1. Die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der seelischen Verfasstheit von Menschen: Wie sind sie durch ihre psychisch-biografische Vergangenheit sowie durch ihre biologischen und konstitutionellen Gegebenheiten geworden, wie sie jetzt sind, und was bedeutet dies für ihre Zukunft? Dabei gibt es den therapeutischen Optimismus, der besagt: Wenn ein Mensch versteht, wie er verfasst und geworden ist, kann er Einfluss nehmen auf seine Gegenwart und vermag dann eher seine Zukunft nach seinen Wünschen und seinem Willen zu gestalten. Dieser individuelle Vorgang der Selbsterkenntnis ist nicht einfach auf die Gesellschaft übertragbar, weil in ihr viele unterschiedliche Gruppen mit zum Teil gegensätzlichen Interessen wirken. Aber auch hier gilt: Wenn eine Gesellschaft durch verschiedenste Kräfte mehr von ihrer Vergangenheit verstanden hat, ist sie nicht gezwungen, sie in der Gegenwart zu wiederholen und kann ihre Zukunft freier gestalten.
2. Da jeder Mensch an die Kulturvorschriften der Gesellschaft gebunden ist, in der er lebt, hängt das Maß seiner Gestaltungsmöglichkeiten von diesen unmittelbar ab. In seinem Werk „Die Zukunft einer Illusion“
3. Unzweifelhaft kam es im Laufe des Transformationsprozesses seit 1990 zu einem grundlegenden Kulturwandel, insbesondere in Ostdeutschland. Zwei verschiedene gesellschaftliche Kulturen stießen aufeinander, wobei sich die eine als die ökonomisch effizientere erwiesen hatte und sich aber auch in der Art ihrer Werte als die überlegenere darstellte. Zwangsläufig wurden dabei die alten Ideale der ostdeutschen Kultur in Frage gestellt und es kam zu einer Konfrontation der Kulturen, zunächst wenig transparent und von der Ostseite nicht zugespitzt ausgetragen. Zunehmend wird diese Konfrontation aber benannt, anerkannt und auf verschiedene Art auch diskutiert. Auf dem Gebiet der Künste kam es von Anfang an zu einem heftigen Streit, sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst, der mit Spaltungen und Entwertungen einherging. Die offizielle und nichtoffizielle Kunst wurden gegeneinander ausgespielt, dabei aber ihr vielfältiges Aufeinanderbezogensein häufig kaum beachtet. Sehr spät und immer noch zögerlich erfährt die Kunst der DDR die Beachtung und differenzierte Anerkennung, die ihr angemessen sind. Während eines so tiefgreifenden Kulturwandels bleibt es nicht aus, dass es zu den ökonomischen Verwerfungen, die bis an die existenziellen Fundamente reichen, auch zum Infragestellen von Idealen, ja des Sinns des bisher gelebten Lebens kommt. Dies geht mit Gefühlen der Beschämung und Entwertung einher. Falls diesen Entwertungserfahrungen nichts entgegengesetzt wird, sie nicht gesellschaftlich aufgefangen werden, entsteht eine Verbitterung, die sich in Wut, Trotz und Gewalt Bahn bricht.
4. Was anstünde, wäre, die beiden lange getrennten und jetzt vereinten Kulturen wieder zu einem gemeinsamen Gebilde mit gemeinsamen Idealen zu formen. Im Vereinigungsprozess, der eben ein Beitritt war und keine Vereinigung auf Augenhöhe, sind grundsätzliche Dinge nicht zur Gestaltung gekommen. Es wurde keine neue gemeinsame Verfassung geschaffen und es wurden keine neuen gemeinsamen Symbole gesucht. (zum Beispiel Feiertage, Nationalhymne und so weiter). Es geht nun um eine Identifikation mit der Bundesrepublik, mit Deutschland als Demokratie und der gegenseitigen Anerkennung von Verschiedenheit. Es stellt sich nicht die Frage des Zusammenwachsens, sondern: Wie kann zusammengehören, was gewachsen ist?
5. Woraus könnten sich gemeinsame Ideale speisen?
5.1. Die deutsche Geschichte hält in der jüngsten Vergangenheit eine ganze Reihe positiver Identifikationsmöglichkeiten bereit: die Entwicklung der demokratischen Kultur der Bundesrepublik bis 1989, die friedliche Revolution in der DDR 1989/90. Die bisher geleistete geschichtliche und inzwischen auch seelisch-moralische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die auch weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus Anerkennung gefunden hat. Die Bereitschaft zur Aufnahme von Migrant*innen. Diese Geschichte sollte lebendig und zur Identifikation einladend vermittelt werden – durch Eltern und Lehrer*innen.
5.2. Ohne Zweifel sind inzwischen alle Bürger*innen der Bundesrepublik auf Grund von Globalisierung und Digitalisierung einem hohen kulturellen Druck ausgesetzt: Durchorganisiertheit, ständige Erreichbarkeit, dauernde Präsenz im Arbeitsprozess, aber auch in Familie und Freundeskreisen, sowie ein Überdruck durch Dauerinformiertheit – dies sind Merkmale des kapitalistischen Gegenwartsalltags. Die meisten begegnen diesem Druck durch individuelle Strategien, mitunter durch Vereinzelung. Gerade hier wären „analoge“ Identifikationsangebote im Kleinen wichtig: Gruppen, denen man sich zugehörig fühlen kann, die das Bedürfnis nach Kommunikation und gemeinsamen Zielen befriedigen. Dafür gibt es in Westdeutschland seit Jahren gewachsene Strukturen: Sportvereine, Chöre, Kirchengemeinden, zivile Bürgervereine und so weiter. Gerade diese Strukturen wären im Osten wichtig, sie sind weggebrochen und müssen neu aufgebaut und intensiv gefördert werden.
5.3. Wie kann überzeugend vermittelt werden, dass wir den Herausforderungen der Zukunft wie Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung, aber auch dem furchtbaren Ukrainekrieg, nur mit funktionierenden demokratischen Strukturen begegnen können? Dass nur die Demokratie die notwendige Vielfalt und das Spiel der Kräfte ermöglicht und dass eine ihrer Grundkonstanten die Akzeptanz von Verschiedenheit und Anderssein ist?
Da wir alle erleben, wie unter den Bedrohungen der Gegenwart und der Zukunft zu primitiven psychischen Abwehrmechanismen wie Spaltung, Abwertung des Anderen bis hin zu Gewalt und Verbreitung von paranoiden Verschwörungstheorien gegriffen wird, ist meines Erachtens zunächst die Anerkennung der tatsächlichen Bedrohung wichtig. Das Gefühl der Bedrohung eint uns. Danach müsste es aber um etwas gehen, was wir in der Psychoanalyse das Erreichen der depressiven Position nennen. Damit ist keineswegs eine Depression gemeint. Die bessere Bezeichnung wäre „realistische oder schöpferische Trauer“, das heißt die Fähigkeit, trauern zu können, um sich dann mit Hoffnung zu verbinden.
Es geht dabei um die Anerkennung von realen Verlusten wie zum Beispiel des Alltagslebens in der DDR oder von Sicherheit und Geborgenheit in der heutigen Welt, also um Trauer statt Wut. Außerdem geht es um das Verabschieden von unrealistischen Phantasien und um die Anerkennung der eigenen Aggressivität und Feindseligkeit, um sie nicht im anderen zu verorten. Das heißt unter anderem das Zulassen von seelischem Schmerz, um ihn in einem zweiten Schritt überwinden zu können. Wenn man sich in diesem Prozess mit anderen verbinden könnte, wäre das besonders hilfreich.
5.4. Auf welche Weise man gesamtgesellschaftlich seelischen Schmerz eher anerkennen und zulassen könnte, als ihn zu bekämpfen, ist eine wichtige Frage. Beispielhaft erscheinen mir hier die Reden von Walter Steinmeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, die er am 23. Januar 2020 in Yad Vashem und am 29. Januar 2020 im Deutschen Bundestag gehalten hat. Um gemeinsam Schmerz wahrzunehmen, anzuerkennen und zu bewältigen, und um zu trauern, halte ich das Weiterentwickeln, das heißt das aktive Fördern einer Diskussions- und Gesprächskultur, in der man sich in der Bedrohung miteinander verbinden kann, für außerordentlich wichtig. Und last but not least das Fördern und die Anerkennung des hohen Stellenwerts von Kunst, die uns in all ihren Facetten immer wieder Modelle zur Anerkennung und Überwindung seelischen Schmerzes zur Verfügung stellt.
5.5. Im Bewusstwerden, dass unsere nationale Zukunft in einem vereinten Europa eine gemeinsam zu gestaltende Ressource sein kann, könnte sich auch solidarisches Handeln herausbilden. Dabei geht es auch um das Erleben von Selbstwirksamkeit, das viele DDR-Bürger*innen im Herbst 1989 hatten und dass sich auch in der extrem hohen Wahlbeteiligung am 18. März 1990 ausdrückte. Dieses Bewusstsein der eigenen Gestaltungkraft ist einem Teil der DDR-Bürger*innen im vereinten Deutschland verloren gegangen, während ein anderer Teil es in hohem Maß ausgestaltet oder neu erworben hat. Diese verschiedenen Erlebnisse und Bewusstseinszustände suchen weiterhin nach Ausdruck und Vermittlung. Auch 2022 noch immer.
Zitierweise: Annette Simon, "Die sozialpsychologische Seite der Zukunft“, in: Deutschland Archiv, 1.10.2022, Link: www.bpb.de/513690. Der Text ist dem Schriftenreiheband SR 10676 (Ost)Deutschlands Weg entnommen und geringfügig durch die DA-Redaktion aktualisiert.