Dieser Text versucht eine Zuordnung, Einordnung. Es geht mir darum, etwas kenntlich zu machen.
Wann es anfing? Am 26. April 2018. Vor viereinhalb Jahren. Eine Pressekonferenz in Berlin. Drei Frauen auf dem Podium, die ihre Geschichten erzählten. Es ging um Körper, Missbrauch, Gewalt, Sport, den Osten. Ich hatte zu moderieren. Im Saal viele Medienvertreter. Wenig später eine Mail: Dass man nun anfange, zur Doping-Opfer-Hilfe (DOH) zu recherchieren und da ein paar Steine umgedreht werden müssten. Fünf Monate später der „Nordkurier“, ein Regionalblatt aus Neubrandenburg, mit einer ganzen Artikelserie über den DOH, respektive über mich. Ein mediales Stakkato, in dem der Verein als „Geheim-Institution“ aufgebaut wurde und ich als Vorsitzende offenbar die Sektenführerin zu geben hatte. Die Vorwürfe waren immer dieselben: gefakte Zahlen, unberechtigte Ansprüche, subjektive Opfergefühle, das Ganze ein einziger Selbstbedienungsladen.
Die Zahlen erwiesen sich qua Arbeitsstatistik des DOH und der Landesbeauftragten als korrekt, die Entschädigungen waren per Gesetz abgesichert und liefen übers Bundesverwaltungsamt, der objektive Tatbestand der Körperverletzung und damit der Opferstatus der Betroffenen war mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. September 2001 geklärt. Was also sollte das Ganze? 2013 hatte die Historikerin Christiane Baumann eine Studie über den „Nordkurier“ veröffentlicht. Aus ihr ging hervor, dass es dem Blatt gelungen war, seine belastete Vergangenheit weit über das Jahr 1989 hinaus auszublenden. Die Logik des Alten blieb somit erhalten, trotz teilweise neuer Personalbesetzung. Noch 1989 hatte jeder Vierte in der Hauptredaktion als Zuträger der Staatssicherheit gedient. Von 14 Lokalchefs waren 1987 immerhin zehn für den Geheimdienst aktiv. Die Sportredaktion, hieß es, sei „früher quasi eine Außenstelle der Staatssicherheit gewesen“. Dort konnten bis zuletzt ehemalige Stasi-Journalisten unter wechselnden Pseudonymen für die Zeitung schreiben.
"Angriffe auf ein politisches Opferprojekt"
Die Angriffe auf ein politisches Opferprojekt, der noch immer hochemotional aufgeladene DDR-Sport und das System der Restauration: Es geht um Identitätsfragen, Deutungshoheiten, um Karrieren, Täter- und Opfertraumata. In kaum einem anderen Bereich der Gesellschaft fällt der Stand der Aufarbeitung zur zweiten deutschen Diktatur so defizitär aus wie im DDR-Sport. Die Täter konnten nach dem Ende der juristischen Aufarbeitung im Jahr 2000 ohne ernsthafte Prüfung in die Strukturen zurückrudern, das Gewaltklima an den Sportschulen und in den Clubs blieb großteils erhalten, der Status der Sportopfer mäanderte trotz der Urteile und Prozesse unversichert im gesellschaftlichen Nirgendwo. Warum war das so?
Die Falschbehauptungen des Nordkurier erwiesen sich als haltlos und wurden juristisch geklärt. Ein offenkundig inszenierter Eklat, eine gezielte Stellvertreterdebatte also. Wirksam war das Ganze dennoch. Es setzte das Narrativ für die erhoffte strategische Umschreibung, die im Kern die Frage betraf: Über welche DDR reden wir hier? War sie der solidarische Friedensstaat, , eine Art Wohlfühlschaf? Oder gelingt es, haltbare Referenzsysteme zu schaffen und ihre Diktaturgeschichte zu klären? Im November 2018 erhielten die Altnetzwerker engagierte Unterstützung durch ein Quartett selbstberufener Aufklärer, das mit einem 60-seitigen Pamphlet an die Öffentlichkeit ging.
Erneut unbelegte Behauptungen, keine Sachfragen, keine substantielle Kritik. Erneut null Kenntnis über die konkrete Arbeit, kein einziger Besuch in der DOH-Beratungsstelle, kein Blick auf diejenigen, die über Jahre im Ehrenamt versucht hatten, für die wachsende Zahl der Opfer eine Hilfsstruktur aufzubauen. Der Angriff wollte vor allem eins: der große „Abräumer“ sein. Dabei klangen die Vorwürfe wie aus dem „Nordkurier“ abgeschrieben: die Fakezahlen, der Psychokram, das Unwissenschaftliche, die korrupten Aufarbeiter. Die FAZ bewertete die Auftritte später als „bösartige Unterstellungen“, die den Versuch unternahmen, „die Doping-Opfer-Hilfe zu vernichten und ihre namhaften Repräsentanten gleich dazu“.
Noch einmal eine kurze Lageabklärung: Wo befanden wir uns? Eine Diktatur und ihr Sportsystem, viele Siege und ihr Dunkelfeld, genauer der geheime Staatsplan 14.25, umgesetzt ab 1974 an etwa 12 000 bis 15 000 Aktiven. Es ging um staatlich gelenktes und staatlich bezahltes Doping, zentrale Anwendungs- und Forschungskonzeptionen, deren Weiterentwicklung und Geheimhaltung.
Im Jahr 2000 fand schließlich der große Berliner Doping-Prozess statt. Sein Urteil fiel einhellig aus: Die 20 Nebenklägerinnen, darunter auch ich, wurden durchweg als „Geschädigte ... in einem totalitären Machtapparat“ anerkannt. In der Revision durch den Bundesgerichtshof war von einem „zentral gesteuerten systematisierten Doping“, einem „staatlich gelenkten und organisierten System“ die Rede und davon, dass die Opfer „von Staats wegen … für Staatszwecke instrumentalisiert“ worden waren. Das galt ausdrücklich unabhängig davon, ob es sich um minderjährige oder erwachsene Aktive gehandelt hatte.
"Sollte all das über Nacht „abgeräumt“ und für nichtig erklärt werden"?
Warum ich das hier nochmal aufschreibe? Mit den Prozessen und Urteilen war die Sportgeschichte der DDR durchgesiebt, geklärt und juristisch entschieden. Es waren historische Tatsachen. Und im Jahr 2018? Sollte all das über Nacht „abgeräumt“ und für nichtig erklärt werden. Keine Systemfrage mehr, keine staatliche Willkür, keine historischen Zusammenhänge, stattdessen nur noch Heulsusen, die einzig nach der Kohle schielten und doch zu jeder Zeit und überall die Wahl gehabt hatten. Man hätte nicht gemusst, man hätte Nein sagen können, so der Vorwurf.
Was war passiert? Auf der Seite der Täter hatte man sich in den Jahren nach 2000 gründlich reorganisieren können. Die Klientel traf sich in Altstasi-Vereinen wie die „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“ oder bei den „Kundschaftern der DDR“, schrieb bei „Rubikon“ oder „RotFuchs“, besetzte nach und nach diverse Wikipedia-Rubriken und verteidigte den DDR-Sport als heiligen Siegergral des Systems. Opfer? I wo. Verbrechen? Na, also bitte.
Eine neue Art von Identitätspolitik, die letztlich zur politischen Stimmung im Land passte. Die verpasste Aufarbeitung der Doppeldiktatur im Osten war spätestens mit 2015 zusehends zum politischen Störmoment geworden. Der Blick auf Ostdeutschland wurde deutlich nervöser. Das politische Berlin setzte dennoch unbeirrt auf sozialen Frieden, insbesondere darauf, die brennenden Schieflagen in Sachen Gedächtnispolitik wegzumoderieren. Das, obwohl den Politakteuren klar war, dass ungeschützte Opferprojekte unselige Allianzen auf sich zogen. Was ist eine Politkampagne? Ein Feldzug? Ein Magnetismus? Eine mehrstufige Verästelung? Eine Aktion mit einem klar definierten Ziel? Eine Unerzählbarkeit?
Die Jahre nach 1989 und wie das kollektive Tätertrauma lernte, die Vorzüge einer Gesellschaft zu nutzen, die es bis 1989 bekämpft hatte. Das Untergründige, Unangeschaute, Reorganisierte, durch das der Status der Opfer kontinuierlich fragil blieb. Wer durfte sich als solches bezeichnen? Musste ein Opfer nicht eine reine, lineare Erzählung aufweisen? Das politische Projekt DDR-Sportopfer stand dabei von Beginn an in mehrfacher Hinsicht unter Druck. Im Feld der Täter – ob Trainer, Funktionäre, Journalisten, Ärzte, Körperforscher – war klar, dass die Opfer gar nicht erst hochkommen durften. Es hatte kein Opfernarrativ zu geben, das die Lebensbilanz in Frage stellte. Man hatte gesiegt. Das sollte so bleiben. Und ansonsten? Sah der vereinte Sport keinerlei Satisfaktionsbedarf und beschwor seine „Vereinigungseffekte“. Die Politik wiederum agierte lange Zeit abwiegelnd und versuchte, den Ball flach zu halten. Den Sportausschüsslern und Sportanrainern schien das Thema DDR-Aufarbeitung letztlich egal.
Und im Osten? Blieb der Sport eine hochambivalente Angelegenheit. Einerseits war er Bild- und Identitätsgeschichte per se, andererseits war er vor allem in den Reihen vieler Bürgerrechtler und Systemkritiker ein eher ungeliebtes Kind. Wie konnte jemand zum Opfer werden, der für die Diktatur gesprungen war und für sie geschmissen hatte? Die Bereitschaft, sich mit den Realien des „Staatsgeheimnisses DDR-Sport“ auseinanderzusetzen, hielt sich in Grenzen. Wieso war es eigentlich so schwer, sich Kinder und Jugendliche unter der Diktatur vorzustellen, die hinter einer doppelten Mauer aufwuchsen, um am Ende als Konzeptkörper fürs Militär und den Weltraum ausgeforscht und chemisiert zu werden?
"Politkampagnen sind ausdrückliche Verwirrmaschinen"
Politkampagnen sind ausdrückliche Verwirrmaschinen und vor allem dann nützlich, wenn es darum geht, Opfernarrative innerhalb einer Gesellschaft abzuwehren. Der Wissenschaftsphilosoph José Brunner verwies in seinem Aufsatz „Zur Geopolitik des Traumas“ darauf, dass sich der „öffentliche Raum immer dann spalte, wenn das Thema Gewalt auf den Tisch“ komme.
Politkampagnen brauchen Kampagnisten. Akteure, die bereit sind, die Verhältnisse zu drehen, Tatsachen zu enthaupten, mittels Falschem zu operieren, Menschen zu diskreditieren. Geht es wie im Fall DOH um eine Opfergruppe, die ohnehin in einer hochkomplexen Traumalandschaft unterwegs ist, werden die Risiken unberechenbar. Viele Betroffene wurden durch die massiven Anwürfe schwer retraumatisiert, zogen sich zurück, schwiegen erneut, mussten in langfristige medizinische Behandlungen. Die alte Ohnmacht der Opfer, die alte Macht der Täter. Als sollte diese Synapse mehr als 30 Jahre nach der Revolution in die Neuauflage.
Die Jahre 2018, 2019, 2020, 2021, 2022. Jahre mit endlosen Richtigstellungen, Verteidigungen, Korrekturen gegenüber Ministerien, Medien, Stiftungen. Der Versuch, das Thema Dopingopfer im politischen Raum zum Komplex Sportopfer zu erweitern und damit Abhängigkeiten, Missbrauch, Nötigung, Gewalt im Körpermaschinenraum einer Diktatur expliziter zu machen, erwies sich aufgrund der Kampagne als nicht mehr umsetzbar. Von da an wurden vor allem diejenigen Personen attackiert, die trotz der Anwürfe weiterhin versuchten, sich für die Opfer einzusetzen - Forscher, Ärzte, Landesbeauftragte, Journalisten, auch ich. Wir waren austauschbare Stellvertreter.
Um den Vorgängen ein Stück mehr Realität zu geben, sollen hier die Aktivitäten von drei Kampagnen-Männern vorgestellt, wobei die Wahl ohne Mühe auch hätte auf drei andere fallen können. Da ist zum einen Johann Weber, etwa Jahrgang 1950, aus Ruhstorf bei Passau, Stammautor bei RotFuchs und laut dem Wochenblatt Die Zeit das „Leitmedium ehemaliger Stasi-Offiziere“. Innerhalb des Kampagnenensembles ist Weber der Westdeutsche aus „Wissensdurst“, der ganz auf dem Ticket „Informationsfreiheitsgesetz“ unterwegs ist. Mit dessen Hilfe werden exzessiv Behörden, Stiftungen, Medien, Jurys angeschrieben, um die Adressaten von den angeblichen Lügen und Betrugsversuchen des DOH zu überzeugen. Sein Kontext? Im Dezember 2015 hatte der langjährige RotFuchs-Chefredakteur Klaus Steiniger
Viele der Weber-Artikel sind denn auch idealtypische Umsetzungen des RotFuchs-Programms: die DDR war kein Unrechtsstaat, der 17. Juni 1953 ein „Umsturzversuch des Westens“, 1989 eine „Konterrevolution“, die Stasi ein normaler Geheimdienst. Die Aufarbeitung der DDR-Diktatur ist für Weber nichts anderes als der „Rückfall ins tiefste Mittelalter“ und das maßgebliche Motiv für seine Attacken. Innerhalb der in seinen Augen „verlogenen DDR-Aufarbeitungsindustrie“ widmet er sich seit dem 2. Doping-Opfer-Hilfe-Gesetz von 2016 ausdrücklich der „Dopinglüge“, mit dem erklärten Ziel, die „Verleumdung der DDR im großen Stil“ doch noch abwenden zu können. Wird hier ein sogenannter „nützlicher Idiot“ von Stasi-Altprofis geführt? Dazu würde passen, dass Chefideologe Klaus Steiniger in seiner Rede von 2015 explizit bezogen auf Johann Weber sagte, man werde „zukünftig auf dem Weg zur Überwindung des kapitalistischen Systems … auf bündnisbereite Kräfte deutlicher zugehen“.
Das scheint gelungen zu sein. Doch bei Johann Weber ist das Netz ohnehin längst in verschiedene Richtungen geknüpft. Etwa zum in Thüringen ansässigen Henner Misersky, Jahrgang 1940, ehemals DDR-Skilanglaufjugendtrainer. Ein Mann, der bis 2018 öffentlich eher als vehementer Kritiker des vergifteten DDR-Sports in Erscheinung trat. Mit dem 26. April 2018 war er das urplötzlich nicht mehr. Mittlerweile dürfte Misersky zu den vehementesten Stimmen zählen, wenn es um die Verleugnung von DDR-Unrecht geht. Mit endlosen Briefen, Dossiers und Stellungnahmen überzieht er - ähnlich wie Johann Weber und in engem Verbund mit ihm - Redaktionen, Ministerien, Stiftungen, Vereine, Behörden, das Rektorat meiner Hochschule - , um sie von den vermeintlichen Betrugsabsichten der Doping-Opfer-Hilfe, insbesondere meiner Person zu unterrichten. Keine Veranstaltung, kein Podium, kein Beirat, kein Preis, kein Text von mir ohne seine Begleitung mittels Dossiers und diskreditierenden Briefen.
Bis April 2018 hatte man von Henner Misersky Sätze hören können wie: „Was der DDR-Hochleistungssport war, kriminell, doping- und stasiverseucht, das wissen wir.“ Oder: „Jeder DDR-Leistungssportler, der nur noch zehn Prozent von der Weltspitze entfernt war, wurde in das Dopingprogramm aufgenommen.“ Im Juni 2022 äußerte er - gegenüber dem Nordkurier - im Hinblick auf die Aufarbeitung im DDR-Sport: „Die Ausrichtung auf die DDR ist scheinheilig, aber gewollt.“
"Das Vertuschungsnarrativ der Stasi- und Dopingklientel"
Inzwischen klingen Miserskys Sätze wie das Vertuschungsnarrativ der Stasi- und Dopingklientel nach 1989.
Darüber hinaus verwies die NZZ darauf, dass Dokumente existieren, die die „Meistererzählung des Henner Misersky noch stärker infrage stellen. Am 14. Juni 1996 wurden im sächsischen Kreischa, dem wichtigsten Reha-Zentrum des DDR-Sports, 67 Patientenakten sichergestellt.“ Akten, die die ZERV ausfindig gemacht hatte. Es ging um „Sportler, in deren Krankenunterlagen auffällige, auf die Verabreichung von Anabolika und dadurch bedingte mögliche Gesundheitsschäden hinweisende Befunde festgestellt wurden“. Unter den lediglich 67 Patientenakten, die in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren aus dem gesamten DDR-Sport archiviert wurden, waren allein drei aus der vermeintlich dopingverweigernden Familie Misersky: die beiden Töchter, sowie die Mutter Ilse Misersky, eine ehemalige Spitzenläuferin.
In dem Zusammenhang betont er, dass seine Frau und er nie mit Doping in Berührung kamen, da es zu der Zeit kein Doping gab. Richtig ist, dass das Läufer-Paar Misersky auf die Olympischen Spiele 1964 in Tokio vorbereitet wurde. Und für diesen Zeitraum ist umfassendes Doping in der Leichtathletik belegt.
Schwung erhielt die Kampagne gegen den DOH respektive mich durch einen Spiegel-Artikel vom 21. Mai 2022 unter dem Titel „Lügen, betrügen, täuschen“. In ihm unternahm das Hamburger Magazin den Versuch, mich mittels 20 Falschdarstellungen als Lügnerin zu labeln. Belege dafür brauchte es keine und legte auch keine vor. Wochen später hielt die NZZ dagegen und schrieb, dass das Spiegel-Stück „von Verdächtigungen, Unterstellungen und insinuierten Zweifeln an Geipels Biografie nur so trieft.“ Weiter: „Der Spiegel-Artikel ist von drei Autoren gezeichnet, von denen zwei mit den Geipel-Kritikern, die im Text auftreten, gut befreundet sind.“
Um die Mutmaßungen des Blattes im Hinblick auf meine Person klarzustellen: Nein, ich bin keine Lügnerin, Betrügerin, Täuscherin. Punktum. Die heute im Bundesarchiv liegende Operative Personenkontrolle „Ernesto“ zu mir lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um die Akte eines Stasiopfers handelt. Ich wurde über Jahre bespitzelt, zwangsgedopt, aus politischen Gründen aus dem Sport verbannt, mir wurde der Körper zerstört, die Dissertationsmöglichkeit entzogen. Am Ende der DDR floh ich über Ungarn in die Bundesrepublik. Das sind Tatsachen, an denen es nichts zu deuteln gibt.Jutta Braun; Michael Barsuhn: Zwischen Erfolgs- und Diktaturgeschichte. Perspektiven der Aufarbeitung des DDR-Sports in Thüringen. Göttingen 2015, S. 83-93. Dennoch wird seit fast fünf Jahren hartnäckig versucht, meine Biografie umzuschreiben. Wieso dieser Aufwand? Handelt es sich dabei um Spiegelszenen? Geht es um Selbsttexte? Nach dem Spiegel-Artikel hieß es aus den Reihen der Kampagnen-Männer, dass es nun nicht mehr ums „Abräumen“ gehe, sondern lediglich noch ums „Nachwaschen“.
Zu den Vielberufenen, die glauben entscheiden zu können, wer in diesem Land Opfer ist und wer nicht, gehört augenscheinlich auch Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, promovierter Historiker und langjähriger Mitarbeiter des Stasiunterlagen-Archivs. Mit anhaltender Verve arbeitet er, so mein Eindruck - im direkten Verbund mit Henner Misersky - daran, meine Biografie in Zweifel zu ziehen. Ein Beispiel: Am 18. Dezember 2019 schickte Kowalczuk eine Mail an den Grünen-Politiker Werner Schulz
Nach dem offensichtlichen Datendiebstahl bat ich um Klärung in der Stasiunterlagen-Behörde. Schließlich sollte der Schutz der Regimeopfer ihr zentrales Anliegen sein, ausdrücklich verankert in einem eigenen Gesetz. Nach fast einjährigen internen Ermittlungen belegte die Behörde „schwere Verstöße gegen die Vorgaben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes“ und stellte Strafanzeige gegen Unbekannt. Das vor allem, weil ihre Ermittlungen eine straffe Indizienkette ergeben hatten. Im Brief der Behörde an die Staatsanwaltschaft Berlin heißt es: „Es bestehen aus unserer Sicht konkrete Ansatzpunkte für die Ermittlung eines Täters ... Der Sachverhalt ist geeignet, das Vertrauen der vom Stasi-Unrecht Betroffenen in die Arbeit der Behörde und den Ruf der Behörde nachhaltig zu schädigen.
Oktober 2021: Die Strafanzeige wurde eingestellt. Aus dem Schreiben geht hervor, dass nicht ermittelt, sondern lediglich eine Person befragt wurde. In einem Bescheid des Stasi-Unterlagen-Archivs sowie einem Brief der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien heißt es später, dass gegen zwei Akteure disziplinarische Maßnahmen verhängt wurden. Mir wurde mitgeteilt, dass es eine „Versetzung und eine Abmahnung“ gegeben habe. Die Sache schien ad acta, offenkundig jedoch nicht für Kowalczuk.
Über Rainer Eckerts Buch und Ilko-Sascha Kowalczuk
Was ist eine Politkampagne? Ein Destruktionsraum, eine Zerstörung, eine versuchte Ausstoßung. Wie funktioniert sie? Indem man Falsches so lange wiederholt, bis es nach allseits Bekanntem klingt. Indem man gezielt Tatsachen und Meinungen verwechselt. Indem man das zur Wahrheit erklärt, was für einen die Wahrheit ist oder einem als Wahrheit nützt. Indem man im medialen Raum Meinungen zu vermeintlichen Tatsachen umerzählt und sie dann umstandslos in die eigenen Attacken einspeist. Indem man sich seine Legenden baut und mit Finten, gezielter Camouflage, Doppelstrategien, kollusiven Zusammenspielen operiert. Was ist die Conclusio bei Johann Weber, Henner Misersky und Ilko-Sascha Kowalczuk? Ideologie, Familie, Konkurrenz, Ego? Ich werde nicht das Bild bedienen, das diese Art Kampagnen-Männer über mich in die Welt zu setzen versuchen. Als Fanatikerin, Hysterikerin, Furie. Ich will mich nicht auf diese Ebene begeben, werde nicht den Ton verwenden, den sie vorgeben. Ich gehe nicht in diesen Raum.
Im Sommer 2022 dann das Buch des Historikers Rainer Eckert „Getrübte Erinnerungen?“ Für diesen Text hatte die Aufarbeitungsstiftung einen nicht unerheblichen Druckkostenzuschuss bewilligt. In dem dafür nötigen Exposé existierte, wie mir gesagt wurde, kein Kapitel über mich. Dafür aber in der späteren Druckfassung. Der Text ist das Gegenteil von dem, was die Quellen über meine Biografie aussagen. Lanciertes Futter für die nächste Attackenrunde? Aber wusste Rainer Eckert, welche Funktion sein Kapitel über mich haben sollte?
Am 7. August 2022 schrieb ich eine Mail an den "mitteldeutschen verlag" sowie an die Aufarbeitungsstiftung mit der Bitte, die zahllosen Falschdarstellungen im Eckert-Kapitel zu korrigieren. Angehängt zwanzig Dokumente, die belegten, dass der Text nicht einfach durch ein paar Korrekturen zu retten gewesen wäre. Er war aus meiner Sicht grundfalsch. Was ist ein Text im Raum der Wissenschaft, wenn er konsequent gegen die Quellen anschreibt und dabei Verleumdungen in Tatsachen umerzählt? Woher die Chuzpe für einen solchen Wissenschaftstrumpismus? Das Buch wurde gestoppt, auch, weil sich neben mir offenbar an die zwanzig Personen an den Verlag gewandt hatten und ihr Persönlichkeitsrecht anmahnten.
Am 5. Oktober 2022 erschien im Deutschlandarchiv das Stück von Ilko-Sascha-Kowalczuk Externer Link: „Über ein Buch, das nicht erschienen ist“. In ihm schrieb er über ein Manuskript, in dem der Autor Rainer Eckert 1 264 mal selbst erwähnt wird und Kowalczuk immerhin 237 mal im Buch vorkommt. Der Textkollege unternimmt die Ehrenrettung mit dem so eingängigen wie populistischen Schlagwort: „Cancel Culture“! Wer wollte sich in diesem Land schon dem Vorwurf der Zensur ausliefern? Was war elementarer, als das hohe Gut der Meinungsfreiheit zu verteidigen? Aber ging es bei dem Buch darum?
"Historientrash"
Der von Kowalczuk gesetzte Deckbegriff Cancel-Culture war jedenfalls geeignet, Autor und Buch umstandslos den Opferstatus zuzuschreiben. Und die Realität? Ein einzelner Verlag im Land sagte - nach zu später und dann offenbar eingehender Prüfung - Nein zu einem Manuskript. Was aber sagten die anderen mehr als 2 000 Verlage im Land? Wieso sollte Rainer Eckert sein Buch nicht woanders anbieten können? Und wie steht es mit dem Text? Das Manuskript offenbart ein aussichtsloses Niveau der Geschichtsschreibung: kein analytischer Zugriff, keine Fragestellung zur Genese der Aufarbeitung, keinerlei übergreifende Erkenntnis, keine Ausdimensionierung. Stattdessen Gehechel, Missmut, Gucklochbilder. Ist da schlicht das Genre verwechselt worden?
Historientrash soll es geben, und er mag auch veröffentlicht werden. Aber verlangt dieser Stoff nicht gerade, einen Standard zu verteidigen? Im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hatte es harte Debatten und viel Streit in der Sache gegeben. Bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur liegt mit Eckerts Buch nun ein privatisierender Text vor, bei dem der Eindruck dominiert, Aufarbeitung sei etwas, bei der das Feld und dessen Akteure vor allem klein gemacht und entwertet werden können und man nicht vor gravierenden Persönlichkeitsverletzungen zurückzuschrecken braucht.
Allein aus Respekt vor den tatsächlich an der DDR-Aufarbeitung Arbeitenden und vor den Opfern wäre eine gründlich ausrecherchierte Untersuchung richtig, wichtig und notwendig.
Zitierweise: Ines Geipel, "Vom Abräumen und Nachwaschen", in: Deutschland Archiv, 11.11.2022, Link: www.bpb.de/515260. Alle Beiträge auf Externer Link: www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Reaktionen:
Drei weitere Sichtweisen zum Buchprojekt Rainer Eckerts von Externer Link: Ilko-Sascha Kowalczuk, Externer Link: Jochen Staadt und von Externer Link: Rainer Eckert in einer Reaktion darauf.