Fünf Nachrufe auf den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler, Volkskammerabgeordneten und späteren Europapolitiker Werner Schulz, der am 9. November 2022 im Alter von 72 Jahren während eine Tagung im Bundespräsidialamt starb. Von Gerhard Rein, Jens Reich, Rolf Schwanitz, Anja Schröter und Markus Meckel.
Gerhard Rein: "Requiem für Werner"
Vorgetragen auf der Trauerfeier für Werner Schulz in der Berliner Gethsemanekirche. Gerhard Rein war langjähriger Hörfunk-Korrespondent in der DDR mit intensiven Kontakten zur Evangelischen Kirche und zu Werner Schulz, der sich dort intensiv engagierte:
"Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg? Der Stachel sitzt tief. Unsere Traurigkeit hält an.
Als uns die Nachricht erreichte, haben wir geheult. So oft kommt das ja nicht vor. Wir lesen noch einmal seine Texte, seine Reden, Jahre her, und die letzten E-Mails, nur ein paar Wochen alt.
Werner Schulz hat wiederholt den Pankower Friedenskreis als Einübung in Demokratie geschildert. Man lernte sprechen, diskutieren, abwägen. Werner hat hier sein rhetorisches Talent entdeckt, das ihm später mit denkwürdigen Reden im Deutschen Bundestag zu einem bemerkenswerten politischen Weg verholfen hat.
Wer zum Friedenskreis kam, konnte die DDR nicht stumm ertragen. Man wollte sie nicht abschaffen. Man wollte eine andere DDR, sie demokratisieren. Man sprach von einem demokratischen Sozialismus. Was ich aber erinnere:
Zitat
Werner dachte anders. Er dachte über die DDR hinaus. Alles für eine Demokratie. Aber nicht in den Farben der DDR. Die friedliche Revolution hat er als eine protestantische Revolution beschrieben, weil die Evangelischen Kirchen das Basislager für die Revolution bereitgestellt hatten. "Die Kirchen als Basislager für die friedliche Revolution" gehört längst zu den denkwürdigen Sätzen von Werner Schulz.
Warnend vor Putin schon 2001
Was ich bis heute kaum begreife, kaum erklären kann: Warum hat Werner Schulz, früher als wir alle, also fast alle, wahrgenommen, welche Gefahr von Putin ausgeht?
Zitat
Es ist ja in den letzten Wochen oft beschrieben worden, dass Werner Schulz den Bundestag still, aber demonstrativ verlassen hat, als Wladimir Putin dort 2001 den Kalten Krieg als beendet erklärte. Stehende Ovationen für Putin, aber Werner verlässt das Hohe Haus. Er hatte Kontakt zu russischen Oppositionellen, zu Andersdenkenden, zu Kritikerinnen des russischen Regimes. Er wusste, dass dem Diktator nicht zu trauen war. Der Tschetschenien-Krieg war für ihn ein Beleg dafür.
Allen, die es genauer und intensiver wissen und nachlesen wollen, empfehle ich einen Text von Werner aus dem Jahr 2012. Es ist die Begründung dafür, warum die russische Punkband "Pussy Riot" den Preis "Das unerschrockene Wort" erhalten sollte. Ein Preis, den deutsche Lutherstädte seit 1995 alle zwei Jahre in Erinnerung an Martin Luthers Mut verleihen.
Der Text von Werner Schulz über die Preiswürdigkeit der Frauenband "Pussy Riot" ist nur 21 Seiten lang. Er zitiert aus dem kurzen Gebet der drei Frauen in der leeren Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau.
"Mutter Gottes, Ave Maria, erlöse uns von Putin"
und später:
"Der Patriarch glaubt an Putin, besser sollte er, der Hund, an Gott glauben"
Diese provokativen Gebete, vor mehr als zehn Jahren gesprochen, kommen uns sehr aktuell vor. Werner Schulz kommentiert die Aktion der drei Frauen so:
Zitat
"Sie haben das getan, was uns Protestanten geläufig sein müsste: Sie haben ein Zeugnis der Wahrheit abgelegt."
"Pussy Riot" hat den Preis "Das unerschrockene Wort" nicht erhalten. Das lag auch daran, dass zwei, wie sagt man heute, "namhafte Christen", Friedrich Schorlemmer und Richard Schröder, über den Vorschlag von Werner Schulz sehr erschrocken waren und lautstark, wie es ihre Art ist, öffentlich dagegen protestierten, und den drei Frauen "Gotteslästerung" vorwarfen. Der Protestant und Laie und Christ Werner Schulz, immerhin sechs Jahre lang Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, hat dann die berühmten Theologen darüber aufgeklärt, was Gotteslästerung ist – und was nicht.
Der verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine, Krieg in Europa, hat zahlreiche Menschen überrascht, irritiert, verängstigt. Für Werner Schulz war er voraussehbar. Dass er mit seiner Einschätzung Putins Recht behalten hat, brachte Werner keine Entlastung. Die innere Spannung, die ihn auszeichnete und ständig begleitete, war unverändert zu spüren. Er hielt die Fehleinschätzung von so vielen Politikern aller Schattierungen für fatal und ihre Kehrtwende kam ihm viel zu spät.
Am 1. März 2022 schrieb er mir:
Zitat
"Lieber Gerhard, es scheint mein Schicksal zu sein, immer wieder gegen den Strom zu schwimmen... Dabei halte ich mich nicht für einen notorischen Rebellen. Offenbar haben mich die Lebensumstände in der DDR in eine besonders kritische Habachtstellung gebracht. Das begann schon mit dem Mauerbau, dem Einmarsch der Sowjets 68, der Invasion 79 in Afghanistan. All das hat meinen Widerspruch ausgelöst und mich in große Schwierigkeiten gebracht. Im Friedenskreis war es die nationale Frage, die der Mehrheit unpassend schien. Im Bundestag dann Schröders Agenda und die verlogene Selbstauflösung des Parlaments, wogegen ich angekämpft habe."
In Werner Schulz ungemein kenntnisreichen Texten und Vorträgen über die Ukraine und Putins Verbrechen kommen die USA, die NATO, der Westen in der Regel nicht vor. Und der gelernte Wessi, politisch auch geprägt vom Vietnam- Krieg und weiterem Unheil, das die USA bewirkt haben, lässt seinen Freund aus der Uckermark das auch wissen. Er empfindet es als nicht richtig. Werner bestätigt das, und wir fangen an, uns über die Gründe für Werners strikte Haltung auszutauschen.
Ach was, wir haben angefangen. Aber das ist ja nun alles vorbei. Der Jammer setzt wieder ein. Und die Tränen. Der Stachel sitzt tief."
Molekularbiologe, Mitbegründer des Neuen Forums in der DDR, Fraktionssprecher von Bündnis 90/Grüne in der frei gewählten Volkskammer 1990 in einer Mail an das Deutschlandarchiv:
Zitat
Einen schnellen Nachruf auf Werner Schulz? Dazu ist Werners politisches Leben so dramatisch, brilliant und dabei auch gescheitert. Das lässt sich nicht in ein paar schnellen Sätzen formulieren. Das erfordert Nachdenken und Zeit.
Aber diesen Satz mit dem Scheitern kann ich nicht unkommentiert in die Welt herauslassen. Er allein könnte unnötige Kränkung und Protest und Vorwürfe hervorrufen - es gehört deshalb unbedingt ein Zusammenhang dazu: Mit „gescheitert“ meine ich, dass er aus Ursachen von 1989/1990 nicht in eine linksliberale Partei kommen konnte, sondern zu den Grünen, deren grundsätzliche Orientierung auf eine Zukunft ohne ständiges Wirtschafts- und Konsumwachstum er zwar auch in einer liberalen Partei kämpferisch unterstützt hätte, jedoch ohne die ideologische Verklemmung der Grünen Bewegungskämpfe jener Jahre. Zu den Grünen war damals der einzige für ihn gangbare Weg in die Politik als Beruf. „Geht doch zu den Grünen, da passt ihr am ehesten hin!“, war der leicht vergiftete Ratschlag der politischen Ratgeber aus dem Westen, die mit den „Bürgerbewegten“ nichts anfangen wollten, sie aber nicht ins Abseits stellen wollten.
So wie es kam, hat er sich in seinen Jahren im Bundestag in einer Auseinandersetzung mit Joschka Fischer in Partei und Fraktion sinnlos verkämpft und wurde langsam an den politischen Rand der Partei abgedrängt und schließlich nicht mehr mit einem Bundestagsmandat versehen. Dieses Ergebnis meine ich mit „Scheitern“, es ist ein Scheitern seines politischen Grundkonzepts, unter dem er natürlich gelitten hat. Selbst sein Mandat im Europaparlament hat er sich energisch als „Trostpreis“ erkämpfen müssen.
Mitglied der sozialdemokratischen SDP 1989 in der DDR und später langjähriger Bundestagsabgeordneter, im Newsletter der "Plattform zur Erinnerung an die Friedliche Revolution im Vogtland", Externer Link: www.vogtland89.de :
"Werner Schulz wurde 1989 Millionen Menschen als eine zentrale Persönlichkeit des Neuen Forum bekannt. Er gehörte zu jenen, die der neuen Oppositionsbewegung Gesicht und Stimme gegeben haben. Sein Name wird mit der Friedlichen Revolution 1989 dauerhaft verbunden bleiben. Als einer der wenigen „89er“ blieb Werner Schulz danach dauerhaft in der Politik – erst im Deutschen Bundestag und dann im Europaparlament.
Werner hatte einen klar erkennbaren inneren Kompass: Das waren die Humanität sowie die Freiheits- und Menschenrechte, die täglich neu bewahrt, verteidigt und auch erobert werden müssen. Werner Schulz war ein kluger Kopf, ein scharfer Analytiker und ein begnadeter Redner in der politischen Debatte. Die ihm gegebene rhetorische Brillanz ließ seine Beiträge zu besonderen Ereignissen werden. Politischen Auseinandersetzungen ging Werner nie aus dem Weg. Klar und deutlich sprach er aus, was Sache war - selbst dann, wenn es unbequem und schmerzhaft wurde. Politik sah Werner Schulz auch immer als einen aufklärerischen Auftrag gegenüber seinen Mitbürgern. Populismus war ihm deshalb nicht nur fremd, sondern auch zuwider - zu lange hatte er schließlich in einem ideologischen Unterdrückungsstaat ohne die Freiheit des Wortes leben müssen.
Unser Land und ganz besonders der Osten hat mit ihm einen großen Demokraten und einen wichtigen intellektuellen Kopf verloren. Aber er soll hier noch einmal selbst in seiner pointierten Art und Weise zu Wort kommen. Wir verlinken deshalb zwei Videoaufnahmen mit ihm:
Im ersten Interview spricht Werner Schulz über "frühes gesamtdeutsches Denken", politisches Bewusstsein und Engagement und über das für ihn so wichtige Jahr 1989, das er als "Antwort auf Prag 1968" definiert hat. Das Zeitzeugengespräch wurde im August 2018 in der Stiftung Aufarbeitung mit Schulz geführt. Externer Link: Das Youtube-Video finden Sie hier. In einem zweiten Video aus dem Mai 2022 im Sender phoenix äußert sich Werner Schulz mit aller Klarheit zu Putin und zum Krieg in der Ukraine. Seine harte Analyse hat sich leider bestätigt: Externer Link: Das phoenix-Video finden Sie hier."
"Werner Gustav Schulz wurde am 22. Januar 1950 in Zwickau als Sohn eines selbstständigen Fuhrunternehmers in ein sozialdemokratisch geprägtes Elternhaus geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend. Den Mauerbau 1961 erlebte er während eines Ferienbesuches bei seiner Großmutter in Baden-Württemberg, kehrte aber gemeinsam mit seinem Vater zu Mutter und Schwester nach Sachsen zurück.
1966 wurde seine Schwester wegen versuchter Republikflucht verhaftet. Diese und andere Erlebnisse prägten den jungen Werner Schulz – auch die eigene widerwillige Unterschrift unter eine Resolution 1968, die den Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR befürwortete: Er hatte 1968 das Abitur mit Berufsausbildung zum Lokomotivschlosser absolviert und wollte im selben Jahr sein Studium der Lebensmitteltechnologie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin beginnen. Bereits bei der Einführungsvorlesung wurde der Student wie viele andere aufgefordert, die Resolution zu unterschreiben, weigerte sich jedoch, war zunächst bereit die angedrohte Exmatrikulation hinzunehmen.
Seine Mutter überzeugte ihn mit Verweis auf den Stolz des gerade verstorbenen Vaters über die Zulassung seines Sohnes zum Studium, dies wegen einer solchen "Formalie" nicht zu riskieren. Für Werner Schulz war die Unterschrift ein "Genickbruch" und zugleich ein Wendepunkt. Gegen seine Überzeugung wollte er nicht mehr handeln.
Weg in die Opposition
Während seiner Studienzeit lebte er im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg und knüpfte immer mehr Kontakte zu "Leuten, die ebenfalls eine kritische Sicht auf die Zustände in der DDR" hatten, wie er über seinen politischen Werdegang sagte. In Hinterhofwohnungen diskutierten sie, tauschten Literatur und Platten. Musikalisch bewegten ihn unter anderem Bands wie Studio 4, die Butlers und die Externer Link: Klaus-Renft-Combo. Zu einem treuen Anhänger von Gerulf Pannach wurde er Anfang der 1970er Jahre, wie Werner Schulz später mal in einem Brief an Amrei Pannanch schrieb. Er habe ihn im Mülsener "Armorsaal" kennengelernt, als Gerulf Pananch gemeinsam mit der Klaus-Renft-Combo auftrat und Lieder von Wolf Biermann sang. Der Mut "öffentlich zu sagen, was uns auf den Geist ging" hatte den jungen Studenten Werner Schulz beeindruckt. Er begann, sich in kirchlichen Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtskreisen zu engagieren, wandte sich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, verweigerte den Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee und leistete von 1976 bis 1978 Wehrersatzdienst als Bausoldat.
Für den Ersatzdienst musste er auch seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität unterbrechen, die er nach zwei Jahren im Volkseigenen Kühlbetrieb Berlin 1974 antrat, um zu promovieren. Das blieb ihm jedoch wegen seiner politischen Haltung verwehrt. Die Humboldt-Universität entließ ihn 1980, kurz vor der Fertigstellung seiner Dissertation, weil er sich gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan positionierte und sich diesmal endgültig weigerte, eine Resolution zu unterschreiben, die den Militäreinsatz befürwortete. Nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit war er von 1980 bis 1988 am Institut für Sekundärstoffwirtschaft (Recyclingtechnologie) Berlin und später bis 1990 in der Umwelthygieneinspektion Lichtenberg tätig. Sein politisches Engagement trennte er dabei nicht automatisch von seinem Berufsalltag. Manchmal nahm er, gegen die Warnungen des Institutsdirektors, auch Kollegen mit zu thematischen Veranstaltungen des Pankower Friedenskreises.
Die Mitbegründung des Pankower Friedenskreis 1981 war für ihn ein wesentlicher Schritt raus aus der "Wohnungsopposition" der Hinterhöfe im Prenzlauer Berg in einen öffentlicheren Raum. Dort konnte er mit seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen Veranstaltungen durchführen und mit anderen diskutieren. Werner Schulz betonte, dass dies der erste oppositionelle Kreis unter dem Dach der Kirche war, der den Ansatz der Charta 77 und Solidarność konzeptionell zusammenzubringen wollte. Der Gedanke sei gewesen, "die Kritik an der Militarisierung der DDR-Gesellschaft, den Demokratie-, Menschenrechts- und Umweltschutzdefiziten im Rahmen einer nicht staatlichen Institution öffentlich zu machen." Im Rahmen des Operativen Vorgangs "Virus" wandte das Ministerium für Staatssicherheit viel Energie für die Überwachung und Zersetzung des Friedenskreises auf.
Sein Mut, sich gegen das Regime zu positionieren, als es noch wenige taten, sollte 1989 belohnt werden. Diese Zeit war für ihn spannend und bewegend zugleich. Er protestierte etwa gegen die Fälschung der Kommunalwahlen am 7. Mai, wirkte an der Gründung des Neuen Forums mit, für das er auch als Verbindungsperson nach Sachsen fungierte und so die eindrucksvolle und wirkmächtige Demonstration am 9. Oktober in Leipzig hautnah miterlebte. 20 Jahre später betonte er in seiner Rede im Leipziger Gewandhaus, wie wichtig dieser Tag für die weiteren Entwicklungen war. Seitdem habe die "Zahl der Bürger in einem Land ohne Bürgerrechte" unaufhörlich zugenommen, sei aus der Bürgerrechtsbewegung eine Bürgerbewegung geworden.
Am 9. November 1989 schrieb er gerade mit anderen am Programm des Neuen Forums. Erst als ein Freund sie informierte, dass die Menschen an der Bornholmer Straße bereits die Grenze passieren, ließen sie die Papiere liegen. Werners Schulz weckte seine Frau Monika und überquerte mit ihr die Bösebrücke in den Westberliner Bezirk Wedding.
Plötzlich von der Befürchtung erfasst, nicht wieder zurückzukommen, kehrten sie um. Schließlich wollte Werner Schulz sein Land nicht verlassen, sondern es verändern. Später betonte er immer wieder, dass die Mauer am 9. November 1989 nicht einfach umgefallen ist. "Es war keine Maueröffnung oder was sonst noch behauptet wird." Der Druck und Freiheitswille der Menschen habe letztlich zum Mauerdurchbruch als "Schlussakt der Selbstbefreiung einer aktiven Generation" geführt.
Als Vertreter des Neuen Forums saß er am Zentralen Runden Tisch und setzte sich dort für eine neue Verfassung der DDR und eine gemeinsame Verfassungsdiskussion nach Artikel 146 des Grundgesetzes ein. In den letzten drei Jahrzehnten machte er immer wieder darauf aufmerksam, dass das Fehlen dieser Diskussion und somit einer gemeinsamen Legende für die neue Zeit im vereinten Deutschland zum Teil auch zum Frust vieler in Ostdeutschland beigetragen habe. Auch wenn diese Chance vertan wurde, bildete der Verfassungsentwurf für ihn ein wesentliches Vermächtnis der Friedlichen Revolution.
Der Weg zu Bündnis 90/Die Grünen, für die er nicht nur in der Volkskammer, sondern auch im gesamtdeutschen Bundestag und im Europäischen Parlament sitzen, streiten und gestalten sollte, hatte schon im Oktober 1989 begonnen. Werner Schulz hatte damals an der Gemeinsamen Erklärung verschiedenster oppositioneller Gruppen vom 4. Oktober mitgewirkt. Die Vertreterinnen und Vertreter hatten sich getroffen, um ein mögliches gemeinsames politisches Handeln zu besprechen. In der Erklärung benannten sie Eckpunkte für freie demokratische Wahlen wie die Pflicht eine Wahlkabine aufzusuchen oder die Kontrolle durch die UNO. Die Verfasser zielten außerdem auf eine Zusammenarbeit der Gruppen und ein Wahlbündnis mit gemeinsamen eigenen Kandidaten und Kandidatinnen. Werner Schulz gehörte zu den Befürwortern eines solchen Wahlbündnisses. Im Februar 1990 ging Bündnis 90 mit einer Kandidatenliste in den Wahlkampf für die erste freie und demokratische Volkskammerwahl am 18. März 1990. Diese Wahlen zu erleben, bezeichnete er als einen Höhepunkt seiner politischen Geschichte. Trotz des enttäuschenden Wahlergebnisses zog Werner Schulz in die Volkskammer ein. Er war Teil des zwanzigköpfigen Fraktionszusammenschlusses Bündnis 90/Grüne, rang unter anderem um den Weg zur deutschen Einheit, das Kommunalvermögensgesetz oder auch den Umgang mit den Stasi-Akten.
Deutsch-Deutsche Politik im Bundestag
Während die Kandidaten der westdeutschen Grünen bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen nach dem II. Weltkrieg am 2. Dezember 1990 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten, konnte die ostdeutsche Listenverbindung Bündnis 90/Die Grünen mit acht Kandidatinnen und Kandidaten in den Deutschen Bundestag einziehen. Werner Schulz wurde als einer von ihnen Sprecher und parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsgruppe.
In seinem Lebenslauf schrieb er, die Gruppe habe nach dem "Ausfall der Grünen die Sonnenblume im Bonner Tulpenfeld hochgehalten". 1991 vereinigten sich die Initiative Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt und Teile des Neuen Forums, inklusive Werner Schulz, auch zur politischen Partei Bündnis 90. Er leitet von 1991 bis 1993 die Assoziierungsverhandlungen mit der Partei Die Grünen. Angesichts der Unterstützung für die Opposition in der DDR, die von westdeutschen Grünen in den 1980er Jahren ausgegangen war, waren sie für ihn „genuine Verbündete“. Zudem sah er realpolitischer als andere aus der Bürgerrechtsszene dadurch die beste Überlebenschance für Bündnis 90 im bundesrepublikanischen Parteiensystem.
Trotz vieler Schwierigkeiten, von der Zerstrittenheit westlicher Grüner bis zur Kritik von Bärbel Bohley oder Konrad Weiß, gelang besonders ihm schließlich die Fusion beider Parteien – mit der Erstnennung des Zusammenschlusses aus ostdeutschen Bürgerbewegungen – zu Bündnis 90/Die Grünen. Für Werner Schulz entstand hier, was in der Verfassungsfrage versäumt worden war: eine deutsch-deutsche Vereinigung auf Augenhöhe. Auch nach dem Wiedereinzug westdeutscher Parteiangehöriger 1994 in den Bundestag blieb Werner Schulz bis 1998 Parlamentarischer Geschäftsführer. Nur acht Jahre nach der deutschen Einheit gehörte er während der rot-grünen Koalition als wirtschaftspolitischer Sprecher einer Regierungsfraktion an. Er blieb seit seinem Einzug in den Bundestag unbequem – wenn er etwa eine Militärintervention im Bosnienkrieg befürwortete, die parteieigene Offenheit für schwarz-grüne Koalitionen forderte oder 2003 als einziger Bündnisgrüner nicht dem dritten und vierten Hartz-Gesetz zustimmte und sich auch bei der Gesundheitsreform der Stimme enthielt.
Werner Schulz war ein mitreißender Redner – das bewies er nicht nur bei seiner erfolgreichen Kandidatur für einen Berliner Listenplatz für die Bundestagswahl 2002. Sah er demokratische Werte in Gefahr, begehrte er auf – so auch 2005 als Bundeskanzler Gerhard Schröder eine "unechte Vertrauensfrage" stellte – und ging bis vor das Bundesverfassungsgericht. Für seine scharfzüngige Erklärung gegen das politische Manöver erhielt er massive Kritik, aber auch eine Auszeichnung für die Rede des Jahres aus der Universität Tübingen.
Nach den durch die Vertrauensfrage herbeigeführten Neuwahlen schied Werner Schulz aus dem Bundestag aus, blieb aber lokal politisch aktiv, publizierte oder hielt Vorträge. Außerdem widmete er sich dem Ausbau seines Rückzugortes in der Uckermark, wo er schließlich bis zu seinem unerwarteten Tod mit seiner Frau Monika lebte. Erholung fand er nicht nur zu dieser Zeit unter anderem an der Ostsee. Seine Frau Monika, mit der er zwei erwachsene Kinder und Enkelkinder hatte, stand in all den Jahrzehnten bei seinen umfänglichen politischen Aktivitäten nicht nur an seiner Seite, sie teilte seine Prinzipien und sein Engagement trotz der Hürden und Risiken.
Europaabgeordneter mit wachem Blick nach Osten
Seinen Einzug ins Europaparlament 2009 hatte der Vollblutpolitiker erneut seiner Fähigkeit zu wirkmächtigen Worten zu verdanken. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz seiner Partei hatte er sich mit einer fulminanten Rede entgegen der Nominierungen von einer Abseitsposition auf einen sicheren Listenplatz gekämpft. Im Europaparlament, dem er daraufhin bis 2014 angehörte, war er Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, stellvertretendes Mitglied im Wirtschafts- und Währungsausschuss und stellvertretender Vorsitzender der Russland-Delegation des Europäischen Parlaments.
Er warnte seit Jahren vor den Gefahren, die vom putinistischen Russland für Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa ausgehen. Schon als Wladimir Putin 2001 seine viel "beklatschte" Rede vor dem Deutschen Bundestag hielt, zeigte er sich unter anderem angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien entsetzt darüber, dass die Parlamentarier ihn wie "einen Enkel Gorbatschows" gefeiert und nicht als "Ziehsohn des KGBs" erkannten. In seiner Zeit im Europäischen Parlament widmete er sich verstärkt den Entwicklungen im östlichen Europa und Russland. Begegnungen wie mit der 2006 in Moskau erschossenen Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja oder dem 2015 ebenfalls in Moskau ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow prägten ihn. Er erinnerte sich an die Unterstützung der westdeutschen Grünen für die oppositionellen Kräfte in der DDR und wollte ebenso die russische Opposition unterstützen, setzte sich u. a. auch für die Putin-kritsiche Punkrock-Band Pussy Riot ein.
Am Ende seiner Legislatur 2014 mahnte er mit historischem und weitsichtigem Sachverstand die EU, Putin und seiner "Macht-Clique" Einhalt zu gebieten und die sicherheitspolitischen Bedenken in Osteuropa – u. a. der Ukraine – und die Aufpolierung des Feindbildes "Westen" ernst zu nehmen. Viele, die meisten, wollten ihn nicht hören. Noch am 22. Februar 2022, zwei Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, verfasste er einen Offenen Brief an den Bundesvorstand und die Regierungsmitglieder seiner Partei, verwies auf das Völkerrecht, das Budapester Memorandum und warb um Waffenlieferungen an die Ukraine und vieles mehr.
Ein temperamentvoller Streiter für die Werte der freiheitlichen Demokratie
Für sein energisches Engagement in Geschichte und Gegenwart wurde er mehrfach geehrt, u. a. mit dem Verdienstkreuz am Bande sowie dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland und zuletzt noch in diesem Jahr mit dem Deutschen Nationalpreis.
In welcher politischen Position Werner Schulz sich auch immer befand, bemühte er sich um die Aufklärung über die SED-Diktatur, besonders den Widerstand und die Opposition dagegen und die Errungenschaften der Friedlichen Revolution, unterstütze auch die Gründung der Robert-Havemann-Gesellschaft und ihre Arbeit und Vorhaben bis ins Jahr 2022 hinein. Er war ein seltenes energisches großes Stück Bündnis 90 in der gesamtdeutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen.
Werner Schulz bestach durch seine pointierte Analyse und Weitblick, war belesen, zitierte unter anderem Václav Havel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stefan Zweig, Jewgeni Jewtuschenko Tuschenko oder Erich Loest. Letzterer habe ihn stark geprägt, inspiriert, sich den Mund nicht verbieten zu lassen und Mut für einen demokratischen Widerstand gegeben. Werner Schulz konnte sich herrlich aufregen etwa über Gregor Gysi oder in der Auseinandersetzung mit Jana Hensel und Detlef Pollack um die Interpretation der Friedlichen Revolution und unermüdlich in ein Thema verbeißen. Manchmal konnte er in seinem aufrichtigen Eifer "der Sache willen" auch über das Ziel hinausschießen. Aber er hatte Mut zu widersprechen, agierte aus tiefer Überzeugung oft gegen den Strom. Er war ein streitbarer und unermüdlicher Kämpfer für die Rechte der Menschen, Freiheit und Demokratie und ließ aufhorchen, wenn er sich zu Wort meldete.
Er selbst gehört zu den Persönlichkeiten, die durch ihren Mut und ihre Beharrlichkeit dazu beigetragen haben, dass die Menschen aus der DDR die Mauer am 9. November schließlich durchbrachen. Als Schicksalstag der Deutschen mit seinen guten und schlechten Seiten wollte er den 9. November zum "nationalen Gedenkfeiertag" machen, der auch die innere Einheit der Nation voranbringen könne. 33 Jahre nach dem Mauerdurchbruch verstarb Werner Schulz, ein unermüdlicher Mahner mit Weitblick und Streiter für die freiheitliche Demokratie in Deutschland und Europa, plötzlich und ausgerechnet an diesem historischen Tag. Auch nach 72 ereignisreichen und wirkungsvollen Jahren viel früh – Du hättest uns noch sehr viel zu sagen gehabt.
Lieber Werner, ich danke Dir für Deine Geschichte und die Gespräche mit Dir, die mich schon in meiner Jugend nachhaltig inspiriert haben. Ich werde unseren Austausch, Deinen wachsamen Geist, Deine leidenschaftliche Stimme für eine freiheitliche Demokratie in Deutschland und Europa sehr vermissen."
Anja Schröter
Markus Meckel: "Ein mutiger und profilierter Streiter für Freiheit und Demokratie":
Zitierweise: Deutschland Archiv, "Fünf Gedanken über Werner Schulz, von Gerhard Rein, Jens Reich, Rolf Schwanitz, Anja Schröter und Markus Meckel", in: Deutschland Archiv der bpb, 18.11.2022, zuletzt erweitert am 28.10.2023. Link: www.bpb.de/515415. Alle Beiträge auf Externer Link: www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Zum Hintergrund:
Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz starb am 9. November 2022 während einer Tagung im Schloss Bellevue, dem Dienstsitz des Bundespräsidenten. Diskutiert wurde über die vielschichtige Bedeutung des Externer Link: 9. November. Er hatte dort ebenfalls Stellung nehmen wollen, und auch dem Deutschlandarchiv einen Beitrag versprochen. In einem öffentlichen Kondolenzbrief an seine Frau Monika würdigte ihn später Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: "Externer Link: Uns allen geht ein Streiter für die Freiheit verloren."
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.