leider.“
Eine kleine Auferstehung feierte die DDR-Oberliga in der Saison 2017/18, als sich in der 3. Bundesliga gleich sieben Mannschaften wiedertrafen. Außer in Chemnitz und Erfurt, welche nach dieser Saison Insolvenz anmelden mussten, haben sich die Strukturen der Vereine allmählich stabilisiert. Moderne Stadien wurden in Aue, Chemnitz, Cottbus, Dresden, Erfurt, Halle, Magdeburg, Rostock und Zwickau gebaut. 2019/20 spielen neun Mannschaften der ehemaligen DDR-Oberliga in drei gesamtdeutschen Ligen: sechs Drittligisten (Magdeburg, Jena, Rostock, Halle, Zwickau und Chemnitz), zwei Zweitligisten (Dresden und Aue) sowie der Erstligist Union Berlin.
Union Berlin, nach der Saison 2018/19 in die 1. Bundesliga aufgestiegen, erlebte zuvor harte Jahre mit Insolvenzen und Abstiegen bis in die fünfte Liga. Ähnlich wie bei Erzgebirge Aue haben sich an der Alten Försterei eingefleischte Unionfans zusammengeschlossen und geben alles dafür, dass dieser Verein erblüht – und nicht die falschen Leute ans Ruder kommen. 2020 überholte Union sogar den Lokalrivalen Hertha BSC knapp in der Mitgliederzahl und stürmte zu Beginn der Saison 2022/23 sogar zeitweise an die Spitze der Fußballbundesliga und am Saisonende auf einen Champions League-Platz, während Lokalrivale Hertha BSC aus der 1. Liga abstieg. RB Leipzig dagegen wurde aus Sicht vieler eingefleischter Fußballfans künstlich als Marketing-Produkt von Red Bull geschaffen und beweist: Mit Geld lässt sich guter Fußball kaufen.
Im oben erwähnten Zeitspiel-Gespräch der vier Fans und Akteure über ihre Vereine lautete die abschließende Frage: Gibt es eine Ostidentität in der Fankultur? Uwe (Rostock) erwähnte, dass Rostock durch die jahrelange Alleinvertretung in der Bundesliga ein bisschen zum Leuchtturm des Ostens hochgejubelt worden sei:
„Das führte dazu, dass man bei Auswärtsspielen immer wieder auch Fans anderer ostdeutscher Vereine im Gästeblock traf, die sich trauten, das zuzugeben. Einer dieser Standardsätze war immer: „Mensch, der Osten muss doch zusammenhalten!“
Der Cottbus-Vertreter Johannes erinnerte sich noch an den Aufstieg seiner Mannschaft 2000 mit den Fahnen „Hier stürmt der Osten“ und Uwe (Dresden) meinte:
„Ich glaube schon, dass es eine ostdeutsche Identität gibt.“
Alex (Magdeburg) fügte zu den Vorrednern an:
„Mich hat das damals tatsächlich auch als Magdeburger stolz gemacht, dass Hansa und Cottbus oben waren […] Es gibt da schon eine gewisse Solidarisierung. Und es wäre ja auch geil, in Ostdeutschland höherklassigen Fußball abseits von so einem Dosenprodukt zu haben.“
Gemeint war damit Red Bull Leipzig - inzwischen Stammgast in der Champions League. Und Arbeitgeber von inzwischen 18 A-Nationalspielern aus 12 verschiedenen Nationen, fünf Spieler davon mit einem Marktwert von jeweils über 50 Millionen Euro im Dezember 2022. Leipziger Fußball ist längst wie anderswo in Europas Topligen ein Geldgeschäft. Aber auch eine Herzenssache?
Katar ist im November und Dezember 2022 Ausrichter einer umstrittenen Fußballweltmeisterschaft. Wurde sie "gekauft", was wird zensiert? Vertritt sie wirklich Toleranz, und warum wird der Tod so vieler Bauarbeiter bei der Errichtung der teuren Stadien verschwiegen? Sollen Fans sie trotzdem schauen, sei es in Katar, vor dem Fernseher oder gar nicht? Die beiden FußballbuchautorInnen der bpb, Anne Hahn und Frank Willmann, nehmen dazu Stellung aus ihrer Sicht.
Die Otto-Jahre enden im Lizenzentzug, in: 30 Dynamo-Momente aus 30 Jahren, 27.5.2020 auf https://www.dynamo-dresden.de/verein/news/newsdetails/die-otto-jahre-enden-im-lizenzentzug.html, letzter Zugriff am 25.2.2021
Baingo, Andreas: Vom Vorbild zum Verräter - Stasi-Krimi: Plötzlich sind Gerd, Matthias und Peter einfach weg, Berliner Zeitung 21.1.2021, https://www.berliner-kurier.de/fussball/stasi-krimi-ploetzlich-sind-gerd-matthias-und-peter-einfach-weg-li.134742
Hahn, Anne und Frank Willmann: Mittendrin. Fußballfans in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung 2018, https://www.bpb.de/presse/263817/mittendrin-fussballfans-in-deutschland, letzter Zugriff am 20.10.2020.
Korinth, Stefan: Star-Fußballer zum Schnäppchenpreis, Interview mit Frank Willmann, Rubikon, 14.11.2019, https://www.rubikon.news/artikel/star-fussballer-zum-schnappchenpreis Pilz, Gunter A.: Fanarbeit und Fanprojekte, https://www.kos-fanprojekte.de/fileadmin/user_upload/material/soziale-arbeit/fachbeitraege/20110113-dsj-brosch-fan.pdf
Raak, Alex: „Der Osten hat keine Chance“, Interview mit Frank Willmann, 11Freunde, 3.10.2011, https://11freunde.de/artikel/der-osten-hat-keine-chance/577262 Themenheft „70 Jahre DDR-Oberliga!, Zeitspiel #17 IV/2019.
Willmann, Frank: Fußball in der Zone, in: telegraph 120/121, 2010, https://telegraph.cc/archiv/telegraph-120-121/fussball-in-der-zone/
Willmann, Frank: Stadionpartisanen nachgeladen, Fußballfans und Hooligans in der DDR, nofb-shop.de, 2013.
Willmann, Frank (Hg.): Fußball-Land DDR. Anstoß, Abpfiff, Aus, Berlin 2004.
Willmann, Frank: „Die Mauer muss weg!“ Fußball-Land DDR, https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/bundesliga/166321/fussball-land-ddr?p=all
Willmann, Frank: Der Osten bleibt das graue Niemandsland des Fußball, Der Tagesspiegel, 7.5.2014, https://www.tagesspiegel.de/sport/frank-willmann-ueber-fussball-der-osten-bleibt-das-graue-niemandsland-des-fussball/9857006.html
Willmann, Frank: Große Klappe gegen nix dahinter, Zeit Online, 2.11.2019, https://www.zeit.de/sport/2019-11/union-berlin-hertha-bsc-derby
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Zitierweise: Anne Hahn, Frank Willmann „Fußball mit und ohne Seele. Fußballkommerz und das Ende vom DDR-Fußball. Ein Essay & ein Interview", in: Deutschland Archiv, 23.11.2022, zuletzt ergänzt am 23.06.2023. Link: www.bpb.de/515464. Der Text ist dem Doppelband entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes I+II", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Oktober 2021 in zweiter Auflage im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert vom Deutschland Archiv der bpb.
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