Das Modell einer „kontrafaktischen Geschichtsschreibung“
Wir haben das in unserem Ende 1989 gegründeten Verlag
Entmachtung alter Strukturen und Schaffen neuer Transparenz
Die Entmachtung der früheren Chefs und die Schaffung transparenter Strukturen hatten so viel Anziehungskraft, dass viele westdeutsche Journalistinnen und Journalisten kamen und fragten, ob sie mitarbeiten können, weil sie so hierarchiefrei noch nie arbeiten konnten. Andernorts entstanden Genossenschaften, die leer stehende Gebäude übernahmen und produktiv umnutzten – für neu entstandene Kleinbetriebe oder für künstlerische und andere freie Projekte. Es bildeten sich Komitees, die verhinderten, dass sich alte Bonzen Immobilien einverleibten oder ehemalige Stasi-Mitarbeiter Einfluss im neuen Politikbetrieb erlangten.
Unsere Verlagsgründung im Dezember 1989 fällt auch in diese Zeit. Wir wollten ein Podium schaffen für all die Journalistinnen/Journalisten und Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftler, die jahrelang recherchiert und geforscht hatten, aber nicht publizieren konnten, weil ihre Ergebnisse nicht ins vorgegebene parteipolitische Bild passten. Doch wie finanziert man einen unabhängigen Verlag, wenn man selbst kein Geld hat?
Wir mussten uns ein neues Modell überlegen und haben um Unterstützerinnen/Unterstützer geworben, die bereit waren, ihr Geld nicht pekuniär verzinst zu bekommen, sondern mit den Büchern, den Neuerscheinungen unseres Hauses, zufrieden waren. Dieses Modell der stillen Teilhaber und ihrer „Bücherzinsen“ lief so lange gut, bis das Finanzamt kam und von uns rückwirkend für zehn Jahre Kapitalertragssteuer haben wollte – für alle zuvor ausgegebenen Bücher.
Neue Unternehmensmodelle, die nicht ins DIN-Norm System der Bundesrepublik passten
Unser Modell gab es im bundesdeutschen System einfach nicht und wurde daher nicht akzeptiert. Das Problem konnte nach langen Verhandlungen schließlich dadurch gelöst werden, dass wir die Einlagen auf Darlehensverträge umgestellt haben und fortan jährlich Bescheinigungen über unsere „Bücherzinsen“ ausstellten, die dann in die Jahressteuererklärungen der Unterstützerinnen/Unterstützer eingingen. Deutlich schlechter erging es alternativen Schulgründern in Ost-Berlin, die nach monatelangen Vorbereitungen im September 1990 die erste Gesamtschule in der noch existierenden DDR eröffneten und am 4. Oktober 1990 von der Gesamtberliner Schulbehörde mitgeteilt bekamen, dass ihr eigenständiges Bildungskonzept nicht dem nunmehr geltenden West-Berliner Schulgesetz entspräche. Alle Lehrerinnen und Lehrer, die keinen pädagogischen Abschluss nach bundesdeutschem Standard hatten, mussten entlassen werden, die Schule wurde wenige Wochen nach ihrer hoffnungsvollen Gründung kurzerhand geschlossen.
Aufbruch einer neuen Graswurzelbewegung
Nachdem sich im Verlauf der 1990er Jahre herausstellte, dass die ostdeutschen Landschaften wohl doch nicht so schnell erblühen würden und in den frisch sanierten Innenstädten kaum noch junge Menschen anzutreffen waren, da es durch die massenhafte Schließung von Betrieben immer weniger Arbeit gab und die Abwanderung in den Westen zunahm, entstand eine neue Graswurzelbewegung unter den Zurückgebliebenen. Einige begannen, leerstehende Häuser eigenständig in Gebrauch zu nehmen, die Industrieruinen für neue Zwecke kreativ zu nutzen und auf dem Lande alternative Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften zu gründen.
Kreativ Zukunft erfinden
Um die Vielfalt der neu entstandenen Initiativen festzuhalten und zu dokumentieren, haben wir 2009 zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution einen Band mit dem Titel Zukunft erfinden – Kreative Projekte in Ostdeutschland herausgegeben. So konnten wir zeigen, dass es im Osten nicht nur Frust gab und gibt, sondern auch eine Vielfalt inspirierender Vorhaben. Zu lesen ist etwa von einer sächsischen Gemeinde, die ihren Strom selbst erzeugt und mit den Einnahmen unter anderem einen Kindergarten finanziert, wodurch die Abwanderung etwas gebremst werden konnte.
In Leipzig schafft der Verein HausHalten sogenannte Wächterhäuser, indem die Besitzer*innen leer stehender Wohnimmobilien davon überzeugt werden, ihr Eigentum vorübergehend mietfrei alternativen Projekten zu überlassen, wodurch diese vor Vandalismus geschützt sind und neue Räume für Kreative entstehen.
Im thüringischen Sondershausen wird eine Kirchenruine durch die tatkräftige Mitarbeit vieler in ein Bürgerzentrum verwandelt, sodass die verloren gegangene Kommunikation wieder in Gang kommt. Die Belegschaft eines Fahrradwerkes, das ein US-Investor schließen will, entscheidet sich, den Betrieb in eigener Verantwortung weiterzuführen. Es wird eine Genossenschaft ins Leben gerufen, um in einem abgelegenen Erzgebirgsstädtchen einen Bürgerkonsum zu betreiben, damit Ältere wieder selbst einkaufen gehen können und nicht auf Lieferungen aus der Kreisstadt angewiesen sind.
In Brandenburg wird ein Weinberg bepflanzt und eine alte Kulturlandschaft wiederbelebt, in Sachsen-Anhalt entstehen sozial-ökologische Modellsiedlungen. In strukturschwachen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, die vom öffentlichen Nahverkehr abgehängt wurden, wird mit Bürgerbussen experimentiert, in Ost-Berlin übernehmen Anwohnerinnen und Anwohner aufgegebene Bibliotheken in Eigenregie, vielerorts bilden sich neue Netzwerke, es gibt sogar eigenständige Regionalwährungen.
Drei Anregungen und was daraus geworden ist
Am Ende des prallen Buches findet sich das Plädoyer einer Initiativgruppe für neue politische Strategien im Umgang mit der Krise, in dem unter anderem drei Empfehlungen ausgesprochen werden: Es sollte ein Fonds zur Förderung bereits bestehender Projekte geschaffen werden, die konkrete Probleme vor Ort nachhaltig lösen. Für solche Projekte wird zweitens eine Plattform des Erfahrungsaustauschs angeregt und die Regierung wird drittens aufgefordert, neue Wege zur Absicherung freiwilliger sozialer Arbeit zu unterstützen und das bürgerschaftliche Engagement gezielt zu stärken.
Zunächst gelang es durch mehrere regionale Treffen, die Akteurinnen und Akteure miteinander in Kontakt zu bringen, die sich teilweise schon durch den Dokumentarfilm „Neuland“ von Holger Lauinger kannten. Parallel dazu entstand eine Webseite, die über mehrere Jahre vom Bundesverband Deutscher Stiftungen unterstützt wurde. Die Politik griff das Thema „Bürgerarbeit“ auf ihre Weise auf und startete 2011 über die Arbeitsämter ein dreijähriges Pilotprojekt, mit dem Arbeitslose in den Kommunen sinnvoll beschäftigt werden sollten. Da es jedoch nicht gelang, die Betroffenen anschließend mehrheitlich in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wurde das Projekt 2014 leider wieder beendet. Für freiwillige Bürgerarbeit gibt es bis heute keine einheitliche Regelung, ein Entgelt für Ehrenamtler oder Bürgerarbeiter wird nach wie vor kontrovers diskutiert.
Die einzige der drei Empfehlungen, die langfristig und nachhaltig umgesetzt wurde, war die einer finanziellen Förderung tragfähiger alternativer Projekte vor Ort. Die Robert Bosch Stiftung hat diesen Impuls aufgegriffen und 2012 das Neulandgewinner-Programm „Zukunft erfinden vor Ort“ aufgelegt.
Nachahmen anstiften
Gewiss, manch andere alternativen Projekte sind auf der Strecke geblieben, sie wurden nicht im historischen Gedächtnis verankert. Aber es gab und gibt ungeahnt viele kreative Ideen und produktive Ansätze, die es lohnt, näher zu betrachten und auch historisch zu würdigen. Wir haben versucht, mit unseren Büchern einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, auch, um zum Nachahmen anzustiften.
Zitierweise: Christoph Links, "Die andere Geschichte der Umbruchjahre – alternative Ideen und Projekte“, in: Deutschland Archiv, 20.09.2022, Link: www.bpb.de/513236. Der Text ist dem Schriftenreiheband SR 10676/I (Ost)Deutschlands Weg I entnommen. Weitere Beiträge zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend:
Jarina Kühn, Anna Schwarz, Anna Steinkamp, Externer Link: "Motivationsarten für Unternehmensgründungen in der postsozialistischen Transformation in Ostdeutschland"; Deutschlandarchiv, 21.9.2022
Marcus Böick, Externer Link: Zwöf Thesen zu Wirtschaftsumbau und Treuhandanstalt - Die Rolle(n) und Folgen des Wirkens der Treuhand, Deutschlandarchiv, 22.9.2022
Und über die (Plan)Wirtschaft in der DDR vor 1990: Daniel Meis, "Externer Link: Alles nach Plan? Die Planwirtschaft der DDR – Konzept, Umsetzung und Scheitern", Deutschlandarchiv 23.9.2022