Die Geschichte der Sinti und Roma in Europa kann, wenn man bereit ist, zweifellos vorhandene Spezifika historischer Epochen einzuebnen, als eine jahrhundertelange Aneinanderreihung von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verfolgung beschrieben werden, die bis ins Heute reicht
„Nur sagen kann man es nicht“ Kontinuität und restaurative Transformation des Antiziganismus im Parlamentarischen Rat
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Antiziganistisches Denken blieb in Deutschland auch nach 1945 allgegenwärtig – sogar im Parlamentarischen Rat. Anlass war dort die Debatte über Gleichheit. Sollte sie wirklich für alle gelten? Mancher Abgeordneter instrumentalisierte das „Zigeuner“-Ressentiment gezielt für politische Zwecke.
Vielsagende Wortprotokolle
Reden über die „Zigeunerplage“. Verärgerung über „dieses Umherziehen“, das die Gruppe ausmache. Unverständnis darüber, dass die Militärregierungen der Alliierten den deutschen Nachkriegsbehörden ein ordnungspolitisches Durchgreifen erschwerten, indem sie die Überlebenden des Völkermordes unter besonderen Schutz stellten und – so die distanzierende Formulierung – „sagen: das sind Naziverfolgte“. Schließlich der aus der Unzufriedenheit über die oktroyierte Rechtslage resultierende Ruf nach neuen „gesetzlichen Sonderregelungen“ für die Minderheit der Sinti und Roma.
Dabei wäre eine eingehendere Beschäftigung mit den rassistisch geprägten Vorstellungen der Verfassungsgeberinnen und Verfassungsgeber aus zwei Gründen angezeigt: Nicht nur entsteht so ein Beitrag zur Geschichte des modernen Antiziganismus, der dessen Beharrungskräfte und gleichzeitige Anpassungsfähigkeit in Momenten historisch-politischer Umbrüche illustriert. Auch die übergeordnete Frage nach den über die Zäsur des Jahres 1945 hinauswirkenden ideologischen Kontinuitäten birgt weitreichende Implikationen für die Charakterisierung der frühen Nachkriegszeit in Deutschland, die in der historischen Forschung seit langem im Spannungsfeld zwischen Restauration und Neubeginn steht.
Konkret stellt sich die Frage, wie Antiziganismus sogar innerhalb der im kulturellen Gedächtnis des Deutschen überwiegend positiv erinnerten verfassunggebenden Versammlung der Bundesrepublik manifest werden konnte – nur wenige Jahre, nachdem an die 15.000 als „Zigeuner“ stigmatisierte Deutsche und Hunderttausende europäischer Roma unter der Herrschaft der Nationalsozialisten systematisch ermordet worden waren.
Zweitens wird am Beispiel der Ausschussberatungen im Parlamentarischen Rat argumentiert, dass ungeachtet einer weitgehenden Kontinuität antiziganistischer Vorstellungen die Artikulation des Antiziganismus nach 1945 nur noch in bestimmten Formen erfolgen konnte, die sich von der nationalsozialistischen Ausprägung äußerlich abhoben und zugleich an einen älteren, vor 1933 dominanten „Zigeuner“-Begriff anknüpften, in dem kulturalistische Begründungszusammenhänge zur Rechtfertigung von Disziplinarmaßnahmen gegenüber biologistischen Argumentationen überwogen. Dieser auf ältere Sprachmuster zurückgreifende kulturalistische Anstrich des Antiziganismus, der in der Nachkriegszeit überhandnahm, war einer substanziellen Bewahrung des antiziganistischen Rassismus förderlich und wird hier als „restaurative Transformation“ des Antiziganismus nach 1945 gedeutet.
Drittens schließlich eignen sich die Sitzungsprotokolle des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates, um am konkreten Beispiel aufzuzeigen, auf welche Weise sich der Antiziganismus zur Durchsetzung politischer Ziele instrumentalisieren ließ und in welchem dialektischen Zusammenhang diese Funktionalisierungsmechanismen mit der Stabilisierung des antiziganistischen Paradigmas standen. Dazu wird auch der inhaltliche Kontext der Ausschussverhandlungen ausführlicher entfaltet.
1. „Nur sagen kann man es nicht“: Antiziganismus nach 1945 als diskrete Normalität
Die sich seit den 1990er-Jahren etablierende historische Antiziganismusforschung hat auf die Kontinuität der Diskriminierung aufmerksam gemacht, die das Leben der Sinti und Roma in Deutschland auch über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus bestimmte.
Nichtsdestoweniger ist es bemerkenswert, dass die über „Zigeuner“ verbreiteten Stereotype nicht nur in weiten Teilen der Bevölkerung,
Diese Irritation wird noch verstärkt, wenn man erkennt, dass die Positionierung der einzelnen Abgeordneten gegenüber den durchgängig als „Zigeuner“ bezeichneten Sinti und Roma nicht mit einer bestimmten Parteizugehörigkeit korrelierte. Zwar fielen mit Hermann von Mangoldt (CDU) und Wilhelm Heile (Deutsche Partei) in erster Linie Vertreter des konservativ-rechten Lagers mit antiziganistischen Zuschreibungen auf. Aber in Friederike Nadig, die etwa darauf bestand, dass „wir […] sie [die Sinti und Roma, der Verfasser] bei uns nicht zu dulden [brauchen]“,
Der Bruch in Fragen des Umgangs mit Sinti und Roma verlief also im frühesten politischen Bonn weder intuitiv noch kontraintuitiv
Wenn man sich die Protokolle der fraglichen Sitzungen im Kontext anschaut, löst sich die Verwunderung über die rassistische Sprache der „Verfassungseltern“ weiter auf. Denn bei der Lektüre fällt auf, dass sich die Abgeordneten keineswegs unter öffentlicher Beobachtung fühlten. Anders als bei den medial begleiteten Plenarsitzungen tagten die Ausschüsse bei ihren Zusammenkünften unter Ausschluss der Öffentlichkeit und konnten ihre Sacharbeit „weitgehend unbeeinflußt von der öffentlichen beziehungsweise veröffentlichten Meinung“ verrichten.
Im Ausschuss für Grundsatzfragen schlug sich dies in der Art und Weise der Verhandlungen nieder, in denen die verschiedenen Sachthemen in der Regel parteiübergreifend konstruktiv erörtert wurden, ja die mitunter gar den Charakter lockerer Gespräche annahmen. Wolfram Werner spricht in seiner Einleitung zur Edition der Ausschussprotokolle von einer „guten und konstruktiven Atmosphäre, […] fast völlig frei von persönlicher und politischer Polemik“.
Häufig wiederkehrende Einschübe wie „Ich habe das noch nicht zu Ende durchdenken können“,
Man kann die sich in jenen Jahren gesellschaftlich etablierende Variante des Antiziganismus deshalb als „diskrete Normalität“ bezeichnen. Förmlich greifbar wird diese partielle Diskursverschiebung in Folge des Zusammenbruchs von 1945 hin zu einer Normalität unter Diskretionsvorbehalt, wenn der Ausschussvorsitzende von Mangoldt über das Dilemma klagte, „sich praktisch einer solchen Verpflichtung“ – gemeint waren die zuvor erwogenen „gewissen gesetzlichen Sonderregelungen“ für „Zigeuner“ – „gar nicht entziehen“ zu können, „nur“, so bedauerte er, „sagen kann man es nicht“.
2. Ein kulturalistischer Anstrich als restaurative Transformation des Antiziganismus
Neben der wichtigen Unterscheidung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Räumen verdeutlichen die Protokolle der Grundsatzausschusssitzungen des Parlamentarischen Rats aber auch, dass dem Sagbaren nach dem Nationalsozialismus auch in vertraulichen Gesprächskontexten neue Grenzen gesetzt waren. So begegnet man Formulierungen, die auf eine gewisse Unsicherheit im weiteren Gebrauch tradierter antiziganistischer Vorstellungen hindeuten und sogar darauf schließen lassen, dass sich manche Abgeordneten der grundsätzlichen Problematisierbarkeit eines verbalisierten Antiziganismus teilweise bewusst geworden waren.
Neben dem Lamento, das von Mangoldt um das gefühlte Sprechverbot machte, fällt hier das zaghafte Herantasten ins Auge, mit dem Wilhelm Heile (DP) seine Ausführungen zu einer angeblich bestehenden „Zigeunerplage“ einleitete. Bevor er im Kontext des vom Ausschuss an diesem Tag diskutierten Freizügigkeitsprinzips des Rechts der freien Wohnsitznahme im Bundesgebiet das Gespräch auf die „Zigeuner“ lenkte und damit ein von ihm offenbar als heikel wahrgenommenes Thema anfasste, erkundigte er sich vorsichtig, ob er „mal – undurchdacht – aus meiner Verwaltungspraxis heraus – eine Frage stellen“ dürfe.
Entscheidend konnten dabei schon sprachliche Feinheiten sein. Zum Beispiel sprach von Mangoldt nicht bloß von „dem Zigeuner“ – ein Begriff, der bei aller Ambiguität
Durch diese „Essentialisierung von Kultur, die aber nicht mehr als rassistisch galt“,
Augenfällig wird der Prozess der Kulturalisierung des Antiziganismus auch beim Abgeordneten Ludwig Bergsträsser (SPD). Als von Mangoldt zur Unterstützung der von ihm für „Zigeuner“ geforderten „gesetzlichen Sonderregelungen“ auf das US-amerikanische Rechtssystem verwies, das im Grunde trotz aller Gleichheitsrhetorik von dem Gedanken durchdrungen sei, „das Übergewicht der nordischen Rasse in den Vereinigten Staaten [zu] erhalten“,
Bergsträsser knüpfte damit an die seit dem 18. Jahrhundert durch Ethnographen behauptete Unvereinbarkeit des vermeintlich auf einer vorzivilisatorischen Entwicklungsstufe stehengebliebenen, tribalisierten „Naturvolkes“ der Sinti und Roma mit dem eigenen, als vollendet idealisierten Kulturniveau weißer Europäer an, die der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal in seiner Repräsentationsgeschichte der „Zigeuner“ als „Enteuropäisierung“ bezeichnet.
Nadig stieß daran anschließend eine terminologische Transformation an, die in der schon wenige Jahre später in den meisten amtlichen und offiziösen Schriftstücken durchgesetzten Substitution des „Zigeuner“-Begriffs durch die „rassisch“ formal indifferente Bezeichnung der Sinti und Roma als „Landfahrer“ mündete.
Schon 1926 hatte er im bayerischen „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ Anwendung gefunden. Jedoch scheint Nadig der Terminus, nachdem er mitsamt dem durch ihn transportierten kulturalistischen „Zigeuner“-Verständnis während der Zeit des Nationalsozialismus in den Hintergrund getreten war, nicht so geläufig gewesen zu sein, als dass er ihr spontan in den Sinn gekommen wäre. Indem sie das störende Phänomen des „Umherziehens“ nicht allein „Zigeunern“ anlasteten wollte, sondern vorschlug: „Man sagt vielleicht richtiger: Das Umherziehen von asozialen Menschengruppen überhaupt“,
Paradoxerweise verrät Nadigs spontane Assoziierung von Sinti und Roma mit Asozialität, auf die sie beim Versuch der Reinwaschung ihrer „Zigeuner“-Feindlichkeit durch deren äußere Entrassifizierung verfiel, dass die Essenz der antiziganistischen Vorurteilsstruktur – von der praktischen Behandlung der Minderheit durch Polizei und Ordnungsbehörden gar nicht zu reden – von der konstatierten Diskursverschiebung weitgehend unberührt blieb.
Über alle Wechselfälle des 20. Jahrhunderts hinweg, die politische Zäsur 1945 eingeschlossen, hielt sich die von der nationalsozialistischen Propaganda besonders in den Vordergrund gerückte
In den Debatten des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates spiegelte sich also der Prozess einer zeitgenössischen Veränderung im Reden über Sinti und Roma, die aber als defensive Konzession an die Erfordernisse einer politischen Kultur nach „Auschwitz“ auf die Diskursebene beschränkt blieb. Gleichzeitig ist der Wandlungsprozess angesichts der Tatsache, dass der Landfahrerbegriff in vornationalsozialistischer Zeit gleichberechtigt neben dem Zigeunerbegriff gestanden hatte, eher als eine restaurative denn eine innovative Transformation zu beschreiben. Im diachronen Verlauf betrachtet kehrte im Deutschland der Nachkriegsjahre dem Schein nach ein soziokulturell definiertes Verständnis von „Zigeunern“ zurück, das bei Polizei und Behörden schon während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik vorherrschend gewesen war und in dem „das Umherziehen im Familienverband und die Ausübung eines Wandergewerbes“ die bestimmenden Zugehörigkeitskriterien bildeten.
Gleichwohl brachten die Nachkriegszeitgenossen eine Antiziganismusvariation eigener Art dadurch hervor, dass sie zum Einen den aus der vornationalsozialistischen Zeit bekannten Kern eines sozialkulturellen Begriffsverständnisses mit der zuvor beschriebenen neuartigen Diskretionsbedingung verschmolzen.
Eine veränderte Terminologie und kulturelle Codierung von Rassismus scheint als formales Bekenntnis zur postfaschistischen Nachkriegsordnung hinreichend gewesen zu sein, sodass die eigentliche Alterisierung und Herabsetzung von Sinti und Roma unangetastet bleiben konnte.
Für die Betroffenen bedeutete die Teilreaktivierung des kulturalistischen „Zigeuner“-Bildes keine einseitige Verbesserung ihrer Situation. Zwar gewährte der neue legalistische Rahmen der Nachkriegsordnung mit seinem Diskriminierungsverbot wegen der „Rasse“ den Sinti und Roma einen gewissen Schutz vor Übergriffen, der verglichen mit dem Horror der NS-Herrschaft eine signifikante Erleichterung des Daseins bedeutete. Andererseits konnte die stärker soziographische Definition der „Zigeuner“ und „Landfahrer“ bei Bedarf aber auch gegen die Sinti und Roma gewendet werden. So wiesen manche Wiedergutmachungsämter und Gerichte die Entschädigungsansprüche vieler Sinti und Roma bis weit in die 1960er-Jahre hinein mit der Begründung ab, die Verfolgung der „Zigeuner“ sei – zumindest bis 1943 – nur in Einzelfällen „rassisch motiviert“, in der Regel aber Teil legitimer polizeilicher Kriminalitätsprävention gewesen.
Diese historisch unhaltbare Position gewann in der Nachkriegszeit an Plausibilität, weil sie den kulturalistisch camouflierten Antiziganismus der Gegenwart sozusagen auf die Zeit des „Dritten Reiches“ zurückprojizierte.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Erscheinungsformen des Antiziganismus weiter vielgestaltig sein konnten. Wenn etwa der eingangs als „zigeunerfreundliche“ Stimme vorgestellte Karl Kuhn seine Warnung, die Minderheit der Sinti und Roma durch Zwang „staatlicherseits seßhaft machen [zu] wollen“, damit begründete, „dass bekanntlich Zigeuner, wenn sie nicht wandern, tuberkulös werden“,
Der Antiziganismus blieb also obligatorische Grundlage der zeitgenössischen „Zigeuner“-Perzeption, auch wenn er in diesem Fall im Gewand des Konstrukts vom anspruchslosen, ursprünglichen und im Einklang mit der Natur verbrachten „Zigeunerlebens“ daherkam,
Die Funktionsfähigkeit der nun zu beschreibenden Instrumentalisierungsmechanismen des Antiziganismus zu unmittelbar politischen Zwecken basiert auf diesem durch die Breite der Äußerungsmöglichkeiten noch gefestigten antiziganistischen common sense, der die frühe Nachkriegszeit, obgleich in einer auf spezielle Weise veränderten Tonlage, nicht weniger als in vorherigen Epochen wie eine stete Hintergrundmelodie begleitete.
3. Antiziganismus als Instrument restriktiver Grundrechtspolitik
Es bleibt die Frage offen, warum die Sinti und Roma den Abgeordneten im Grundsatzausschuss überhaupt der Rede wert erschienen. Schließlich handelte es sich bei ihnen um eine Minderheit, der bei Kriegsende nur noch schätzungsweise 5.000 Überlebende des Genozids angehörten
Die wichtigste Aufgabe, die in die Zuständigkeit des Ausschusses für Grundsatzfragen fiel, war die Arbeit an den individuellen Grund- und Freiheitsrechten, die in der Bundesrepublik – nach ihrer Außerkraftsetzung im Nationalsozialismus – wieder gelten sollten.
Dies begründete zwar einen in der deutschen Demokratiegeschichte noch nicht dagewesenen Fortschritt, ging aber für die Verfassungsgeber mit der Verantwortung einher, dass ihre Arbeit enorme Auswirkungen auf die Verfassungswirklichkeit haben würde, die bis in die Lebensrealitäten der Bürgerinnen und Bürger hineinreichten. Bei der Diskussion um den letztlich als Art. 3 Abs. 1 mit dem Wortlaut „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ in die Verfassung eingegangenen Gleichheitsgrundsatz wurde deshalb die Frage aufgeworfen, ob man dem Gesetzgeber und der Verwaltung die Vorschrift zur uneingeschränkten Gleichbehandlung aller Bundesangehörigen tatsächlich zumuten dürfe.
Zuvorderst wurde in den sich anschließenden Diskussionen darüber, inwiefern es nicht doch redlich sei, „Verschiedenes nach seiner Eigenart“
Wenn von Mangoldt daraufhin die „sehr grundsätzliche[n] Bedenken“ vorbrachte, dass bereits der ins Auge gefasste erste Absatz des Artikels „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ „zu weitgehend“ sei und man vielmehr dafür sorgen müsse, „daß Ungleiches vom Gesetzgeber auch ungleich behandelt werden kann“,
Auch, wo die Diskussion die allgemein-theoretische Ebene wieder verließ und auf konkrete Praxisbeispiele zurückkam, zeigt sich deutlich, dass hier nichts anderes als die „Frauenfrage“ verhandelt wurde. Als Ludwig Bergsträsser von Mangoldt wiederholt die frauenpolitischen Implikationen seiner abstrakten Überlegungen vorhielt, ließ sich der CDU-Politiker, obgleich er immer wieder vorgegeben hatte, nicht mit der Geschlechterordnung im Speziellen, sondern mit der Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz generell zu hadern, entlocken, dass es auch ihm im Kern um die Geschlechterfrage ging:
Vors. (Dr. v. Mangoldt): "Das alles bezieht sich jetzt nicht auf die Frauen, sondern auf den Satz: ´Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich´, und auf den zweiten Satz […] ´Der Gesetzgeber muß Gleiches gleich, er kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln´".
Dr. Bergsträsser: "Aber der Satz: Gleiches gleich, Verschiedenes nach seiner Eigenart, bezieht sich wieder auf die Geschlechter."
Vors. (Dr. v. Mangoldt): "Der Satz soll sich auch auf die Geschlechter beziehen. Zum Beispiel kann der Gesetzgeber einen Schutz der Mutterschaft nicht für Männer einführen“.
Von Mangoldt, der eine allgemeingültige Festschreibung absoluter Gleichberechtigung der Geschlechter offenbar verhindern wollte, verstand jedoch bald, dass er um seine den feministischen Standpunkt vertretenden sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen von der Notwendigkeit einer offeneren Formulierung zu überzeugen, zu anderen argumentativen Mitteln greifen musste. Also setzte der Ausschussvorsitzende noch einmal an:
„Wenn man sagt: Alle Menschen sind gleich, so zeigt sich eben, daß sie praktisch nicht vollkommen gleich sind, sondern daß es gewisse Dinge gibt, die aufgrund der bei den Menschen nun einmal naturgegebenen Nuancierungen zu einer anderen Regelung führen müssen. Zum Beispiel könnte der Zigeuner, der herumwandert, gewissen gesetzlichen Sonderregelungen unterliegen“.
Von Mangoldt instrumentalisierte hier die weit verbreitete Angst vor dem „herumwandernden Zigeuner“. Der von ihm vorausgesetzte Konsens bezüglich der Notwendigkeit eines Sonderrechts für diese als gefährlich gebrandmarkte Minderheit würde es den Verfechtern einer vollständigen Gleichstellung der Frau, so sein Kalkül, schwer machen, auf ihrem Standpunkt einer generellen, unverletzlichen Rechtsgleichheit aller Menschen zu verbleiben, nachdem sie ihm hinsichtlich der „Zigeuner“ zustimmen und die Notwendigkeit, die Freiheitsrechte gewisser Gruppen einzuschränken, konzedieren mussten.
Die „Zigeuner“, deren Hang zur Delinquenz und die daraus für die bürgerliche Gesellschaft resultierende Bedrohung zum festen Bestand an seit Jahrhunderten angehäuften, und jederzeit abrufbaren Merkmalszuschreibungen über die Minderheit gehörte, mussten also als Argument für eine restriktivere Grundrechtspolitik und speziell gegen die vollständige Emanzipation der Frauen herhalten.
Die Beobachtung, dass das „Zigeuner“-Ressentiment als Stellvertreter gegen andere gesellschaftliche Gruppen und Minderheiten gewendet wurde, ist dabei nicht grundsätzlich neu. Als etwa im späten 19. Jahrhundert der Widerwille gegen die fortschreitende Emanzipation der Juden in gewissen Kreisen zunahm, griff ein Vertreter der sich formierenden antisemitischen Bewegung, Eduard Schwechten, dazu, seinen Judenhass kommunikativ auf die „Zigeuner“ umzuleiten, weil er wohl zurecht erwartete, dass die Verunglimpfung der „Zigeuner“ auf allgemeine Akzeptanz stoßen würde – auch im liberalen Bürgertum, das der Judenemanzipation weitgehend positiv gegenüberstand und gegen dessen Philosemitismus sich die Hetzschrift aus dem Jahre 1883 wendete.
Wenn Schwechten in seiner ironischen Einladung „An die Zigeuner“ zwischen den menschenverachtenden Reimen auf die „Zigeuner“ auch formulierte: „Heil und Hülfe allen Menschen, ganz besonders morgenländ´schen!“,
Die Parallele zwischen der expliziten Bekämpfung der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert und der subtileren Bekämpfung der Frauenemanzipation Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem jeweils gleichen Mittel des Appels an antiziganistische Gefühle der Adressaten tritt offen zutage.
Auch in jüngerer Vergangenheit funktionierte die politische Instrumentalisierung des Antiziganismus auf ähnliche Weise. Die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, die der Bundestag 1993 mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen hat, wurde, so Herbert Heuß, „über die Aktualisierung eines Fremdbildes/Feindbildes vom Zigeuner eingeleitet und durchgesetzt“, indem „die aus Mittelost- und Südosteuropa nach Deutschland kommenden Roma […] als erste Vorboten einer Völkerwanderung aus dem Osten, assoziativ geradezu an die Hunnenstürme anknüpfend“ dargestellt wurden.
Der Instrumentalisierungsversuch antiziganistischer Affekte im Parlamentarischen Rat kann nun als ein weiteres Beispiel für den politischen Funktionalisierungsmechanismus des Antiziganismus verstanden werden, das zur Instrumentalisierung der Sinti und Roma gut 50 Jahre zuvor und knapp 50 Jahre danach in einer frappierenden Kontinuität steht. 1948 blieb es jedoch bei einer versuchten Beeinflussung, denn anders als mit den vom Balkan flüchtenden Roma der 1990er-Jahre ließ sich mit den Sinti und Roma der späten 1940er-Jahre kein großes politisches Kapital schlagen.
Die seitens von Mangoldt forcierte Relativierung des Gleichheitsgrundsatzes fand ihren Weg in die 1949 verabschiedete Fassung des Grundgesetzes letztlich nicht. Dennoch entfaltete der Plan des Ausschussvorsitzenden unmittelbare Wirkung. Hatte er bis dahin argumentativ noch ziemlich verlassen dagestanden, so brachte der manipulative Appell an die tiefsitzende, kulturell verankerte „Zigeunerangst“ seine Opponenten doch zumindest zum Nachdenken.
Bergsträsser lenkte nun insoweit ein, als er zu bedenken gab, dass das Verfassungswerk das „Übergewicht des abendländischen Kulturkreises“ sicherstellen müsse, aus dem Sinti und Roma in der Tradition ihrer Enteuropäisierung ganz selbstverständlich ausgeschlossen blieben. Helene Weber (CDU) wollte sich nun noch einmal vergewissern, ob der Grundsatz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ auch wirklich ausnahmslos für alle später einmal zu erlassenden Gesetze bindend sein würde, und räumte, nachdem dies bekräftigt worden war, ein, dass ihrer Ansicht nach „alle Menschen […] nicht gleich“ seien, „auch die Männer untereinander nicht, die Frauen untereinander nicht“.
Von Mangoldt seinerseits legte, nachdem er erkannt hatte, dass seine neue Argumentationsstrategie auf fruchtbaren Boden fiel, noch einmal nach und schürte die Sorge vor dem Wegfall weiterer als selbstverständlich und legitim erachteter Spezialmaßnahmen wie die schulische Exklusion von „Kinder[n], die geistig minderbemittelt sind“,
In einer Zeit, in der die rechtliche Diskriminierung von Frauen ihre Selbstverständlichkeit verlor, führte von Mangoldt, der konservative Kritiker der vollständigen Gleichstellung, bestehende, auf Ungleichheit beruhende Normen und Praxen gegenüber Gruppen wie Kindern, „Geisteskranken“ und „Zigeunern“ ins Feld, die gesellschaftlich nach wie vor unumstritten waren. Auf diese Weise hoffte er, sich in einem allgemein zu formulierenden Verfassungsartikel Schlupflöcher offenhalten zu können, die eine praktische Ungleichbehandlung der Frauen weiter ermöglichen würde.
Den Preis für diese argumentative Volte hatten die deutschen Sinti und Roma zu zahlen. Dass sie an diesem 30. November 1948 von Abgeordneten des Parlamentarischen Rates in eine Reihe neben Kinder und psychisch Erkrankte gestellt wurden, weist nicht nur positivistisch auf die Hegemonie des antiziganistischen Diskurses in den ersten Jahren nach 1945 hin, die demokratische Würde des Ortes ihrer politischen Instrumentalisierung musste normativ auch einen Beitrag zur weiteren Verselbstständigung dieses Diskurses leisten.
4. Fazit
Die Untersuchung der von der historischen Forschung bislang kaum beachteten antiziganistischen Äußerungen im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates im Herbst 1948 belegt an einem prominenten Beispiel, dass der Antiziganismus und seine „Wissensbestände“
Obwohl die Nationalsozialisten als Anstifter und Vollstrecker einer eliminatorischen Völkermordpolitik nach der totalen Niederlage delegitimiert waren, resultierte dies nicht einmal innerhalb der intellektuellen und politischen Eliten der jungen westdeutschen Demokratie in eine wirkliche Loslösung vom Antiziganismus. Dass antiziganistische Denk- und Sprachfiguren bis hinauf in die Verfassungsberatungen des neuen Weststaates und unabhängig von Parteizugehörigkeiten beobachtet werden können, bezeugt diese konstante Normalität des Antiziganismus als gesellschaftlichen Grundzustand.
Allerdings blieb der Einschnitt des tausendfachen Mordens auch nicht folgenlos für die Art und Weise, wie antiziganistische Vorstellungen in postnationalsozialistischer Zeit artikuliert werden konnten. So entwickelte sich eine Nachkriegsvariante des Antiziganismus, die es in dieser Ausprägung zuvor nicht gegeben hatte und die sich durch eine Reihe von Merkmalen auszeichnet: Erstens war der Antiziganismus nach 1945 an die stillschweigende Bedingung der Diskretion geknüpft, er war also weniger sichtbar als zuvor und wurde aus der Befürchtung heraus, sich in die Nähe des nationalsozialistischen Rassismus zu manövrieren, aus öffentlichen Räumen ferngehalten.
Deshalb war es zwar in den geheimen Ausschusssitzungen, nicht aber in den öffentlichen Plenarsitzungen desselben Gremiums möglich, sich antiziganistischer Vorurteile zu bedienen. Diese Beobachtung wurde hier als „diskrete Normalität“ bezeichnet. Zweitens erlebte der Antiziganismus aus demselben Grund – der Notwendigkeit, sich von der „Zigeuner“-Verfolgung des Nationalsozialismus zu distanzieren – eine scheinbare Verwandlung. Der Wesenskern des „Zigeunerseins“ wurde dabei so umdefiniert, dass nunmehr statt der Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen „Fremdrasse“ die Zugehörigkeit zu einer vermeintlich klar bestimmbaren Sozialform oder Kulturgemeinschaft im Vordergrund stand. Die Transformation kann deshalb näher als Prozess der Rekulturalisierung des Antiziganismus charakterisiert werden, der gleichzeitig, weil man sich damit wieder den bis 1933 vorherrschenden Formen des Antiziganismus annäherte, eine diskursive Abkehr von der nationalsozialistischen Biologisierung desselben war. Drittens wurde hier argumentiert, dass diese oberflächliche Abkehr vom nationalsozialistischen Antiziganismus unter Rückgriff auf ältere, vorwiegend kulturalistische „Zigeuner“-Konzepte insofern substanzlos war, als sie nicht mit einem Austausch der Konnotationen der Begriffs und seiner Alternativen einherging.
Der inzwischen in der Historiographie der Nachkriegszeit kaum noch umstrittene Kontinuitätsbefund
Schließlich wurde am Beispiel des Materials aus dem Parlamentarischen Rat vorgeführt, auf welche Weise antiziganistische Klischeevorstellungen im politischen Raum zur Durchsetzung genuin politischer Zielsetzungen eingesetzt werden konnten, ohne dass es einem der beteiligten Akteure im eigentlichen Sinne um ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Roma-Minderheit gegangen wäre. Der antiziganistische Teildiskurs webte sich so in größere gesellschaftliche Kontroversen ein und wurde immer selbstverständlicher.
Umgekehrt setzt die Wirkung des Funktionalisierungsmechanismus voraus, dass der Antiziganismus bereits den Rang eines gesellschaftlicher Konsenses erreicht hat. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Antiziganismus und seiner politischen Instrumentalisierung ist also derjenige einer wechselseitigen, spiralenartigen Verstärkung.
Über den Befund der politischen Funktionalisierung hinaus, der die Historiographie des Antiziganismus um ein weiteres markantes Beispiel bereichert, wäre zu wünschen, dass die zeithistorische Forschung zum Antiziganismus in Deutschland nach 1945 die hier zwar an einem für die entstehende Bonner Republik zentralen Beispiel erarbeitete, aber doch auf schmaler Quellenbasis postulierte These des einerseits normalisierten, andererseits aber durch Diskretion und kulturalistische Tarnung versteckten Fortbestands des antiziganistischen Paradigmas aufgreifen und anhand von breiter angelegten Quellenstudien überprüfen würde.
Zitierweise: Joey Rauschenberger, „Nur sagen kann man es nicht“ - Kontinuität und restaurative Transformation des Antiziganismus im Parlamentarischen Rat, in: Deutschland Archiv, 17.10.2022, Link: www.bpb.de/514372.
Ergänzend zum Thema:
Sebastian Lotto-Kusche, Externer Link: "Kann eine Gesellschaft umdenken? Die Anerkennung des NS-Völkermords an Sinti und Roma in der Bonner Republik". Deutschlandarchiv vom 15.9.2021
Weitere Inhalte
M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Er forscht zur Entschädigung der überlebenden Sinti und Roma nach 1945 in Baden-Württemberg.
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