"Es war ein Tanz auf dem Vulkan"
Wie SED-Funktionäre 1989 den Mauerfall erlebten. Drei Tage im November, protokolliert von Eberhard Aurich, damals Vorsitzender der SED-Jugendorganisation FDJ in der DDR.
Eberhard Aurich
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„Diese Nacht hat alles verändert“ resümiert Eberhard Aurich (76) in einem Protokoll über Selbsterlebtes in den Tagen des 8. bis 10. November 1989: „Der 9. November war wahrscheinlich das eigentliche Ende der DDR“. Hier der Wortlaut seiner Notizen aus dem Zentralkomitee der SED, wo er just am Abend des 9. November 1989 eine Rede hielt, auch voller Selbstkritik zu lange „Respekt vor der Autorität“ gehabt zu haben. Über die damalige Stimmung im Funktionärsmilieu der SED räsoniert er heute: "Niemand konnte sich mehr in die Augen sehen". Dazu drei Texte Aurichs und ein Videogespräch.
8. November 1989
8. November 1989. Trotz der großen oppositionellen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz glauben viele von den führenden Leuten im Politbüro des ZK der SED noch immer daran, es im Lande nach ihren Partei-Vorstellungen richten zu können. Ein moderner Sozialismus soll es sein, was immer wir Genossen darunter verstehen wollen.
Plötzlich gibt es politische Ideen, die noch vor Wochen undenkbar gewesen wären. Nur, wer ist noch bereit, uns zu glauben, dass wir es ernst meinen und das Glück der Menschen und nicht nur unsere Macht im Blick haben? Dialog ist aufgerufen. Immer mehr Gespräche finden auf der Straße statt. Was will die Führung? Was wollen die Menschen auf der Straße? Wer führt hier wen?
Ein "Versöhnungsdialog" über das Jahr 1989 in der DDR
Hinzu kommt die ungebremste Flüchtlingswelle. Seit 1. November ist die Grenze zur ČSSR wieder geöffnet. Immer noch versuchen tausende Menschen jeden Tag über Prag in den Westen zu fliehen. Am 3. November war 6 000 DDR-Bürgern über die ČSSR die Ausreise in die BRD genehmigt worden. Am Wochenende danach weiteren 23 200 Bürgern. Der Entwurf des neuen Reisegesetzes, der zwei Tage nach der Alex-Demo erschien, bringt die Leute ziemlich auf die Palme. Die Regierung des Nachbarlandes will sich nicht länger als Fluchtkorridor durch die DDR-Führung missbrauchen lassen. Sie stellt ein Ultimatum. Demos gibt es in der DDR auch 136 fast täglich. Jeder hatte irgendwelche Sorgen.
Es ist eine aufgeregte Atmosphäre. Das Politbüro unter Egon Krenz versucht nach wie vor in alter Manier zu bestimmen, aber das funktioniert immer weniger. An diesem Tag tritt auch der Ministerrat der DDR unter Willi Stoph zurück. Das Land hat in diesen Stunden eigentlich keine akzeptierte Führung mehr. Was will das ZK denn da eigentlich noch richten? Die 10. Tagung will erstmals die politische Lage erörtern. Erinnert sei daran, dass diese Sitzung die ZK-Mitglieder Willerding und König bereits Anfang Oktober in einem Brief an Erich Honecker gefordert hatten.
Als ich diesmal in das Große Haus am Werderschen Markt gehe [dem damaligen Sitz des Zentralkomitees der SED], ahne ich keineswegs etwas davon, was uns in den nächsten Stunden aufregen sollte. Ja, es sind viele Fragen offen. Erhobenen Hauptes gehe ich über die Unterwasserstraße Richtung Jungfernbrücke zum Eingang der ZK-Tagung. Am Morgen ist unsere Wortmeldung mit unseren aktuellen Forderungen in der [Tageszeitung] Junge Welt erschienen, nicht abgestimmt mit Parteifürsten, das ist völlig neu. Viele im ZK verstehen uns nicht. Wie könne man denn jetzt als systemtragender Jugendverband plötzlich Forderungen erheben, die FDJ solle doch lieber etwas tun.
Gemeint ist, wir sollen verhindern helfen, dass sich Jugendliche aufmüpfig zu Wort melden, lieber zur Arbeit und in die Uni gehen statt auf staatsfeindliche Demos. Nein, wir haben uns entschlossen, endlich wirklicher Interessenvertreter der Jugend zu sein. Noch haben wir eine Zeitung, die die Leute lesen, 1,5 Millionen Exemplare, die größte Tageszeitung der DDR erhebt namens der FDJ ihre Stimme, die Junge Welt. Die ZK-Tagung verläuft zunächst wie immer. Egon Krenz redet ziemlich lang, ziemlich allgemein, wie von ihm gewohnt. Das Neue ist, dass er ein Aktionsprogramm vorschlägt. Für das, was da jetzt von der Parteiführung vorgeschlagen wird, wäre man noch Monate zuvor eingesperrt worden. Er fordert unter anderem: Eine Reform des politischen Systems. Einen sozialistischen Rechtsstaat. Eine neue Militärdoktrin mit Einführung eines Zivildienstes. Umfassende Information und Medienfreiheit. Eine umfassende Wirtschaftsreform. Freiheit und Verantwortung in Kultur und Kunst. Eine Reform des Bildungswesens. Eine erneuerte SED.
Das alles, was er vorschlägt, sind Punkte, die man in der Partei schon vor Jahren zur Diskussion hätte stellen können. Es sind die Knackpunkte, wie auch ich sie in dieser Zeit sehe. Ich bin überzeugt, dass dies, früher aufgeworfen, eine breite schöpferische Erörterung ergeben hätte.
Ich erinnere mich an frühere demokratische Debatten zur Verfassung der DDR 1968, an die Hochschulreform Ende der 1960er Jahre, an die Diskussion zum Jugendgesetz 1973, an die Debatten zum Arbeitsgesetzbuch, dem Zivilgesetzbuch und anderes. Jetzt glaubt jedoch niemand mehr der Partei, dass sie es wirklich so meint, wie sie redet. Woher kommen denn auch plötzlich diese Ideen?
Auch mit mir hat niemand zuvor über solche auch nur andeutungsweise geredet. Ich wurde auch nicht gefragt, welche Vorschläge ich habe. Ich bin deshalb während der Sitzung ziemlich skeptisch. Zunächst geht es aber auch gar nicht um diese Inhalte, sondern um neues Personal. Es wird ein neues Politbüro gewählt. Ein Gemisch aus alten und neuen Funktionären. Nur Hans Modrow, Wolfgang Herger, Wolfgang Rauchfuß, Jochen Willerding sind wirklich neu. Klaus Höpcke und Prof. Dr. Gregor Schirmer werden Leiter von Kommissionen beim Politbüro, weil sie keine ZK-Mitglieder sind. Hans Modrow wird als künftiger Ministerpräsident der DDR vorgeschlagen. Die Mitteilung über diese Kaderentscheidungen rührt die Partei noch zusätzlich auf. Die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen Halle, Cottbus und Neubrandenburg sind mittlerweile bereits als Partei-Bezirkschefs gestürzt. Proteste gibt es gegen die Wahl der farblosen Inge Lange. Sie alle werden deshalb am Schluss der Tagung wieder aus dem Politbüro entfernt....
Günter Mittag und Joachim Hermann werden auf dieser Tagung auch noch als die Buhmänner der Honecker-Zeit aus dem ZK ausgeschlossen, es gibt wieder keine inhaltliche Begründung. Mittlerweile hat sich auch eine innerparteiliche Opposition in der SED gebildet. Genossen der Akademie der Wissenschaften, der Humboldt-Universität, des Werks für Fernsehelektronik, Gregor Gysi, Michael Brie und Dieter Klein werden Opponenten der neuen Führung. An jedem Abend der Tagung findet vor dem Haus des ZK eine Kundgebung statt. Wir tagen quasi in einer Art Belagerungszustand.
Es ist eigenartig, die Alten sind immer noch da, Hermann Axen wimmerte in der Pause, er habe doch nichts Unredliches getan, obwohl auch sein Ferienhaus und sein Westjoghurt-Verbrauch Gegenstand von Pressemeldungen sind. Niemand konnte sich mehr in die Augen sehen. Ich habe mir als Plattenbaubewohner in Köpenick und Nichtbesitzer einer Datsche diesbezüglich nichts vorzuwerfen.
9. November 1989
Der Vorsitzender der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, Wilfried Poßner, und ich sind trotz dieser Querelen bereit, auf dieser Tagung zu reden. Zuerst spricht Wilfried, ich erst nach 20:00 Uhr. Da habe ich keine Ahnung, was zur gleichen Stunde sich in Berlin zusammenbraut, ausgelöst durch die missverständliche Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski.
Auf der Tagung spitzt sich stattdessen alles auf eine Frage zu: Im Dezember Parteitag oder Parteikonferenz? Die alte Parteiführung ahnt, was bei einem Parteitag passieren würde. Es käme wohl zu einer totalen Neuwahl und damit Abwahl aller bisherigen Parteispitzenfunktionäre.
Uns, als den damals jüngeren, ist das eigentlich egal. Für mich kann ich sagen, dass ich keinerlei Ambitionen hatte, nach meinem FDJ-Posten künftig etwa einen Parteiposten zu übernehmen. Deshalb ist es mir völlig egal, wie entschieden wird. Zunächst wird für eine Parteikonferenz plädiert. Eine Woche später tritt das ZK nochmals zusammen und beschließt dann auf Druck der Parteibasis einen Sonderparteitag.
Eher beiläufig wird eine für die DDR wohl schicksalsschwere Entscheidung gefällt, nachdem der Entwurf des Reisegesetzes abgelehnt worden war und Egon Krenz eine gründliche Überarbeitung angekündigt hatte. Aber nicht das ZK entscheidet, wir werden bloß ein bisschen informiert. Die zurückgetretene DDR-Regierung regiert offensichtlich doch noch, eigenartig. Oder doch nicht? Soll sie vielleicht nur politische Entscheidungen von Egon Krenz decken? Die Lage an der DDR-Grenze zur ČSSR sei katastrophal, so Egon Krenz bedeutungsschwanger während der Sitzung am Nachmittag.
Nach wie vor versuchten jeden Tag tausende DDR-Bürger über diesen Weg in den Westen zu kommen. Das belaste die Beziehungen zum Nachbarland erheblich, das eigene Sorgen habe. Kein Wort darüber, dass die Regierung der ČSSR der DDR ein Ultimatum gestellt hatte, die Grenze für DDR-Bürger zu schließen. Sie fürchtete ein Überschwappen auf die Lage im eigenen Land. Im Verlaufe des 9. November 1989 ist nun offensichtlich der Entwurf einer Verordnung fertiggestellt, die der amtierende Ministerpräsident in Kraft setzen und die bis zu einem neuen Reisegesetz gelten soll.
Egon Krenz ergreift deshalb plötzlich außerhalb der Tagesordnung gegen 16:00 Uhr mitten in der Diskussion im ZK das Wort und verkündet einen „Beschluss zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR“. Das Politbüro habe diesen Beschluss des Ministerrats gebilligt. Er verliert kein Wort darüber, dass dieser Text gleichzeitig erst noch im Umlauf durch die Mitglieder des Ministerrats bestätigt werden muss, er also noch nicht im Ministerrat beschlossen ist.
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Schon der Titel ist mehr als verwirrend. Ist das Absicht oder nur bürokratische Schlamperei der Autoren des Textes? Soll wirklich nur die Lage hinsichtlich der ČSSR entspannt werden? Geht es nur um ständige Ausreisen? Oder mehr?
Krenz verweist zunächst auf eine Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland, die bis zu einem Reisegesetz keine Anwendung mehr finden soll. Keiner weiß in diesem Moment, was dieses Gesetz damals regelte.
Jetzt werde festgelegt, so Krenz weiter: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.“ „Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.“ Was bedeutet das eigentlich? Warum liegt der Focus auf ständiger Ausreise? Muss man ein Formular ausfüllen? Braucht man einen Pass? Wie lange dauert das? Was ist mit Privatreisen?
Braucht man da auch einen Pass und ein Visum? Was sind Genehmigungen? Wer darf doch nicht reisen oder ausreisen? Soldaten, Polizisten, Funktionäre, Geheimnisträger? Und dann kommt eine Passage, die aus vom Text her unbegreiflichen Grund die Welt verändern soll: „Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.“ Und was ist mit den erlaubten Privatreisen? Wie dürfen diese Bürger reisen? Nur über bestimmte Grenzübergangsstellen? Gilt dieser Passus auch für sie? War ich wie andere ZK-Mitglieder damals zu dumm, die Tragweite dieses Textes in diesem Moment zu erkennen und diese Fragen zu stellen?
Hans Modrow bezeichnet sich heute als Naivling, als designierter Ministerpräsident habe er auch nicht den Text verstanden. Es gab doch aber angeblich vor unserer ZK-Information eine Politbüro-Sitzung in der Mittagspause? Modrow war doch da schon Mitglied. Er soll künftig die Regierung führen und mit den Folgen dieser Verordnung leben. Und wie dachten die Generäle im Saal?
Immerhin waren der Innenminister (verantwortlich für das Pass-und Meldewesen), der Minister für Staatssicherheit (verantwortlich für die Passkontrolleinheiten an den Grenzübergangsstellen), der Verteidigungsminister, verantwortlich für die Grenze, alle zwar in der Regierungsfunktion nur amtierend, aber immer noch ZK-Mitglieder. Auch der Chef der Grenztruppen der DDR saß im Saal. Sie blieben bis zum Ende der Sitzung einfach sitzen.
Nachdem Krenz die Neuregelung bereits verkündet hatte, sprach sogar noch der Verteidigungsminister Heinz Keßler in der Diskussion, es war kurz nach 19:00 Uhr. Was sagte er zum Grenzregime? „Zur Veränderung des Grenzregimes haben wir die ersten Überlegungen erarbeitet. Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, dass das künftige Grenzregime den Anforderungen an den Schutz der sozialistischen Ordnung jederzeit genügt, Erleichterungen für die Bürger der DDR schafft und Belastungen der Volkswirtschaft abbaut.“
Allgemeiner geht es nicht. Kannte er die neue Regelung gar nicht? Oder verkündete er hier die Position der Alten im alten Politbüro? Klar war doch, dass das Reisebegehren der DDR-Bürger außerordentlich groß war. Deshalb sollte es doch ein Reisegesetz geben. Die DDR-Bürger wollten Reisen ohne Beschränkungen und Einschränkungen. Dafür waren aber Gelder notwendig, die die DDR nicht hatte oder nicht haben wollte. Es hat wohl seitens der neuen Führung Bestrebungen gegeben, die BRD an einem Reisedeal zu beteiligen. Die verweigerte sich und sah sich nicht in der Pflicht beziehungsweise verband einen Zuschuss mit politischer Erpressung. Eine neue Reiseregelung war also finanziell ungedeckt. Und sie wäre auch teuer geworden, denn die Fahrkarten jedes DDR-Bürgers, die er bei der DDR-Reichsbahn erworben hat und in der Bundesbahn genutzt hat, wären der DDR in Devisen in Rechnung gestellt worden.
Viele DDR-Bürger wollten aber einfach nur weg, manche für kurze Zeit, viele für immer. Sie wollten nicht mehr die DDR-Behörden fragen müssen. Viele hatten sich bereits einen Weg über Ungarn und die ČSSR gebahnt. Musste man nicht deshalb an die Aufhebung des Grenzregimes generell denken? Also eine Öffnung der Grenzen ohne alle Bedingungen? Zurück zum 12. August 1961? Undenkbar? Standen da nicht die sowjetischen Interessen dahinter, was niemand mehr wissen wollte und heute gleich gar nicht mehr wissen will? Denn es ging doch auch um die Grenze zu Westberlin. Und was bedeutete das für die Westmächte?
Eine Aufhebung des Grenzregimes generell hieß zugleich die Liquidation eines Beschlusses des Warschauer Vertrags von 1961. Hätte das nicht wenigstens einer Abstimmung mit der Sowjetunion oder gar mit dem Westen bedurft? Hatte denn Egon Krenz in dieser Frage am 1. November mit Gorbatschow in Moskau irgendetwas besprochen? Warum sprach an diesem Abend Egon Krenz nicht von „Grenzöffnung“, derer er sich doch später rühmt? Durfte die DDR in dieser Frage eigentlich souverän handeln? Konnte man vielleicht mit diesem schludrigen Verordnungstext einer solchen prinzipiellen Abstimmung und Entscheidung entgehen? Was wäre denn gewesen, wenn die Sowjetunion zur Öffnung der Grenzen Nein gesagt hätte? Hätten dann doch sowjetische Panzer den „Eisernen Vorhang“ aufrechterhalten?
Nicht ohne Grund wandte sich am 12. Juni 1987 der amerikanische Präsident Ronald Reagan nicht an die DDR, sondern an die Sowjetunion: „Mr. Gorbatschow, open this gate. Mr. Gorbatschow, tear down this wall.“ („Öffnen Sie dieses Tor, reißen Sie diese Mauer nieder!“).
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Könnte es also sein, dass diese schlampig formulierte Verordnung der einzige Ausweg aus einer Machtkonstellation war, die einem gordischen Knoten glich? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich das.
Waren aber die Initiatoren dieser Regelung wirklich so intelligent, auf diese Weise ein Weltproblem lösen zu wollen? Warum wurde der Text nicht mit den sowjetischen Organen im Detail abgestimmt? Oder war es doch ein Text, der mehr aus bürokratischer Verklausulierung entstand? Es ist doch wohl auch kein Zufall, dass es in diesem Moment keine DDR-Regierung mehr gab und eigentlich auch kein funktionsfähiges Politbüro der SED, die den Text hätten gründlich beraten können.
Buch Aurich
Der nebenstehende Text ist dem Buch entnommen: Eberhard Aurich, "Zusammenbruch, Erinnerungen, Dokumente, Einsichten", erschienen im Verlag Kopie+Druck, Berlin 2020.
Der nebenstehende Text ist dem Buch entnommen: Eberhard Aurich, "Zusammenbruch, Erinnerungen, Dokumente, Einsichten", erschienen im Verlag Kopie+Druck, Berlin 2020.
Die meisten Mitglieder der Regierung, die der Verordnung im Umlaufverfahren zustimmen sollten, haben das Papier gar nicht gesehen, da sie im ZK saßen. Mindestens der irrige Titel der Verordnung hätte den Verantwortlichen doch genauso wie dem Sekretariat des Ministerrats auffallen müssen, das das Anschreiben zum Text klarer formulierte. Es sei denn, sie wollten ihn so, um etwas anderes zu verschleiern. Wurden wir alle getäuscht?
Gerhard Lauter, der im Ministerium des Innern für die Ausarbeitung des Textes Zuständige, ließ später wissen, dass der Auftrag tatsächlich nur so lautete, wie der Titel der Verordnung hieß. Er habe nur darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht isoliert geregelt werden kann und deshalb auch Regeln für Privatreisen mit in den Text gebracht. Ob dies Egon Krenz und Willi Stoph in ihrer Tragweite erfasst haben, ich weiß es nicht. Starrten sie auf die Fluchtbewegung über die tschechische Grenze wie das Kaninchen auf die Schlange? Vielleicht ging es ihnen genauso wie uns „einfachen“ ZK-Mitgliedern. Wir und sie waren wohl zu dumm, diesen Text in seinen Auswirkungen zu verstehen. Und warum waren die Privatausreisen über die Westberliner Grenze nicht erwähnt. Nach Verordnungstext hätte man über diese Stellen nur ständig ausreisen können.
Noch heute gilt als Wahrheit in den Medien: Ein angeblicher Versprecher von Schabowski habe die Grenzen geöffnet. Das ist in meinen Augen Humbug. Er hat nichts anderes vorgelesen, als auch Egon Krenz den ZK-Mitgliedern vorgelesen hat. Er behauptet gar, dass er den angeblichen Extraknüller auch mit einem gewissen Understatement verkünden und es keineswegs als Parteientscheidung, sondern als Regierungsentscheidung darstellen wollte. Das erklärt auch, was auf seinem ominösen Zettel stand, alles erst am Ende zu verlautbaren. Nur auf die Frage, wann es in Kraft tritt, sagte er etwas verwirrt: „Sofort, unverzüglich.“
Folgt man dem Text der Verordnung, hätte man sich also in den nächsten Stunden zu einer VP-Dienststelle begeben müssen, um ein Visum oder eben eine Genehmigung zu beantragen. Wenn er korrekt gesagt hätte „morgen früh“, was hätte das eigentlich geändert? Hätten dann am nächsten Morgen die Leute bei der VP Schlange gestanden statt an der Grenze?
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Egon Krenz behauptet, dass er den Text der Verordnung und die Pressemeldung Schabowski mit dem Hinweis gegeben habe, dies als Weltnachricht zu verkünden. Warum hatte diese der doch sonst so wichtigtuerische Schabowski aber nur ganz hinten auf seinem Zettel und langweilte die Presse fast eine Stunde mit anderem Kram von der ZK-Tagung? Warum eigentlich? Doch keine Weltnachricht?
Und was soll die Diskussion über die Sperrfrist der Meldung? Wenn man kurz vor 19:00 Uhr der internationalen Presse einen „Knüller“ gibt, egal wie er formuliert ist – und die Formulierung war korrekt, wer glaubt denn dann daran, dass die Weltpresse diese erst am nächsten Tag ab 4:00 Uhr verbreitet? Und was wäre denn das dann für eine Weltnachricht? Dass sich DDR-Bürger jetzt einfacher um ein Visum bemühen können? Oder doch, dass alle Grenzübergangsstellen offen sind?
Die Aktuelle Kamera verbreitete die offizielle Nachricht kurz nach 19:30 Uhr. Auch die Tagesschau 20:15 Uhr hielt sich an den von Schabowski verlesenen Text. Allerdings titelte sie dies bereits mit dem Schriftzug „DDR öffnet ihre Grenzen.“ (Das stimmte ja, egal ob noch am Abend oder am nächsten Morgen.) Was passierte daraufhin? Ein paar Neugierige kamen zu Grenzübergangsstellen nach Westberlin. Am Grenzübergang Bornholmer Straße standen 20:15 Uhr ca. 80, die mal gucken wollten. Die Grenze war zu und sie blieb zu, obwohl im Westen laufend schon von der offenen Grenze die Rede war. Es wurden dann immer mehr, „zufälliger Weise“ besonders an der Bornholmer Straße. War das organisiert? Von wem? Vom Westen? Von Journalisten? Als der Druck dort zu groß wurde, wurden ab 21:30 Uhr zunächst nur einige Bürger durchgelassen, es sollte eine Ventillösung sein.
Auf Weisung des MfS wurden die Personalausweise der DDR-Bürger zu diesem Zeitpunkt so gestempelt, dass sie unter normalen Umständen nicht hätten in die DDR zurückkehren können. Sie galten als ständig ausgereist, also nicht mehr als DDR-Bürger. Auch das entsprach ja dieser ominösen Verordnung, denn da gab es ja gar keine Privatreisen an den Grenzübergangsstellen nach Westberlin. Wer hatte ihnen das offenbart oder befohlen? 22:42 Uhr verkündete dann Hans-Joachim Friedrichs in den Tagesthemen „Die Grenzen sind offen.“ Bei seiner Live-Schaltung zur Brücke war aber zu sehen, dass die Schlagbäume noch unten waren. Erst kurze Zeit später gab es kein Halten mehr.
Einige weitere Überlegungen. Ich habe im ZK kurz vor 20:00 Uhr zu reden begonnen. "Man glaubt uns fast nichts mehr", sage ich, die Menschen in der DDR sind der "sinnentleerten Worte und Phrasen überdrüssig": "Wir brauchen Garantien, dass es nicht mehr so ist wie noch immer, dass es vom persönlichen Charakter, von der Zivilcourage, vom "Kreuz", vom "aufrechten Gang", vom Mut abhängt, ob man seine Meinung sagt, oder nicht".
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Und ich verweise darauf, dass die seit 1976 mit dem Parteiprogramm der SED erfolgte sektiererische Einengung der FDJ auf „Helfer und Kampfreserve der SED“, auf „kommunistische Erziehung“, auf strenge Parteidisziplin ihrer Kader, die die FDJ unter der Jugend in Verruf gebracht und ihren Masseneinfluss geschmälert habe. Mit dieser Rede vollziehe ich als noch amtierender FDJ-Chef den offiziellen Bruch der FDJ mit der SED, ahnend, dass ich damit auch das Ende der FDJ einläuten werde.
Nach mir sprach noch der Generalstaatsanwalt zu den Polizeiprügeleien am Jahrestag der DDR. Sitzungsleiter war bis zum Ende der Sitzung Egon Krenz. Gegen 20:45 Uhr war die Sitzung beendet. Ich fuhr danach in das Haus des Zentralrats, schaute kurz Fernsehen, da war noch kein Run auf die Grenze. Auch Wilfried Poßner, der in der Heinrich-Heine-Straße wohnte, meint, alles sei auch dort zu diesem Zeitpunkt ruhig gewesen. Egon Krenz blieb gemäß seiner Aussage im ZK-Gebäude. Heinz Keßler, der Verteidigungsminister und auch verantwortlich für die Grenztruppen, fuhr nach Strausberg, um mit seinen Stellvertretern eine Auswertung der ZK-Tagung vorzunehmen. Erich Mielke, verantwortlich für die Passkontrollen, fuhr in sein Ministerium.
Kurz vor 19:00 Uhr erhielt im Kommando der Grenztruppen der DDR in Pätz Oberst Dr. Hartmut Jentsch, der Stellvertreter des Chefs der Politischen Verwaltung der Grenztruppen der DDR, durch einen Boten das Fernschreiben von Egon Krenz an die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der SED mit dem gegen 16:00 Uhr im ZK der SED verkündeten Beschluss. Es ist der gleiche Text, den Schabowski zeitgleich auf der Pressekonferenz verlas. Es gab keinen Befehl für die Grenzer, was das für sie bedeutet.
"Das war‘s doch, was wir wollten, dachte ich"
Niemand beschäftigte sich in diesen Minuten mit irgendwelchen Regelungen und Anweisungen für sie. Warum eigentlich nicht? Selbst beim Inkrafttreten am nächsten Morgen wäre das doch notwendig gewesen, oder? War die Verordnung von den leitenden Genossen genauso bürokratisch verstanden worden, wie sie formuliert worden war? Es geht alles seinen Gang wie bisher. Die Bürger stellen sich die nächsten Tage bei der Polizei an und beantragen Reisegenehmigungen. Kommen dann erst mit ihren Genehmigungen an die Grenze? Hoffte man auf diesen Streckungseffekt des Bedarfs? Ich weiß es nicht.
Ich war gegen 22:30 Uhr zu Hause. Eine Stunde später klingelte mich mein Nachbar aus dem Bett und fragte mich aufgeregt, was denn an der Grenze los sei? Ich schaltete den Fernseher ein und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Da müsse man doch sofort Kampfgruppen hinschicken, meinte mein Nachbar.
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Was also tun? Ich griff nicht einmal zum Regierungstelefon, um mich zu erkundigen. Ich ging wieder ins Bett. Das war‘s doch, was wir wollten, dachte ich. Hatte ich nun doch die neue Regelung als schicksalhafte Entscheidung für eine Grenzöffnung verstanden? Ich kann es nicht sagen. Ich hatte nichts mehr zu sagen. Das war in diesem Moment mein Eindruck.
10. November 1989
Die ZK-Tagung geht einfach weiter. Egon Krenz eröffnet sie mit den lapidaren Worten „Wir setzen unsere Beratung fort.“ Kein Wort zu den Ereignissen in der Nacht und zur Grenzöffnung. Auch wir ZK-Mitglieder fragen nicht. Warum eigentlich nicht? Keine Frage an Günter Schabowski wegen seines angeblichen Versprechers, im Gegenteil, Schabowski hält noch eine Rede über die neue Rolle der Medien, kein Wort von ihm dabei zu seiner Pressekonferenz am Vorabend. Auch die nachfolgenden Diskussionsredner beziehen sich darauf nicht. Es geht alles weiter seinen Gang, als wäre nichts geschehen. Schabowski, der Maueröffner? Wohl eine der größten Legenden jener Zeit. Diese stimmt einfach nicht.
Wir als ZK-Mitglieder wussten in diesem Moment nicht, dass der sowjetische Botschafter Kotschemassow an diesem Morgen zunächst mit Verweis auf Westberlin bei Krenz gefragt hatte, ob denn das, was in der Nacht geschah, rechtens war. Es seien doch da auch die Interessen der vier Mächte berührt gewesen. Wir wussten auch nicht, dass der ganze Deal mit der Sowjetunion – weder mit Gorbatschow noch mit Kotschemassow – nicht korrekt abgestimmt war.
Zur gleichen Zeit nahm der Druck auf die Mauer weiter zu. Am Brandenburger Tor tanzten junge Leute auf der Mauer. Von Westberlin aus wurde sie auch geentert. Das waren [aus damaliger Sicht] ernste Grenzverletzungen. Für die Einheiten der Grenztruppen in und um Berlin wurde deshalb in diesen Stunden erhöhte Gefechtsbereitschaft befohlen.
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Ehemalige DDR-Generäle streiten noch heute darüber, wie die wirkliche Befehlslage war und welche Waffen zum Einsatz hätten kommen können. Es war ein Tanz auf dem Vulkan. Davon erfuhren wir aber im ZK in diesen Stunden nichts.
Wir wussten auch nichts davon, dass der Generalsekretär einen Sonderstab eingesetzt hatte, der operativ das Geschehen zu leiten hatte. Egon Krenz behandelte das ZK wie sein Vorgänger, als Akklamationsgremium für eigene Entscheidungen. Das ZK und der Ministerrat hatten nichts zu sagen und wurden deshalb auch nicht gefragt oder in Entscheidungen einbezogen.
Allerdings ist es wohl doch der DDR-Erziehung zu danken, dass in dieser Nacht DDR-Grenzer an der Bornholmer Straße oder anderswo nicht durchdrehten und schossen. „Keine Gewalt“ war eben nicht nur die Losung der Opposition, sondern auch maßgeblich für das Handeln der Sicherheitskräfte. Dafür gab es auch Befehle aus dem Frühjahr 1989 und aktuell von Egon Krenz, die den Einsatz der Schusswaffe für diesen Fall verboten. Was wäre aber gewesen, wenn ein Bürger auch nur einen Grenzsoldaten an den Kragen gefasst, umgerempelt oder gar verletzt hätte? Zum Selbstschutz war die Waffe doch erlaubt. Ein Bürgerkrieg?
Es ist aus heutiger Sicht unglaublich: Da wird Weltgeschichte geschrieben, die Grenze zwischen den Blöcken wird eliminiert, eine Grenze, die mit Waffengewalt verteidigt wurde und seit 1961 in Berlin 136, an der Grenze zur Bundesrepublik 327 Menschen das Leben kostete (einschließlich der Grenzer). Sie ist über Nacht einfach weg. Und das ZK der SED, das letztlich auf Befehl Moskaus 1961 die Grenze sicherte, schweigt dazu. Souveränität der DDR? Affront gegenüber dem „großen Bruder“? Wahrscheinlich.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, tönte Walter Ulbricht noch im Juni 1961. „Niemand hat die Absicht, sie abzureißen“, so soll es wohl an diesem Tag heißen. Warum getraute sich aber der Generalsekretär in diesen Stunden nicht, von einer Öffnung der Grenzen zu sprechen. Gab es einen Beschluss der DDR-Führung mit diesem Titel? Ein Jahr später, im November 1990 wird die Junge Welt aktuelle Äußerungen von Egon Krenz unter die Headline „Herr Krenz spricht sich heilig“ kommentieren. Dreißig Jahre später will er von den Details des Tages nichts mehr wissen. Die Leute sollen doch froh sein, dass Sekt geflossen sei und kein Blut. Zynischer geht es kaum.
„Diese Nacht hat alles verändert“
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Diese Nacht hat alles verändert. Die DDR hatte keine funktionierende Führung mehr. Das Volk macht bürokratische Reiseregelungen seiner Führung zu Makulatur. Es fegte selbst die Mauer weg und öffnete selbst die Grenzen. Der 9. November 1989 war wahrscheinlich das eigentliche Ende der DDR. Alles, was danach kam, war zwar nicht bedeutungslos, aber nicht mehr als ein gewaltiger Epilog bis hin zum 3. Oktober 1990: Die Regierung Modrow, der SED-Parteitag und die Wandlung der SED zur PDS, die Runden Tische, die Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990, die spätere Währungsunion - alles nachgeordnet.
Erst einige Stunden später äußert sich der Generalsekretär Egon Krenz vor dem ZK – später hörte ich, dass er da von Gorbatschow schon beglückwünscht worden war, die Grenzöffnung also nun gedeckt war:
„Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich weiß nicht, ob wir alle oder ob viele den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet. Es besteht eine große Gefahr, dass uns viele Menschen verlassen. Obwohl, ein positives Zeichen ist, von denen, die heute Nacht nach Westberlin gegangen sind, der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben, Genossen, damit wir uns einig sind, durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen vom MdI, vom MfS ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden, und über zwei Drittel derer, die heute Nacht Westberlin besucht haben, sind inzwischen wieder auf ihren Arbeitsplätzen hier. Das ist ein positives Signal. Aber der Druck nimmt weiter zu.“
Sein devotes Schreiben an Michail Gorbatschow vom frühen Morgen verliest er uns nicht. Eine weltpolitische Entschuldigung?
Schlangestehen am Bahnhof Friedrichstraße am 10.11.89
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
„Lieber Michail Sergejewitsch Gorbatschow! Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Lage in der DDR war es in den Nachtstunden notwendig zu entscheiden, die Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik auch nach Berlin (West) zu gestatten. Größere Ansammlungen von Menschen an den Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) forderten von uns eine kurzfristige Entscheidung. Eine Nichtzulassung der Ausreisen nach Berlin (West) hätte auch zu schwerwiegenden politischen Folgen geführt, deren Ausmaße nicht überschaubar gewesen wären. Durch diese Genehmigung werden die Grundsätze des Vierseitigen Abkommens über Berlin (West) nicht berührt; denn die Genehmigung über Ausreisen zu Verwandten gab es nach Berlin (West) schon jetzt. In der vergangenen Nacht passierten ca. 60 000 Bürger der DDR die Grenzübergangsstellen nach Berlin (West). Davon kehrten ca. 45 000 wieder in die DDR zurück. Seit heute Morgen 6:00 Uhr können nur Personen nach Berlin (West) ausreisen, die über das entsprechende Visum der DDR verfügen. Das gleiche gilt auch für ständige Ausreisen aus der DDR. Ich bitte Sie, lieber Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow, den Botschafter der UdSSR in der DDR zu beauftragen, unverzüglich mit den Vertretern der Westmächte in Berlin (West) Verbindung aufzunehmen, um zu gewährleisten, dass sie die normale Ordnung in der Stadt aufrechterhalten und Provokationen an der Staatsgrenze seitens Berlin (West) verhindern. Berlin, 10. November 1989 Mit kommunistischem Gruß Egon Krenz Generalsekretär.“
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Dieser Text, den wir als ZK-Mitglieder nicht kannten, spricht dafür, dass ein großes weltpolitisches Problem über einen unglaublich unspektakulären Weg gelöst wurde. Ob Kalkül, Dummheit oder Unbedarftheit, darüber sollen sich die Historiker streiten.
Der Potsdamer Historiker Hans-Hermann Hertle fasst dieses Ereignis wie folgt zusammen:
„Der Fall der Mauer entstand durch ein Zusammentreffen von unkoordinierten Entscheidungen der SED-Spitze, falschen Situationsdefinitionen der West-Medien, spontanen Entschlüssen von Fernsehzuschauern und Radiohörern sowie ad-hoc-Entscheidungen der Grenzsicherungsorgane, das heißt aus in jeder Hinsicht offenen Handlungssituationen. Der dynamische Mobilisierungsprozess, den die Medienberichterstattung in Gang setzte, wurde gefördert durch Erwartungen und kollektive Handlungsdispositionen, die durch die Erfolge des Protestverhaltens der zurückliegenden Wochen entstanden waren.
Das Zurückweichen der Grenzsicherungskräfte wiederum wurde einerseits durch das Ausbleiben von Befehlen, andererseits durch den Sinnverlust herbeigeführt, der für die Bewachung der Berliner Mauer seit der Öffnung der ungarischen und tschechoslowakischen Grenze eingetreten war. Die Gegenmobilisierung blieb durch Turbulenzen im Partei- und Regierungsapparat und unzureichende Kommunikationsverbindungen aus; unter Gorbatschow war die sowjetische Führung zu einer militärischen Intervention nicht mehr bereit.“
"Die Leute tanzen auf der Mauer"
Diese ZK-Tagung verändert im Lande nichts mehr. Das in aller Eile am 10. November noch beschlossene Aktionsprogramm spielt keine Rolle mehr. An der Grenze ist der Teufel los. Die Leute tanzen auf der Mauer. Im Sekretariat des Zentralrats der FDJ, wo ich diese Tagung auswerte, verberge ich meine Enttäuschung nicht.
Meine Mitstreiter fallen quasi in sich zusammen. Gemeinsam mit Wilfried Poßner gehe ich zu einer Kundgebung der Berliner Parteiorganisation in den Lustgarten. Zunächst bestimmen Krenz-Fans das Bild (das sind noch Studierende der Jugendhochschule der FDJ), dann wird es fast zu einer Protestversammlung gegen die Entscheidung des ZK für eine Parteikonferenz. Laut wird ein Parteitag gefordert. Krenz erlebt den Protest hautnah, seine üblichen großen Worte kommen dagegen nicht an.
Gregor Gysi treffe ich da das erste und letzte Mal. Er fragt mich, ob es stimme, dass ich Erich Honecker einen Brief geschrieben habe. Mit Krenz diskutiert er, wie man das Thema Wahlfälschungen vom Tisch bekommen könne. Krenz antwortet ihm unverständlich, dass er damit nichts zu tun habe. Formal stimmt das zwar, aber als Leiter der Wahlkommission hatte er damals das Ergebnis zu verkünden. Noch heute sehe ich sein gequältes Gesicht im Fernsehen vor mir.
Zitierweise: Eberhard Aurich, "Es war ein Tanz auf dem Vulkan", in: Deutschland Archiv, 9.11.2022, Link: www.bpb.de/515045. Alle Beiträge auf Externer Link: www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Quelle: Eberhard Aurich, Zusammenbruch, Erinnerungen, Dokumente, Einsichten. Im Selbstverlag, Berlin 2020, S. 135 – 149.
Die Bundeszentrale für politische Bildung machte am 9.11.2022 aus Anlass ihres 70. Geburtstags nicht nur mit einem "Bücherbus" in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße Station:
Sie organisierte dort in Kooperation mit der Stiftung Berliner Mauer am Mittag des 9. November in der Kapelle der Versöhnung eine Diskussionsrunde („Versöhnungsdialog“) mit Eberhard Aurich, dem ehemaligen Vorsitzenden der SED-Jugendorganisation "Freie Deutsche Jugend" FDJ, der im Herbst 1989 gerne zum „Reformer“ geworden wäre, zeitgemäße Strategiepapiere entwarf, sich aber dann abwartend dem Parteidruck beugte. Er reflektiert und schreibt jedoch seitdem vergleichsweise selbstkritisch darüber, warum er nicht mehr Mut bewies und zu lange schwieg. Siehe auch seine Website www.eaurich.de. Hier die 90-minütige Videodokumentation des "Versöhnungsdialogs", dem noch weitere folgen werden:
Am 9. November 2022 kam es in der Berliner Kapelle der Versöhnung zu einem ungewöhnlichen Zeitzeugen-Gespräch vor Schülern und Schülerinnen einer Berliner Schule, organisiert von der bpb aus Anlass ihres 70.Geburtstags. Am 33. Jahrestag des Mauerfalls diskutierten dort der langjährige SED-Funktionär und Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Eberhard Aurich (76), und der Pfarrer der Ev. Versöhnungskirche, Thomas Jeutner (62). Beide Lebensläufe können unterschiedlicher nicht sein.
Aurichs Gesprächspartner, der in der Kapelle der Versöhnung dessen Sichtweisen hinterfragte, war der ev. Pfarrer der Versöhnungsgemeinde, Thomas Jeutner, der aus Prenzlau stammt und als Jugendlicher die Mitgliedschaft in der FDJ ablehnte. Nach der Schulzeit in Potsdam lernte er Fernmeldemechaniker, verweigerte den Wehrdienst in der NVA und wurde Bausoldat. Nach kurzer Zeit als Student in Wismar wurde er aus politischen Gründen der Hochschule verwiesen. Auf dem Sprachenkonvikt der Evangelischen Kirche in Berlin studierte er Theologie und wurde Pfarrer, sein Bruder verließ derweil frustriert die DDR. Aber auch SchülerInnen zweier Berliner Gymnasien beteiligten sich an der Diskussion, die von der Redaktion Externer Link: Deutschlandarchiv der bpb aufgezeichnet worden ist.
Eberhard Aurich (75) vollzog einen Musterparteikarriere in der DDR, die er sich heute selbst nicht erklären kann. Er war als Kind in Karl-Marx-Stadt zunächst bei der Pionierorganisation Ernst Thälmann aktiv und wurde 1960 Mitglied der FDJ. Nach einer Berufsausbildung mit Abitur als Betonfacharbeiter studierte er von 1965 bis 1969 an der Pädagogischen Hochschule Zwickau mit Abschluss als Diplomlehrer für Deutsch und Staatsbürgerkunde. Mit 21 Jahren wurde er 1967 Mitglied der SED.
Von 1969 an war er hauptamtlicher Mitarbeiter der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ), zunächst bei der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz), von 1972 bis 1977 bei der Abteilung Studenten im Zentralrat der FDJ. Von 1977 bis 1980 war er 1. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und wurde 1979 Mitglied des Büros des Zentralrates der FDJ. Hier wurde er 1980 zweiter und seit 1983, als Nachfolger von Egon Krenz, Erster Sekretär des Zentralrates der FDJ. Außerdem war Aurich von 1981 bis 1989 Mitglied im Zentralkomitee der SED, bis 1990 Abgeordneter der Volkskammer und von 1986 bis 1990 Mitglied des Staatsrates der DDR. Ende November 1989 trat er bei Neuwahlen der FDJ-Spitze nicht mehr an. 1991 verließ er die PDS.
Von 1990 bis Ende 2011 war Aurich Geschäftsführer eines Verlages, der eine Zeitschrift und Bücher für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen herausgibt. Heute engagiert sich ehrenamtlich im Köpenicker Allende-Viertel in Berlin für sozial Schwache, alte Menschen und Flüchtlinge. 2020 veröffentlichte er im Selbstverlag sein Buch "Zusammenbruch, Erinnerungen, Dokumente, Einsichten"
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