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Die andere Geschichte der Umbruchjahre – alternative Ideen und Projekte Der ehemalige Verleger Christoph Links über den vergessenen Mikrokosmos kleiner Projekt- und Unternehmensgründungen in der DDR Anfang 1990

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Verläuft Geschichte wirklich immer nur in kausalen Ketten, wie sie auf den ersten Blick logisch scheinen? Oder helfen nicht viele zweite Blicke um Geschichtsverläufe und deren Entwicklungsmöglichkeiten besser zu ergründen und beschreiben? Zum Beispiel, wenn es wie Falle Ostdeutschlands 1990 um den Aufbau neuer Kleinprojekte und Existenzen ging. Reflexionen von Christoph Links, der schon Ende 1989 einen der ersten unabhängigen Verlage in der DDR in die Spur gebracht hat.

Der Berliner Verlagsgründer Christoph Links erhielt 2016 auf der Leipziger Buchmesse den Kurt-Wolff-Preis, jährlich vergeben für Kleinverleger von der Kurt-Wolff-Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene. Die Friedliche Revolution in der DDR hatte am 1. Dezember 1989 zur offiziellen Abschaffung des staatlich kontrollierten Druckgenehmigungsverfahrens geführt und zur allgemeinen Erlaubnis, private Verlage zu gründen. Dies ermöglichte Christoph Links die Gründung seines unabhängigen Sachbuchverlages, der am 24. Januar 1990 ins Handelsregister eingetragen wurde. Seine Auszeichnung 2016 erfolgte mit der Begründung, da er durch seine verlegerisches Schaffen „mit großer Konsequenz und ohne Scheu vor brisanten Themen die Deutschen in Wort und Bild mit ihrer jüngeren Geschichte und gegenwärtigen Rolle in der Weltgesellschaft konfrontiere.

Der Berliner Verlagsgründer Christoph Links erhielt 2016 auf der Leipziger Buchmesse den Kurt-Wolff-Preis, jährlich vergeben für Kleinverleger von der Kurt-Wolff-Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene. Die Friedliche Revolution in der DDR hatte am 1. Dezember 1989 zur offiziellen Abschaffung des staatlich kontrollierten Druckgenehmigungsverfahrens geführt und zur allgemeinen Erlaubnis, private Verlage zu gründen. Dies ermöglichte Christoph Links die Gründung seines unabhängigen Sachbuchverlages, der am 24. Januar 1990 ins Handelsregister eingetragen wurde. Seine Auszeichnung 2016 erfolgte mit der Begründung, da er durch seine verlegerisches Schaffen „mit großer Konsequenz und ohne Scheu vor brisanten Themen die Deutschen in Wort und Bild mit ihrer jüngeren Geschichte und gegenwärtigen Rolle in der Weltgesellschaft" konfrontiere. (© picture-alliance/dpa, Hendrik Schmidt)

Das Modell einer „kontrafaktischen Geschichtsschreibung“ Zur Auflösung der Fußnote[1] ist für die Umbruchjahre nach 1989/90 von besonderem Reiz, da nicht nur alternative Konzepte und Ideen entwickelt wurden, sondern es auch alternative praktische Aktionen gab, die sich unter den neuen Verhältnissen dann allerdings nicht behaupten konnten, die es aber verdient haben, genauer betrachtet zu werden.

Wir haben das in unserem Ende 1989 gegründeten Verlag Zur Auflösung der Fußnote[2] stets begleitet, zunächst mit der detailreichen Chronik der Wende – Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990 (1990, 1994, 1999) und dann mit dem Buch Das wunderbare Jahr der Anarchie – Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90, das 2004 und 2009 in zwei Auflagen erschien. Dort wird beispielsweise die Gründung von Kontrollräten in staatlichen Institutionen wie dem Rundfunk der DDR behandelt: Plötzlich haben nicht mehr die alten Chefredakteure, sondern frei gewählte Redakteursräte darüber entschieden, was gesendet wird und was nicht.

Entmachtung alter Strukturen und Schaffen neuer Transparenz

Die Entmachtung der früheren Chefs und die Schaffung transparenter Strukturen hatten so viel Anziehungskraft, dass viele westdeutsche Journalistinnen und Journalisten kamen und fragten, ob sie mitarbeiten können, weil sie so hierarchiefrei noch nie arbeiten konnten. Andernorts entstanden Genossenschaften, die leer stehende Gebäude übernahmen und produktiv umnutzten – für neu entstandene Kleinbetriebe oder für künstlerische und andere freie Projekte. Es bildeten sich Komitees, die verhinderten, dass sich alte Bonzen Immobilien einverleibten oder ehemalige Stasi-Mitarbeiter Einfluss im neuen Politikbetrieb erlangten.

Unsere Verlagsgründung im Dezember 1989 fällt auch in diese Zeit. Wir wollten ein Podium schaffen für all die Journalistinnen/Journalisten und Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftler, die jahrelang recherchiert und geforscht hatten, aber nicht publizieren konnten, weil ihre Ergebnisse nicht ins vorgegebene parteipolitische Bild passten. Doch wie finanziert man einen unabhängigen Verlag, wenn man selbst kein Geld hat?

Wir mussten uns ein neues Modell überlegen und haben um Unterstützerinnen/Unterstützer geworben, die bereit waren, ihr Geld nicht pekuniär verzinst zu bekommen, sondern mit den Büchern, den Neuerscheinungen unseres Hauses, zufrieden waren. Dieses Modell der stillen Teilhaber und ihrer „Bücherzinsen“ lief so lange gut, bis das Finanzamt kam und von uns rückwirkend für zehn Jahre Kapitalertragssteuer haben wollte – für alle zuvor ausgegebenen Bücher.

Neue Unternehmensmodelle, die nicht ins DIN-Norm System der Bundesrepublik passten

Unser Modell gab es im bundesdeutschen System einfach nicht und wurde daher nicht akzeptiert. Das Problem konnte nach langen Verhandlungen schließlich dadurch gelöst werden, dass wir die Einlagen auf Darlehensverträge umgestellt haben und fortan jährlich Bescheinigungen über unsere „Bücherzinsen“ ausstellten, die dann in die Jahressteuererklärungen der Unterstützerinnen/Unterstützer eingingen. Deutlich schlechter erging es alternativen Schulgründern in Ost-Berlin, die nach monatelangen Vorbereitungen im September 1990 die erste Gesamtschule in der noch existierenden DDR eröffneten und am 4. Oktober 1990 von der Gesamtberliner Schulbehörde mitgeteilt bekamen, dass ihr eigenständiges Bildungskonzept nicht dem nunmehr geltenden West-Berliner Schulgesetz entspräche. Alle Lehrerinnen und Lehrer, die keinen pädagogischen Abschluss nach bundesdeutschem Standard hatten, mussten entlassen werden, die Schule wurde wenige Wochen nach ihrer hoffnungsvollen Gründung kurzerhand geschlossen.

Aufbruch einer neuen Graswurzelbewegung

Nachdem sich im Verlauf der 1990er Jahre herausstellte, dass die ostdeutschen Landschaften wohl doch nicht so schnell erblühen würden und in den frisch sanierten Innenstädten kaum noch junge Menschen anzutreffen waren, da es durch die massenhafte Schließung von Betrieben immer weniger Arbeit gab und die Abwanderung in den Westen zunahm, entstand eine neue Graswurzelbewegung unter den Zurückgebliebenen. Einige begannen, leerstehende Häuser eigenständig in Gebrauch zu nehmen, die Industrieruinen für neue Zwecke kreativ zu nutzen und auf dem Lande alternative Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften zu gründen.

Kreativ Zukunft erfinden

Um die Vielfalt der neu entstandenen Initiativen festzuhalten und zu dokumentieren, haben wir 2009 zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution einen Band mit dem Titel Zukunft erfinden – Kreative Projekte in Ostdeutschland herausgegeben. So konnten wir zeigen, dass es im Osten nicht nur Frust gab und gibt, sondern auch eine Vielfalt inspirierender Vorhaben. Zu lesen ist etwa von einer sächsischen Gemeinde, die ihren Strom selbst erzeugt und mit den Einnahmen unter anderem einen Kindergarten finanziert, wodurch die Abwanderung etwas gebremst werden konnte.

In Leipzig schafft der Verein HausHalten sogenannte Wächterhäuser, indem die Besitzer*innen leer stehender Wohnimmobilien davon überzeugt werden, ihr Eigentum vorübergehend mietfrei alternativen Projekten zu überlassen, wodurch diese vor Vandalismus geschützt sind und neue Räume für Kreative entstehen.

Im thüringischen Sondershausen wird eine Kirchenruine durch die tatkräftige Mitarbeit vieler in ein Bürgerzentrum verwandelt, sodass die verloren gegangene Kommunikation wieder in Gang kommt. Die Belegschaft eines Fahrradwerkes, das ein US-Investor schließen will, entscheidet sich, den Betrieb in eigener Verantwortung weiterzuführen. Es wird eine Genossenschaft ins Leben gerufen, um in einem abgelegenen Erzgebirgsstädtchen einen Bürgerkonsum zu betreiben, damit Ältere wieder selbst einkaufen gehen können und nicht auf Lieferungen aus der Kreisstadt angewiesen sind.

In Brandenburg wird ein Weinberg bepflanzt und eine alte Kulturlandschaft wiederbelebt, in Sachsen-Anhalt entstehen sozial-ökologische Modellsiedlungen. In strukturschwachen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, die vom öffentlichen Nahverkehr abgehängt wurden, wird mit Bürgerbussen experimentiert, in Ost-Berlin übernehmen Anwohnerinnen und Anwohner aufgegebene Bibliotheken in Eigenregie, vielerorts bilden sich neue Netzwerke, es gibt sogar eigenständige Regionalwährungen.

Drei Anregungen und was daraus geworden ist

Am Ende des prallen Buches findet sich das Plädoyer einer Initiativgruppe für neue politische Strategien im Umgang mit der Krise, in dem unter anderem drei Empfehlungen ausgesprochen werden: Es sollte ein Fonds zur Förderung bereits bestehender Projekte geschaffen werden, die konkrete Probleme vor Ort nachhaltig lösen. Für solche Projekte wird zweitens eine Plattform des Erfahrungsaustauschs angeregt und die Regierung wird drittens aufgefordert, neue Wege zur Absicherung freiwilliger sozialer Arbeit zu unterstützen und das bürgerschaftliche Engagement gezielt zu stärken.

Zunächst gelang es durch mehrere regionale Treffen, die Akteurinnen und Akteure miteinander in Kontakt zu bringen, die sich teilweise schon durch den Dokumentarfilm „Neuland“ von Holger Lauinger kannten. Parallel dazu entstand eine Webseite, die über mehrere Jahre vom Bundesverband Deutscher Stiftungen unterstützt wurde. Die Politik griff das Thema „Bürgerarbeit“ auf ihre Weise auf und startete 2011 über die Arbeitsämter ein dreijähriges Pilotprojekt, mit dem Arbeitslose in den Kommunen sinnvoll beschäftigt werden sollten. Da es jedoch nicht gelang, die Betroffenen anschließend mehrheitlich in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wurde das Projekt 2014 leider wieder beendet. Für freiwillige Bürgerarbeit gibt es bis heute keine einheitliche Regelung, ein Entgelt für Ehrenamtler oder Bürgerarbeiter wird nach wie vor kontrovers diskutiert.

Die einzige der drei Empfehlungen, die langfristig und nachhaltig umgesetzt wurde, war die einer finanziellen Förderung tragfähiger alternativer Projekte vor Ort. Die Robert Bosch Stiftung hat diesen Impuls aufgegriffen und 2012 das Neulandgewinner-Programm „Zukunft erfinden vor Ort“ aufgelegt. Zur Auflösung der Fußnote[3] 24 der darüber geförderten Projekte konnten wir 2017 in dem Band Neuland gewinnen – Die Zukunft in Ostdeutschland gestalten vorstellen. Dazu gehören beispielsweise der Generationenbahnhof im sächsischen Erlau, wo ein stillgelegtes Gebäude zum neuen Dorfmittelpunkt wurde, die Werkstatt des guten Lebens in Wangelin (Mecklenburg-Vorpommern), in der regionale Produkte erzeugt und Fortbildungen in Lehmbauweise angeboten werden, oder die Freiwilligen-Agentur Altmark in Stendal (Sachsen-Anhalt), die sich um die Vernetzung des bürgerschaftlichen Engagements in der Region kümmert. Das Projektbüro Neulandgewinner beim Berliner Thünen-Institut für Regionalentwicklung kümmert sich um den Erfahrungsaustausch und die Unterstützung der Aktivisten sowie die Fortführung des Programms. 2022 ging es in die sechste Förderrunde. Zur Auflösung der Fußnote[4]

Nachahmen anstiften

Gewiss, manch andere alternativen Projekte sind auf der Strecke geblieben, sie wurden nicht im historischen Gedächtnis verankert. Aber es gab und gibt ungeahnt viele kreative Ideen und produktive Ansätze, die es lohnt, näher zu betrachten und auch historisch zu würdigen. Wir haben versucht, mit unseren Büchern einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, auch, um zum Nachahmen anzustiften.

Zitierweise: Christoph Links, "Die andere Geschichte der Umbruchjahre – alternative Ideen und Projekte“, in: Deutschland Archiv, 20.09.2022, Link: www.bpb.de/513236. Der Text ist dem Schriftenreiheband SR 10676/I (Ost)Deutschlands Weg I entnommen. Weitere Beiträge zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.

Ergänzend:

Jarina Kühn, Anna Schwarz, Anna Steinkamp, Externer Link: "Motivationsarten für Unternehmensgründungen in der postsozialistischen Transformation in Ostdeutschland"; Deutschlandarchiv, 21.9.2022

Marcus Böick, Externer Link: Zwöf Thesen zu Wirtschaftsumbau und Treuhandanstalt - Die Rolle(n) und Folgen des Wirkens der Treuhand, Deutschlandarchiv, 22.9.2022

Und über die (Plan)Wirtschaft in der DDR vor 1990: Daniel Meis, "Externer Link: Alles nach Plan? Die Planwirtschaft der DDR – Konzept, Umsetzung und Scheitern", Deutschlandarchiv 23.9.2022

Fussnoten

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