Sharon Adler: Du hast Schauspiel in Paris und New York studiert, warst Theaterschauspielerin und -regisseurin, hast als Casting-Direktorin, Regieassistentin und als Sprecherin gearbeitet. Nach einem Studium der Amerikanistik und Spanisch hast du einen Master in Visueller Anthropologie an der FU Berlin absolviert. Wie kamst du zur Dokumentarfilmregie? War das eine logische Konsequenz aus deinen Studien?
Sharon Ryba-Kahn: In der Beschreibung des Studiengangs im Master Visuelle Anthropologie an der FU hieß es: „Am Ende des Studiums werden Sie Ihren Film in einem Kino zeigen.“ Das war 2013 und der Moment, wo ich entschieden habe, ihn zu belegen. Tatsächlich geht es in der visuellen Anthropologie um nichts anderes als um die visuelle Darstellung von Kulturen in Fotografie und im Film. Die Geschichte der visuellen Anthropologie hat einen westlichen, kolonialistischen, imperialistischen Hintergrund. Sie befasst sich heute wissenschaftlich mit Ethik und wichtigen und sehr spannenden Fragen, darunter: Wer hat das Recht, jemanden darzustellen? Und wie stellt man diese Person dar? Die Kamera ist ein Werkzeug der Macht. An der FU Berlin habe ich den Anfang meines Abschlussfilms „Recognition“ entwickelt. Ich drehte Recognition nach dem Master weiter und mit der Festivalversion habe ich mich an der Film-Uni in Potsdam beworben. Später lief er – in einer anderen Version – im Kino und auf Festivals. Bis auf das Studium in Amerikanistik und Spanisch hatte alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, immer mit Theater und Film zu tun: mein Schauspiel- und Filmproduktionsstudium in Paris und New York und meine Arbeit in der Filmbranche in Berlin als Produktionsassistentin und Regieassistentin. Dass ich Regisseurin sein wollte, wusste ich, seit ich zwanzig war.
Die eigentliche Geschichte ist, dass ich mich mit 26 Jahren mit einem Kurzfilm über meine Großmutter Dr. Madeleine Kahn, einer Shoah-Überlebenden, an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) beworben habe und nicht angenommen wurde. Ich war so verzweifelt über die Absage, dass ich Amerikanistik und Spanisch an der Humboldt Uni einfach aus dem Bedürfnis heraus belegt habe, etwas Anständiges und Sinnvolles zu machen. Spanisch zu studieren ist ein Traum, den ich mir erfüllt habe und der bis heute ein sehr wichtiger Teil meines Lebens ist. Und dann kam die visuelle Anthropologie. Der Sprung in die Dokumentarfilmregie war nur eine logische Konsequenz dessen, was ich zuvor gemacht habe.
Sharon Adler: In der Doku „Displaced“ setzt du dich mit der Beziehung zu deinem Vater auseinander, der über seinen Vater sagt: „Man darf einem Menschen, der die Shoah, der Auschwitz miterlebt hat, nichts vorwerfen, im Gegenteil.“ Wie hast du als Kind das Trauma der Überlebenden erlebt und wie gehst du heute damit um?
Sharon Ryba-Kahn: Dass mein Großvater väterlicherseits Überlebender war, war kein Thema, denn es wurde in diesem Teil der Familie nicht über die Shoah gesprochen. Mit meiner Großmutter mütterlicherseits sprach ich über die Shoah, seitdem ich acht Jahre alt war. Ich bin von meiner Mutter und ihren Eltern, beide Überlebende, erzogen worden. Mein Vater wollte München eigentlich verlassen, um an die Hebrew University in Israel zu gehen, und ein neues Leben anfangen. Aber er konnte seine Eltern nicht allein lassen, das erfuhr ich erst bei den Dreharbeiten von „Displaced“. Er, der älteste Sohn von vier Kindern. Er hatte den Eindruck seine Familie nicht verlassen zu dürfen, weil sie Überlebende waren, dieser fehlende „Mut“, der sich durch sein Leben zog, ist für mich ein Ergebnis dessen, dass er ein Überlebender der Zweiten Generation der Shoah ist, und das ist für mich ganz eindeutig.
Das Bindungsgefühl zwischen den Überlebenden und ihren Kindern ist oft schmerzhaft und schwierig. Als Kind habe ich das natürlich alles nicht verstanden, denn das Bewusstsein des Kindes ist die absolute Akzeptanz der Umgebung, in der es aufwächst. Die erwachsene Frau setzt sich mit dem Trauma auseinander, ganz klar. Macht Filme darüber, schreibt eine Dissertation darüber, denkt darüber nach, um Dinge zu verstehen, die mit der Familiengeschichte zu tun haben, auch, um die Reaktionen zu verstehen. Wie sich Traumatisierung zeigt, ist bei jeder Person individuell.
Sharon Adler: In deinen drei Langfilmen, „Recognition“ (2015), „Displaced“ (2020) und „Liebe bis 120“ (2023) geht es immer wieder um die verschiedenen Aspekte und Merkmale der jüdischen Identität, Geschichte und Politik. Inwieweit ist deine jüdische Identität der Leitfaden, ein Motiv deiner Arbeit?
Sharon Ryba-Kahn: „Recognition“ handelt von dem palästinensisch-israelischen Konflikt und davon, wie er auf beiden Seiten die Identität prägt. Tatsächlich ist es auch ein transgenerationeller Film im Sinne des Palästinensisch-Israelischen Konflikts. In meinen beiden anderen Filmen, „Displaced“ und „Liebe bis 120“, geht es um jüdische Identität, Geschichte und Politik. Jüdische Identität ist ein wichtiges Thema meiner Arbeit. Doch es verschiebt sich nach diesen drei Filmen immer mehr in Richtung Trauma in anderen Gewaltkontexten und nicht mehr nur um den jüdischen Anteil des Traumas. Ich denke, dass das Humanistische der Leitfaden meiner Arbeit ist. Ich bin eine jüdische Regisseurin. Mein jüdisches Dasein, genauso wie mein Frausein, sind prägende Aspekte meiner Identität.
Sharon Adler: In deiner Doku „Liebe bis 120“ (Arbeitstitel) porträtierst du drei Frauen, drei Überlebende der Shoah, die in einem betreuten Wohnheim in Tel Aviv leben, und legst den Fokus auf deren Liebesleben. Warum war es dir wichtig, gerade dieses Thema abzubilden?
Sharon Ryba-Kahn: Wenn ich mir anschaue, welche Filme gegenwärtig zum Thema Shoah gemacht werden, und insgesamt den Umgang mit der Shoah beobachte, sehe ich immer mehr, je länger ich in dieser Branche bin, dass es selten um die Überlebenden selbst geht. Sie sollen ihre Geschichte erzählen, sie erfüllen eine Funktion, und dann können sie wieder nach Hause gehen. Ich bin mit diesem Umgang nicht einverstanden. Vielleicht klingt das provokant, aber ich glaube, das ist eine Entmenschlichung, die stattfindet und auf einer psychologischen Ebene eine Vereinfachung. Nicht alle Überlebenden sind gleich. Der einzige sichere gemeinsame Nenner ist, dass sie Juden sind und dass sie überlebt haben. Natürlich hat die Traumatisierung, die sie erlebt haben, sie geprägt, aber die Shoah ist nur ein Teil ihres gesamten Lebens. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, ihre Geschichten im Ganzen zu sehen.
In „Liebe bis 120“ geht es um drei achtzig- bis Mitte neunzigjährige Frauen, und darum, welchen Anteil Liebe, Beziehung und Sexualität in ihrem Leben als Überlebende haben. Ich habe die drei Frauen über vier, fünf Jahre lang begleitet. Mir war es wichtig zu verstehen, wie die Shoah ihr Verständnis von Liebe und ihr Liebesleben als Frau beeinflusst hat. Ich bekam sehr unterschiedliche Antworten, denn es sind völlig unterschiedliche Persönlichkeiten und andere Definitionen von Liebe. Liebe bedeutet eben nicht nur die Liebe zu einem/r Partner*in. Es geht auch sehr viel ums Altwerden und um das, was Liebe bedeutet, wenn man alt wird, oder wie man sich an die Shoah erinnert. Der Film lehrt uns etwas darüber, wie Erinnerung im Alter funktioniert. Das ist der dramaturgische Rahmen des Films – oder wird es, weil der Film noch nicht fertig ist. Der Film heißt nun „Love till 120 – Lessons of love and life“. Einen deutschen Titel habe ich noch nicht.
„Liebe bis 120“ ist ein Film über drei Frauen, die 200 Jahre jüdische Geschichte in sich tragen. Ich möchte dazu beitragen, daran zu erinnern, dass diese Menschen ein Leben vor der Shoah gehabt haben. Ich glaube, das ist eine Frage des Respekts.
Sharon Adler: Aus der innerjüdischen Perspektive geht es in deinen Filmen um die Suche nach Antworten auf die Fragen nach Identität, nach Zugehörigkeit, aber auch um die Suche nach den biographischen Leerstellen, dem Verlust. Kannst du bitte den Prozess deiner Arbeit beschreiben? Wie näherst du dich deinen Interviewpartner*innen/Protagonist*innen?
Sharon Ryba-Kahn: Ich arbeite stark mit meinem empathischen Gefühl, und das, was ich empathisch nicht verstehe oder wo ich keinen Zugang habe, erarbeite ich mir. Ich gehe immer respektvoll mit meinen Protagonist*innen um und bin sehr vorsichtig mit meiner Provokation. Manchmal bin ich fast zu subtil und denke mir, ich müsste mich noch mehr trauen und könnte sie mit etwas schwierigeren Fragen konfrontieren.
Das Verhältnis zwischen Jüdinnen*Juden und Nicht-Jüdinnen*Juden
Sharon Adler: Als Dokumentarfilmerin bildest du auch ab, wie es sich anfühlt, als Angehörige der Dritten Generation von Shoah-Überlebenden in Deutschland zu leben. Willst du mit deinen Arbeiten jüdische Realitäten zeigen, die unbequem für die nicht-jüdischen deutschen Zuschauer*innen sind?
Sharon Ryba-Kahn: Ich wollte zeigen und beschreiben, wie es sich anfühlt, zu der Dritten Generation von Überlebenden, die in Deutschland leben, zu gehören. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass es zwei Diskurse in meinem Umfeld gab: Mit jüdischen Menschen sprach man auf die eine und mit nicht-jüdischen Menschen auf die andere Art und Weise. Dieses Tabu wollte ich brechen, beziehungsweise benennen! Aus meiner Erfahrung ist es vielen Menschen der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland unangenehm oder sie fühlen sich angegriffen, wenn es um ihre Beziehung zu jüdischen Themen und um die Shoah geht.
Sharon Adler: Mit „Displaced” stellst du Fragen nach dem Umgang mit der NS-Vergangenheit an dein nicht-jüdisches Umfeld. Welche Adressat*innen hattest du beim Skript, beim Dreh, in der Produktion vor Augen und was möchtest du vor allem bei deinem nicht-jüdischen deutschen Publikum bewirken?
Sharon Ryba-Kahn: Ich wünsche mir, dass vor allem nicht-jüdische Deutsche mit Eltern und Großeltern aus Deutschland sehen, dass die Shoah sie direkt betrifft und etwas mit ihren Familien und auch mit ihnen gemacht hat. Ich wünsche mir einen anderen Umgang mit der eigenen Geschichte. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Gewalterfahrung, egal, in welchem Land, tiefgreifende Konsequenzen für eine Gesellschaft hat, und meiner Meinung nach gibt es nur einen einzigen Weg: Man muss Dialoge, Bildung und ein sicheres Lebensumfeld auf Basis von Respekt und Akzeptanz für alle Menschen schaffen.
Sharon Adler: Ein wiederkehrendes Motiv in deinen Filmen ist die Auseinandersetzung in der Zweiten und Dritten Post-Shoah-Generation der Nachkommen der Opfer und der Täter*innen. Was ist für dich die persönliche Herausforderung in dieser Arbeit?
Sharon Ryba-Kahn: Meine Auseinandersetzung in „Displaced“ mit der Zweiten und Dritten Generation auf der Seite von Nachkommen der Täter*innen war mir sehr wichtig. Ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob ich je mehr dazu machen werde. Ich habe viele antisemitische Erfahrungen gemacht, extrem krasse Reaktionen von Menschen erlebt, die komplett unbewusst mit dem, was sie an Gefühlen zu dem Thema Shoah in sich tragen, und mit mir umgegangen sind. Das passierte nie vor Publikum bei der anschließenden Frage-Antwort-Runde, der Q&A, sondern danach, wenn man allein mit mir sprechen wollte.
Sharon Ryba-Kahn: „Ich habe viele antisemitische Erfahrungen gemacht, extrem krasse Reaktionen von Menschen erlebt, die komplett unbewusst mit dem, was sie an Gefühlen zu dem Thema Shoah in sich tragen, und mit mir umgegangen sind. Das passierte nie vor Publikum bei der anschließenden Frage-Antwort-Runde, der Q&A, sondern danach, wenn man allein mit mir sprechen wollte.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Sharon Ryba-Kahn: „Ich habe viele antisemitische Erfahrungen gemacht, extrem krasse Reaktionen von Menschen erlebt, die komplett unbewusst mit dem, was sie an Gefühlen zu dem Thema Shoah in sich tragen, und mit mir umgegangen sind. Das passierte nie vor Publikum bei der anschließenden Frage-Antwort-Runde, der Q&A, sondern danach, wenn man allein mit mir sprechen wollte.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die persönliche Herausforderung ist ganz klar, meine Wehrhaftigkeit zu behalten. Denn wenn so ein Moment passiert, begebe ich mich in ein traumatisches Feld – ich nenne das „to enter a traumatic space“ – und erlebe eine körperliche Abwehrreaktion. Wenn ich jedoch nicht reagiert habe, wenn ich einen antisemitischen Kommentar habe durchgehen lassen, empfinde ich dabei eine große Scham und ein großes Gefühl des Versagens. Und deshalb geht es auch darum, zu akzeptieren, wenn ich vielleicht einen Tick zu aggressiv werde, und mir das zu verzeihen. Denn meine Wehrhaftigkeit lasse ich mir von niemandem nehmen.
Sharon Adler: In „Displaced“ sprechen deine nicht-jüdischen Freundinnen in Bezug auf Jüdisches nur von dem „ Thema“. Wie hast du das empfunden?
Sharon Ryba-Kahn: Ich glaube, das bedeutet so viel wie: „Ich sehe dich als Mensch.“ Das ist das gleiche Muster wie das Konzept von „I don’t see colour“, wo es auch darum geht, dass man jemandem seine Identität abspricht. Das ist für mich ein Abwehrmechanismus und eine Nichtauseinandersetzung mit Schuldgefühlen und impliziert die Frage: „Was macht meine Identität mit dir?“
Sharon Adler: Kannst du im gegensätzlichen Diskurs um Traumata, um Auseinandersetzung, um Erinnerung ein Schema erkennen? Welche Erfahrungen hast du gemacht, welche Antworten hast du erhalten?
Sharon Ryba-Kahn: Ich kann ein Schema erkennen, das nichts mit Trauma, aber viel mit Abwehrmechanismen der nicht-jüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun hat, und damit, wie Menschen mit ihrer individuellen Familiengeschichte umgehen und wie sie emotional verarbeitet wurde. Für viele traumatisierte Menschen ist es ein Aha-Moment, das zu realisieren und auszusprechen: „Ich bin traumatisiert.“ Dieses Wort überhaupt zu benennen, ist ein Anfang des Heilungsprozesses. Bis ich 2015 als Gast auf einer Externer Link: Podiumsdiskussion zum Thema Trauma und Dritte Generation eingeladen wurde, wusste ich nicht, dass ich traumatisiert bin.
Sharon Adler: Du promovierst an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
Sharon Ryba-Kahn: Ein Teil meiner Arbeit ist die Analyse von indigenen australischen Dokumentarfilmen. Heute beschäftigt mich vor allem die Frage danach, wie kollektives transgenerationelles Trauma im indigenen australischen Film repräsentiert wird. Die tiefgründige Frage, die dahintersteckt, hat viel mit meiner Identität zu tun: Kann ein Mensch genug kulturelles und emotionales Verständnis und Empathie haben, um einen Kulturkreis, dem er selbst nicht angehört, wirklich zu verstehen und im nächsten Schritt zu repräsentieren? Das ist ein hochaktuelles Thema. Mit welchen Werkzeugen muss man arbeiten, um diese Fragen empathisch zu beantworten? Was braucht es noch außer Empathie? Das ist die Frage, die ich für mich beantworten möchte. Die mich motiviert, diese Arbeit zu machen. Denn ich glaube, dass in der Gesellschaft, in der wir leben, diese Frage nicht nur aktuell für alle sehr wichtig ist, sondern dass es eine sehr wichtige humanistische Frage ist.
Sharon Adler: Wie kann es deiner Meinung nach gelingen, im Medium Film die Traumata und Retraumatisierungen durch die Shoah in der Generation der Überlebenden und in der Zweiten und Dritten Generation abzubilden und erfahrbar zu machen?
Sharon Ryba-Kahn: Darüber habe ich meine Master-Arbeit geschrieben. Tatsächlich gibt es ein Konzept. Die Filmwissenschaftlerin Jeanette Walker hat den Begriff „Trauma Cinema“ geprägt und spricht von „disremembering“, sich ent-erinnern. Erinnerung im traumatischen Sinne ist das, was fragmentarisch passiert. Man weiß ja, dass man sich an ganz bestimmte Momente erinnert und andere vergisst. Wie Gedächtnis funktioniert, ist ein ganz wichtiger Teil dessen, wie sich ein Trauma zeigt. Die Heilung von Traumata kommt dadurch, dass man das Trauma in sein eigenes, persönliches Narrativ integriert.
In „Displaced“ gibt es ganz klare visuelle Momente, die für mich eine traumatische Ästhetik darstellen. Es gibt diesen Moment in einer U-Bahn am Marienplatz in München. Oben sieht man menschliche Schatten. Dieses Bild kommt, nachdem mein Großvater sich an die Shoah erinnert und die Geschichte erzählt, wie er überlebt hat. Man spürt, dass diese Schatten einen Bezug zur Shoah und den ermordeten Menschen haben. Und dann ist es auch kein Zufall, dass es einen sehr lauten Sound gibt, wenn der Zug einfährt. Der einen überfährt. Das ist eine Repräsentation dessen, was diese Traumatisierung mit einem macht. Das Bild hat eine doppelte Symbolik. Denn es sind ja nicht irgendwelche Züge, sondern deutsche U-Bahnen, die für mich assoziativ nicht frei von der nationalsozialistischen Vergangenheit sind. Auf der psychologischen Ebene erzählt es das Gleiche.
Sharon Adler: Worin siehst du deine Verantwortung in der Darstellung, der Sichtbarmachung jüdischer Themen im deutschen Film?
Sharon Ryba-Kahn: Meine Verantwortung ist, dass ich es versuche. Ob ich dann gehört werde, das entscheide ich leider nicht. Das hat auch was mit der Art und Weise zu tun, wie Gesellschaft funktioniert. Wer traute sich oder wer traute sich nicht, „Displaced“ zu zeigen? Wer möchte sich mit dem Film auseinandersetzen? Ich glaube, dass meine Verantwortung darin liegt, die Nuancen sichtbar zu machen. Das Ungesagte, das Unausgesprochene, das Unbequeme ganz klar und deutlich zu benennen. Das ist meine Verantwortung. Und diese nehme ich sehr ernst. Aber das heißt natürlich auch, die Komplexität darzustellen. Die Verantwortung liegt darin, den Mut zu haben, das Unbequeme zu benennen, und zu verstehen, dass man überhaupt eine Verantwortung hat. Aber nicht jede/r muss sie ausleben. Ich trage sie bewusst. Ich nehme sie bewusst an.
Sharon Adler: Was würdest du bezüglich der authentischen und empathischen Abbildung jüdischer Themen jungen nicht-jüdischen Studierenden der Filmwissenschaften empfehlen? Welche Instrumente braucht es dafür in der Ausbildung/Studium?
Sharon Ryba-Kahn: Wenn mich jemand um Rat fragen würde, würde ich nachfragen, warum es interessant für die Person ist und warum sie gerade dieses Thema bearbeiten will. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage kann nur mit brutalster Ehrlichkeit geführt werden. Mein Rat wäre: Rede mit jüdischen Menschen. Aber als allererstes, bevor du dich mit jüdischen Menschen auseinandersetzt: Sei dir bewusst, was du weißt und was du nicht weißt. Und sei demütig und frage dich vor allem, warum möchtest du diese Geschichte erzählen?
Sharon Adler: Können deine Filme auch an Schulen oder Bildungseinrichten gezeigt werden? Sharon Ryba-Kahn: Ja, absolut. Ich glaube sogar, dass sie eine Möglichkeit sind, mit der Shoah anders umzugehen. Die Tendenz in deutschen Schulen ist eine „objektive Herangehensweise” von Geschichte. Dies mag vielleicht möglich sein, wenn es sich nicht um die Nachfahren von Täter*innen handelt, aber in Deutschland sehe ich das mit dem Thema Shoah als unmöglich an. Ich glaube, die persönliche Herangehensweise in meinen Filmen zeigt, wie man ein Verantwortungsbewusstsein im kollektiven Sinn haben kann.
Diese kollektive Verantwortung, sich seiner Geschichte ehrlich zu stellen, sieht man in „Displaced”. Dieser Auftrag muss allerdings von den Lehrer*innen bewusst angenommen werden. Das Verantwortungsgefühl für Geschichte muss gegeben sein. Wenn es dieses Verantwortungsgefühl nicht gibt, oder schlimmer, wenn sie die Forderung nach einem „Schlussstrich” vertreten, dann kann „Displaced” ohne Begleitmaterial auch nicht helfen. Ich glaube aber, dass gewisse Dokumentarfilme die Geschichte neu erlebbar machen und deswegen für die Schüler*innen eine Chance sind, sich mit Geschichte anders als nur „schulisch” auseinanderzusetzen. Dies entspricht auf jeden Fall meiner Erfahrung.
Sharon Adler: Anders als im Genre Dokumentarfilm lässt das Genre Spielfilm mehr künstlerischen Spielraum für die Darstellung und Interpretation der Figuren und des Plots. Welche Sprache und Bildersind nötig, um antisemitische Strukturen und Klischeebilder über Jüdinnen und Judentum im (Spiel-)Film zu demaskieren, ihnen entgegenzuwirken?
Sharon Ryba-Kahn: Ich glaube, dass man an Spielfilmen viel leichter erkennt, wann Klischees genutzt werden und wann nicht. Allerdings – und das ist das Gefährliche im Spielfilm – werden sie leicht akzeptiert, wenn man selbst keine Ahnung hat und man durch einen Spielfilm eine neue Kultur, oder einen neuen Kontext entdeckt. Die einzigen, die sich dann darüber aufregen, sind die Gruppen, von denen sie handeln. Und die anderen sehen das nicht. Spielfilm bedeutet nicht, dass man nicht gut recherchieren muss. Ganz im Gegenteil. Du musst die kulturelle Welt noch besser kennen und verstehen, du musst die Klischees noch besser kennen, um diesen Kosmos erzählen zu können und andere Bilder zu finden. Für einen Film zum Thema Antisemitismus und gegen antisemitische Bilder müsste ich mir dramaturgische oder filmische Mittel überlegen, Sprache und Bilder nutzen, um antisemitische Strukturen und Klischee-Bilder über Jüdinnen und Judentum zu demaskieren.
Sharon Adler: Welche dramaturgischen Elemente bräuchte es dafür?
Sharon Ryba-Kahn: Ich gebe mal ein positives Beispiel. Ein Film muss meines Erachtens gegen Stereotype ankämpfen und Komplexitäten darstellen können. Das heißt, nicht jeder Ultra-Orthodoxe ist ein Siedler. Nicht jeder Ultra-Orthodoxe hasst Palästinenser. Filme erzählen immer besondere Geschichten. Ein gutes dramaturgisches Mittel ist für mich eine Geschichte, die die Komplexität der Situation darstellt und nichts verschönert oder schlechter darstellt.
Sharon Adler: Kannst du Beispiele für antisemitische Strukturen und Klischeebilder über Jüdinnen und Judentum beziehungsweise Judentum im (Spiel-)Film nennen?
Sharon Ryba-Kahn: Ein gutes Beispiel ist der Film „The passion of the Christ“.
Sharon Adler: Im Rahmen des Projekts „Hakara – Transgenerationalem Trauma begegnen”
Sharon Ryba-Kahn: Es geht dabei um kollektives transgenerationales Trauma und was das für die Menschen bedeutet. Bisher habe ich zwei Staffeln produziert. In der ersten Staffel spreche ich mit fünf verschiedenen Menschen, darunter sind Filmemacher*innen, Autor*innen, ein Rapper, und der 94-jährige Uncle Boydie. Sein Großvater, mit dem er aufwuchs, war William Cooper. Als dieser in den Zeitungen las, was am 9. November 1938 während der sogenannten Reichskristallnacht in Deutschland passiert ist, setzte er im Namen der Australian Aborigines' League einen Protestbrief auf.
Am 6. Dezember 1938 marschierte er gemeinsam mit einer Delegation der Organisation viele Kilometer zu Fuß nach Melbourne, um den Brief im deutschen Konsulat abzugeben. Indigene Menschen wurden selbst zu dieser Zeit nicht wie Menschen behandelt. Diese Zivilcourage hat mich zutiefst beeindruckt. In der zweiten, fünfteiligen Staffel, die im Herbst 2022 erscheint, spreche ich mit Künstler*innen und Expert*innen verschiedener Generationen, die in unterschiedlichen Kontexten Gewalterfahrungen erlebt haben. Darunter ist auch die Sängerin und Aktivistin Tayo Awosusi-Onutur, die sich als Afro-Sintezza identifiziert.
Es war traurig, verstörend und leider nicht überraschend zu hören, welche Erfahrungen sie und andere Menschen der Roma und Sinti Community in Deutschland weiterhin erleben müssen. Außerdem sind in der Reihe auch zwei Trauma-Expert*innen dabei, darunter Esther Mujawayo Keiner, eine Überlebende des Genozids in Ruanda im Jahr 1994. Und ich rede auch mit Dr. Yael Danieli, die in New York lebt und die wichtigsten Bücher, unter anderem über kollektives-transgenerationelles Trauma geschrieben hat, die ich auch in meiner Dissertation nutze.
Anhand ihres Modells versteht man, wie die verschiedenen psychologischen Ebenen von kollektiven transgenerationellen Traumata funktionieren und wie sie sich unterscheiden, welchen Einfluss verschiedene Gewalterfahrungen in verschiedenen Kulturkreisen, mit verschiedenen Menschen, mit verschiedenen Generationen, haben. Für mich ist es toll, die Möglichkeit zu haben, mit diesem Konzept zu arbeiten und eine Podcast-Serie zu machen, wo verschiedene Erfahrungen nebeneinanderstehen können, ohne sie vergleichen zu müssen.
„Invisible Wound” nutze ich auch als eine Form der Quellensammlung für meine Dissertation „Repräsentierungen von Traumata in Dokumentarfilmen“. Insofern ist das auch direkt miteinander verknüpft. In der nächsten Staffel soll es darum gehen, wie ein Trauma im Körper fortwirkt. Für die Zuhörer*innen ist der Podcast eine Chance, zu erfahren, dass ein transgenerationelles kollektives Trauma eine Gewalterfahrung ist, die in vielen Gesellschaften präsent ist.
Zitierweise: „Sharon Ryba-Kahn: „Das Humanistische ist der Leitfaden meiner Arbeit““, Interview mit Sharon Ryba-Kahn, in: Deutschland Archiv, 22.11.2022, Link: www.bpb.de/515463