Aus der Geschichte lernen, aber wie und wofür? Eine Reflexion des Siegburger Lehrers Werner Schneider im Rückblick auf seine eigene politische Sensibilisierung. Er erinnert an risikoreich gezeigte Zivilcourage gegen die Nazis, staatlich gescheute Aufarbeitung und das spät geehrte Engagement beispielsweise Oskar Schindlers. Dabei schildert er auch die weltweite Hilflosigkeit gegenüber politischen Zwecklügnern wie es Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten war und heute Wladimir Putin ist.
Eine Vorbemerkung der Redaktion: Lange hat es gedauert. Sehr lange. Anfang September 2022 beschloss der "Ortsbeirat 1" von Frankfurt am Main, den bisher namenlosen Vorplatz des Frankfurter Hauptbahnhofs künftig "Emilie und Oskar Schindler Platz" zu nennen. Der Unternehmer Oskar Schindler gilt als ein Beispiel für Zivilcourage. Er hatte mit seiner Ehefrau Emilie rund 1.200 jüdische ZwangsarbeiterInnen in Krakau vor der Deportation in den sicheren Tod durch die Nazis gerettet.
Der Hollywood-Regisseur Steven Spielberg verfilmte 1993 diese den Holocaust sehr berührend anschaulich machende Geschichte. Der Film erhielt dafür sieben Oscars. Seine letzten neun Lebensjahre hatte Schindler in Frankfurt am Main verbracht, aber bislang gab es sort nur eine Erinnerungsplakette und eine kleine, nach ihm benannte Straße am Rand des Stadtteils Frankfurt-Bonames. Das ändert sich nun: "Der Ortsbeirat 1 würdigt damit in angemessener Weise und an einem zentralen Ort in Frankfurt die historischen Leistungen von Emilie und Oskar Schindler", heißt es in der Begründung.
Wie wichtig solche Erinnerungsbrücken sind, beschreibt im nachfolgenden Text der inzwischen pensionierte Lehrer Werner Schneider, der über den Film "Schindlers Liste" promovierte und 2016 mit Unterstützung der bpb darüber ein Buch veröffentlichte. Der Titel: "Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG - Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt".
Werner Schneider spannt in seiner Betrachtung einen Bogen bis heute, bis zum nun bald ein Jahr andauernden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Schneider geht es um die Frage, warum das Lernen aus der Geschichte so mühsam aber unerlässlich ist - insbesondere über Zivilcourage:
"Epochenbruch"
Am 24. Februar 2022 hat nicht nur Europa, sondern die gesamte Welt erneut eine Zeitenwende erlebt.
In seiner Grundsatzrede zur Lage der Nation sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 28. Oktober 2022 von einem "Epochenbruch". Drei Tage zuvor hatte er die Ukraine besucht. In Korjukiwka, einem kleinen Ort nahe der Grenze zu Belarus, musste er während eines 90-minütigen Luftalarms in einen Schutzkeller flüchten. Dort berichteten ihm Bürgerinnen und Bürger, wie sie den 24. Februar und die nachfolgenden Schrecken des Krieges erlebt hatten. In Mimik, Gestik und Sprache sichtbar beeindruckt, spricht der Bundespräsident in seiner Grundsatzrede von der „tiefsten Krise, die unser wiedervereinigtes Deutschland erlebt“.
Ob wir diese Krise einen Epochenbruch nennen oder von einer Zeitenwende sprechen, sei dahingestellt. Es ist etwas geschehen, das wir uns zuvor niemals hätten vorstellen können: Am 24. Februar 2022 hat in Europa ein brutaler Krieg begonnen.
Wladimir Putin hat unter dem grotesken Vorwand, die Ukraine entnazifizieren und entmilitarisieren zu wollen, russische Truppen völkerrechtswidrig in die Ukraine einmarschieren lassen. Putins Krieg gegen die Ukraine verursacht bei den Streitkräften beider Länder und unter der Zivilbevölkerung der Ukraine ungeheures Leid, Zerstörung, Tod. Und der Krieg zeigt schon jetzt weltweit spürbare soziale und wirtschaftliche Folgen.
Die von Putin bewusst herbeigeführte Energieverknappung führt nicht nur zu vervielfachten Energiepreisen, sondern zu einer viele Millionen Menschen betreffende Hungersnot. Zynisch nennt Putin seinen Krieg eine „Spezial-Operation“. Wer sich in Russland kritisch dazu äußert und dabei das Wort Krieg verwendet, muss mit einer hohen Gefängnisstrafe rechnen.
In seinen Lügen verunglimpft Putin die Mitglieder der Regierung der Ukraine als „Bande von Drogenabhängigen, Neonazis und Terroristen“. Der Diktator im Kreml erklärt den jüdischen, demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, zum Staatsfeind Russlands und bezeichnet als eines der Ziele des mörderischen russischen Einmarsches in die Ukraine deren „Entnazifizierung“. Verlogener geht es kaum.
Aber die Lügen der Zeitenwende des 24. Februar 2022 haben eine Parallele in den Lügen der Zeitenwende des 1. September 1939: Am 22. August 1939, also eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, sagte Adolf Hitler auf dem Obersalzberg vor 50 höchstrangigen Offizieren, die auf seinen Befehl in Zivil erschienen waren:
„Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg.“
Hitler: "ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert"
Keiner der anwesenden Elite-Offiziere wagte es, Adolf Hitler zu widersprechen, nachdem er die folgenden drohend-brutalen Sätze gesprochen hatte:
„Ich habe den Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert – dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.“ Eine ganze Woche hätten die bei dieser Rede anwesenden Oberkommandierenden der Wehrmacht Zeit gehabt, Hitler von seinen Kriegsplänen abzubringen. Sie haben es nicht getan.
Am 1. September 1939 befahl der zum Kriegsverbrecher gewordene Führer und Reichskanzler den Angriff auf Polen und behauptete wahrheitswidrig, deutsche Truppen erwiderten den Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Radiosender Gleiwitz. Aus ihren Volksempfängern hörten die Deutschen Adolf Hitlers Lügen, die in dem Satz kulminierten „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“
In Wirklichkeit hatte ein deutsches Kommando in polnischer Uniform den Sender Gleiwitz überfallen.
Mit der Zeitenwende des 1. September 1939, das heißt mit der Nazidiktatur, mit ihren Verbrechen und mit den mutigen Menschen, die Widerstand gegen diese Diktatur gewagt haben, habe ich mich mehr als 60 Jahre intensiv sowohl beruflich als auch privat beschäftigt. Warum habe ich das getan?
Es gibt hierfür nicht nur einen einzigen Grund. Aber einen der frühesten und folgenreichsten Gründe sehe ich in meinem Auschwitz-Ur-Erlebnis, wie ich ein für mein gesamtes Leben relevantes Erlebnis zu nennen pflege. Dieses Erlebnis wurde für mich zu einer persönlichen Zeitenwende. Es geschah an einem Samstagnachmittag im Gasthof meiner Eltern in dem kleinen Eifelort Urft.
Der Gasthof sowie das Elternhaus meiner Eltern waren am 18. Dezember 1944 bei einem Angriff von mehr als 30 Bombern auf Urft völlig zerstört worden. Meine Großeltern und fünf weitere Personen aus unserem Familien- und Freundeskreis kamen dabei ums Leben. In den Jahren des Wiederaufbaus der zerstörten Häuser lebten 11 Personen in einer engen Wohnbaracke. Die Küche als einziger Raum hatte in der kalten Jahreszeit einen wärmenden Ofen. Die Enge der Wohnbaracke spiegelte sich in den Räumlichkeiten der Volksschule in Urft, die ich fünf Jahre lang besuchte. Dort unterrichtete ein einziger Lehrer ungefähr 60 Jungen und Mädchen der Klassen 1 – 8 in einem einzigen Raum in allen Fächern außer in Katholischer Religionslehre. Auch hier gab es für den gesamten Raum im Winter nur einen einzigen Holzofen. Als Hilfskraft des betagten Lehrers durfte ich im Vorraum der Schule mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern Lese- und Rechenübungen machen. Dabei dürfte mein pädagogisches Interesse erwacht sein.
Die Hauptpersonen meines folgenreichen Auschwitz-Erlebnisses waren ein ehemaliger Soldat der deutschen Wehrmacht und sein kommandierender Offizier. Beide gehörten während des Zweiten Weltkriegs zu einem Erschießungskommando in Auschwitz. Nach dem Krieg arbeitete der Soldat als Gärtner eines Industriellen, der in der Nähe von Urft eine luxuriöse Villa als Zweitwohnsitz besaß. Der Gärtner wohnte nicht in dieser Villa, sondern in einem der Gästezimmer des Gasthofs meiner Eltern. Der ehemalige Offizier wurde ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann in einem Nachbarort. Bis zu einem Samstag im Herbst 1955 wussten die Beiden nicht, dass sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt lebten.
„Mach weiter. Oder du liegst in fünf Sekunden tot in der Grube.“
An diesem Samstag begegneten sich die Beiden unerwartet und zufällig in dem wieder aufgebauten Gasthof meiner Eltern. Wie fast an jedem Samstag spielte der Gärtner Skat mit mir und einem meiner älteren Freunde. Der Geschäftsmann stand an der Theke und unterhielt sich mit einem anderen Gast. Ich bemerkte, dass der Gärtner immer wieder zu dem Geschäftsmann hinschaute und unruhig wurde. Als der Geschäftsmann zum Toilettengebäude ging, folgte ihm der Gärtner und wenig später ein weiterer Gast, ein Hüne von Gestalt. Dieser konnte im letzten Augenblick den Gärtner daran hindern, den Geschäftsmann im Vorraum des Toilettengebäudes mit seiner Gartenschere zu erstechen. Des Rätsels Lösung: Bei einer Erschießungsaktion in Auschwitz warf der dorthin abkommandierte Soldat sein Gewehr zur Seite und schrie: „Ich will nicht mehr, ich mache nicht mehr mit.“ Daraufhin hielt ihm sein Offizier die Pistole an die Schläfe und sagte: „Mach weiter. Oder du liegst in fünf Sekunden tot in der Grube.“
Es war nicht einfach, die beiden Männer miteinander zu versöhnen. Aber es ist meinen Eltern gelungen. Nur in Andeutungen sprachen die beiden ehemaligen Soldaten über ihre Erlebnisse in Auschwitz. Grauenvoll waren selbst diese Andeutungen. Nicht nur bei meinen späteren Besuchen in Auschwitz und in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem habe ich mich an mein Ur-Erlebnis erinnert. Es ist mir in meinem gesamten Leben unvergesslich und beruflich folgenreich geblieben.
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Damals war ich Schüler am Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld. Über Julius Caesar, Karl den Großen und Napoleon erfuhren wir im Unterricht mehr als über Adolf Hitler, Hermann Göring und Josef Goebbels, von Auschwitz und der Ermordung von 6 Millionen Juden ganz zu schweigen.
Dies ist kein nachträglicher Vorwurf an meine Schule, sondern die Feststellung zu einer Situation, die bis zum Anfang der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschend war: Über die Nazi-Diktatur wurde von der Mehrheit der Bevölkerung nicht gesprochen oder geschrieben, sondern intensiv und absichtsvoll geschwiegen. Man wollte, wie es damals so schön hieß, nach vorne blicken und die furchtbare Vergangenheit verdrängen und vergessen.
Meine nicht geringen Wissenslücken über die Nazi-Diktatur konnte ich in den ersten Jahren meines Studiums an der Universität Bonn stark reduzieren. In der dreimonatigen vorlesungsfreien Zeit zwischen Sommer- und Wintersemester arbeitete ich als Werkstudent bei der Bundeszentrale für Heimatdienst, der Vorläuferin der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung. Dank der Großzügigkeit des damaligen Direktors Dr. Paul Franken füllten bald Standardwerke über die Entstehung des Nazi-Regimes, über den Zweiten Weltkrieg und über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden mein studentisches Bücherregal. Das für mich damals finanziell unerschwingliche Sammelwerk „JUDEN IM DEUTSCHEN KULTURBEREICH“ hat noch heute einen Ehrenplatz in meiner Hausbibliothek.
Rebellion an der Schule
Eine Konsequenz dieses langjährigen Schweigens über die Nazi-Diktatur habe ich in meinem zweiten Ausbildungsjahr für das Lehramt am Gymnasium 1968 in Köln am Dreikönigsgymnasium erlebt. An diesem Gymnasium hatten nach allgemeiner Auffassung die bundesweiten 1968er Schülerproteste ihren Ursprung. Die Rede des Schulleiters bei der feierlichen Abiturfeier des Jahres 1968 in der Aula des Gymnasiums wurde abrupt dadurch beendet, dass der Schülersprecher sich neben den Schulleiter stellte, ihm das Mikrofon entriss und anklagende Sätze in die Aula schrie. Der Schulleiter und das gesamte Kollegium verließen daraufhin wortlos die Aula und begegneten in deren Vorhalle einer Gruppe von Medienvertretern, die von den Abiturienten vorinformiert und dorthin bestellt worden waren. Als ich am nächsten Tag ohne meinen Ausbildungslehrer zum ersten Mal eine Obersekunda, heute heißt sie Jahrgangsstufe 11, betrat, um mit 30 Schülern eine von mir ausgewählte Rede John F. Kennedys zu analysieren, empfing mich der Klassensprecher mit den Worten „In dieser Klasse wird im Englischunterricht nur Deutsch gesprochen.“ Sein Nachbar sprang auf ein Pult, fuchtelte mit einem langen Messer über seinem Kopf und schrie „Hier herrscht Kampf bis aufs Messer.“ Neben ihm stand ein anderer Schüler mit einem grundlos aufgespannten Regenschirm.
Meine unerwartet humorvolle Reaktion auf diesen chaotischen Unterrichtsbeginn hat wohl zur Beruhigung beigetragen und anschließend das Interesse für John F. Kennedy geweckt. Kennedys Berliner Rede gipfelt in dem Satz:
“All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin. Therefore, as a free man, I take pride in the words: »Ich bin ein Berliner«”.
Dieser Satz war offensichtlich hoch attraktiv für 17- bis 18-jährige Schüler, die zusammen mit der 68er Studentengeneration gegen das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern über die Nazi-Diktatur rebellierten.
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Einen Film wie Schindlers Liste gab es nicht.
Als es ihn von 1994 an auf VHS-Kassetten gab, habe ich als Lehrer am Rhein-Sieg-Gymnasium in Sankt Augustin mit den Schülerinnen und Schülern meiner Leistungskurse im Fach Englisch vierwöchige Unterrichtsreihen über Spielbergs Film "Schindlers Liste" erarbeitet. Diese filmanalytischen Unterrichtsreihen wurden mit großem Interesse und offen geäußerter Dankbarkeit angenommen. In mehrtägigen Fortbildungsseminaren für Lehrerinnen und Lehrer habe ich diese Unterrichtsreihen vorgestellt und habe im Cornelsen Verlag ein Lehrerheft zu Schindlers Liste veröffentlicht.
Wenn ich an Schulen Vorträge halte über Oskar Schindler und Steven Spielbergs Meisterwerk, versuche ich, meine Zuhörerinnen und Zuhörer durch einen gedanklichen Test in Form einer Zeitreise in die Nazi-Diktatur einzubinden:
Wer in den 12 Jahren dieser Zeit Juden unterstützte, wurde bestraft. Er musste mit beruflichen Nachteilen rechnen, mit Verhaftung, Geldstrafen, Gefängnis und im schlimmsten Fall mit der Einlieferung in ein Konzentrationslager.
Unsere Vorfahren haben sich mehrheitlich, zum nicht geringen Teil sogar bereitwillig, von den Versprechungen und Lügen der Nazis täuschen und verführen lassen. Für die jüdischen Mitbürger unserer Vorfahren war es nicht vorstellbar, welche brutalen und mörderischen Konsequenzen aus diesen Täuschungen und Lügen folgen würden. Der jüdische Schriftsteller und Zeitzeuge Simon Wiesenthal sagte hierzu: „Wir Juden konnten uns nicht vorstellen, dass das Volk der Dichter und Denker, das Volk von Goethe und Schiller, von Bach und Beethoven zu solcher Unmenschlichkeit fähig sein könnte.“
Was dies zum Beispiel für die jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen der heutigen Kreisstadt Siegburg, meiner Heimatstadt seit mehr als 50 Jahren, bedeutet hat, wird eindrucksvoll und erschütternd in der im Juni 2022 veröffentlichten Broschüre DIE SIEGBURGER STOLPERSTEINE dargestellt.
Heute tragen Lügen und Feindbild-Propaganda neue Gewänder
Heute müssen wir alle auf der Hut sein, dass wir nicht von den Versprechungen der Neo-Nazis und von ihren Lügen getäuscht und verführt werden. Wir alle müssen auf der Hut sein, sowohl die älteren Generationen, die den Zweiten Weltkrieg direkt oder indirekt erlebt haben, als auch die nachgerückten Generationen Y und Z, wie die seit den 1980er Jahren Geborenen genannt werden. Diese Internet-Generationen erleben den immensen Einfluss der Blogger und Influencer in den sozialen Medien und sind zu ganz besonderer Vorsicht aufgerufen.
Vorsicht ist auch geboten, wenn zum Beispiel - wie im Juni 2018 geschehen - der seinerzeitige Partei- und Fraktionschef der AfD, einer im Deutschen Bundestag vertretenen Partei, von den Mitgliedern seiner Nachwuchsorganisation Beifall erhält für den Satz:
"Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte".
Dieser "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte hat in Europa nach wissenschaftlich zuverlässiger Schätzung für 65 bis 70 Millionen Menschen den Tod bedeutet; hat in Deutschland zu millionenfachen Flüchtlingsströmen geführt; hat Städte in unvorstellbarem Maße durch Bombenangriffe verwüstet; und nicht zuletzt wurden in diesem Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte 6 Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder brutal ermordet.
Wir müssen daher auf der Hut sein und verhindern, dass sich offener oder versteckter Antisemitismus in Deutschland ausbreiten kann. Vorgänge wie sie jüngst erst in Kassel auf der Documenta des Jahres 2022, also auf der größten Kunstausstellung der Welt, geschehen sind, dürfen sich nicht wiederholen. Dort wurden in einem seit 2002 existierenden Wimmelbild von 9 x 12 Metern unreflektiert antisemitische Karikaturen präsentiert.
Ausgerechnet in Deutschland wird auf einem öffentlich zugänglichen Banner einer indonesischen Künstlergruppe ein Soldat abgebildet, der einen Schweinskopf als Gesicht hat, ein Halstuch mit einem Judenstern trägt und einen Helm mit der Aufschrift MOSSAD, der Bezeichnung für den israelischen Auslandsgeheimdienst. Eine weitere Figur wird mit Schläfenlocken, Reißzähnen, Schlangenzunge, blutunterlaufenen Augen und einer SS-Rune auf ihrem schwarzen Hut gezeichnet. Und dieser Skandal wird zunächst unter dem Deckmantel künstlerischer Freiheit tagelang geduldet und mit mehr als 40 Millionen Euro aus Steuermitteln finanziert.
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Wir müssen „die Zeichen an der Wand“ sehen und vorausschauend deuten.
Wir müssen den Mut haben einzuschreiten, wenn wir sehen, dass auf Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin Hakenkreuze eingeritzt werden und wenn in der Nähe des früheren KZ-Lagers Buchenwald Gedenkbäume für die Opfer des KZ und der Todesmärsche beschädigt oder abgesägt werden. So geschehen im Juli 2022.
Bevor nun vor allem junge Leute abwehrend sagen „Wir fallen auf fake news nicht herein und wir geben antisemitischem Hass keine Chance und keinen Raum“, lade ich sie zum bereits erwähnten ganz persönlichen Gedanken-Test ein und bitte darum zu erproben, wie mutig und engagiert sie unter einer spezifischen Belastung und Herausforderung sein würden:
"Durch diesen Gedankentest werden Sie nicht nur Zuhörer meines Vortrags sein. Sie werden vielmehr erkennen, dass auch Sie indirekt eine Hauptfigur des Vortrags sind und dass Spielbergs Botschaft in der Schluss-Sequenz seines Films Schindlers Liste auch an Sie gerichtet ist. Alle nach dem Krieg herangewachsenen Generationen im Westen und Osten haben nicht die geringste Verantwortung für die furchtbarste Phase der deutschen Geschichte. Aber wenn Sie Ihre Ausbildung beendet haben, werden viele von Ihnen in leitenden Bereichen der Arbeitswelt tätig sein".
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Sie werden eine Verantwortung haben für die Zukunft des Landes, in dem sie leben und auch für die Zukunft der Welt. Dies ist keine leichte Aufgabe. Denkvermögen und Urteilsfähigkeit, Menschlichkeit und Zivilcourage werden dabei eine große Rolle spielen.
Stellen Sie sich bitte Folgendes vor:
Sie leben in den Anfangsjahren der Diktatur der Nationalsozialisten. Kritik und Widerstand ist in gewissen Grenzen noch möglich. Aber es gehört viel Mitgefühl und viel Mut dazu. Von 100 Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren sind 98 in der Hitlerjugend. Mädchen dieses Alters sind ebenfalls fast ohne Ausnahme im Bund deutscher Mädel.
Sie leben als Hitlerjunge und Hitlermädel in einer Zeit intensiver persönlicher Kontakte und gesprochener Kommunikation. Es gibt kein Fernsehen, kein Internet, kein Smartphone oder Laptop. Es gibt jedoch das Rundfunkgerät VE 301. VE steht für Volksempfänger, und 301 steht für den 30. Januar 1933, das heißt für den Tag der Machtübernahme durch Adolf Hitler. Und die Reden des Volksverführers Adolf Hitler sowie die des Demagogen Josef Goebbels von Anfang bis Ende abzuhören, gehörte zum Pflichtprogramm der Deutschen. Das deutsche Programm der BBC zu hören, war ein strafwürdiges Vergehen.
Auf Ihrer Zeitreise gehen Sie nun über den Marktplatz oder durch eine Geschäftsstraße ihres Heimatortes und schauen sich Geschäfte an. Sie sehen auf den Schaufenstern jüdischer Geschäfte Plakate mit der Aufforderung „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ Was werden Sie tun? Werden Sie nach diesem Boykott-Aufruf weiterhin in jüdischen Geschäften einkaufen?
Kommen wir bei der nächsten Frage zu Ihrer Gesundheit:
Jüdischen Ärzten wurde von den Nazis verboten, Arier zu behandeln. Der hervorragende Hausarzt Ihrer Familie ist Jude.
Gehen Sie weiterhin zu ihm hin, vielleicht sogar durch den Vordereingang seiner Praxis?
Oder werden wir etwas persönlicher:
Sie sind Hitlerjunge. Sie haben eine attraktive jüdische Freundin. Sie haben Zivilcourage und wollen sich nicht von ihr trennen. Beide gehen Sie gern zusammen ins Theater. Aber Juden ist der Besuch des Theaters, des Kinos und des Schwimmbades verboten. Was werden Sie tun? Werden Sie das Mobbing in der Schule und außerhalb der Schule ertragen können?
Oder noch persönlicher:
Sie sind im Bund deutscher Mädel. Sie sind Schülerin eines Mädchengymnasiums. Sie haben eine Liebesbeziehung zu einem attraktiven jüdischen Freund. Nun erfahren Sie, dass die Nazis Beziehungen zwischen Ariern und Juden verboten haben und dass Sie Ihren jüdischen Freund nie heiraten dürfen. Damals gab es Facebook noch nicht. Aber Mobbing in der Schule und anonyme briefliche Drohungen gab es schon. Und diese waren damals genauso einschüchternd wie heutzutage ein hasserfüllter shitstorm im Internet. Was werden Sie tun?
Das Beispiel Oskar Schindlers in Krakau zwischen 1939 und 1945
Begeben wir uns nun auf unserer Zeitreise nach Krakau. Krakau ist bereits am 6. September 1939, also eine Woche nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, von deutschen Truppen besetzt worden.
In Krakau treffen wir im November 1939 einen deutschen Fabrikbesitzer. Er ist ein Nazi seit vielen Jahren und steckt sich gern sein Goldenes Parteiabzeichen an sein elegantes Jackett. Dieser Mann unterstützt jedoch Juden nicht nur heimlich. Er gibt ihnen Arbeit in seiner Fabrik, er baut für sie Wohnbaracken auf dem Fabrikgelände, er versorgt sie mit Lebensmitteln und Medikamenten. Und vor allem: Er schützt sie vor Amon Göth, dem brutalen, eigenhändig mordenden Kommandanten des KZ Krakau-Plaszow. Dieser Mann ist Oskar Schindler.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war er Spion für den Nazi-Geheimdienst in Polen und im Sudetenland. Auch nach seiner Eheschließung mit 20 Jahren blieb er ein damensüchtiger lebenslanger Ehebrecher, nach Ansicht seiner Kirche ein Mega-Sünder mit garantiertem Platz tief unten in der Hölle.
In Krakau wird er der mit Bestechungsgeldern freigebige „Geschäftspartner“ des mörderischen Amon Göth. Er war ein trinkfester Kettenraucher, ein großzügiger Geldverschwender: Aber dieser Oskar Schindler setzt im Sommer 1944 seine Tatkraft, seine Beziehungen und sein gesamtes Vermögen ein, um mehr als 1.200 Juden vor der Ermordung in Auschwitz zu retten.
In Deutschland wäre Oskar Schindler unbekannt geblieben, wenn ihm nicht der erfolgreichste Regisseur der Filmgeschichte, Steven Spielberg, mit seinem Meisterwerk Schindlers Liste ein Denkmal gesetzt hätte.
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Denkmäler werden für Helden errichtet. War Oskar Schindler ein Held? Ja, er war ein Held, aber nicht von Anfang an. Ganz im Gegenteil. Aber gerade diese Entwicklung vom Geld anhäufenden und Geld verschwendenden Kriegsgewinnler zum mutigen Lebensretter machen Oskar Schindlers Lebensgeschichte so beeindruckend.
Bevor wir zu relevanten Phasen dieser Lebensgeschichte kommen, möchte ich Ihnen kurz erläutern, warum ich zu Ihnen als ein indirekter Zeitzeuge über Oskar Schindler sprechen kann.
Im Juli 2000 habe ich meine Doktorarbeit über Spielbergs Film Schindlers Liste veröffentlicht. Sie ist im August 2000 in der der F.A.Z. unter dem Titel rezensiert worden „So macht Schule Spaß und Ernst“. Der etwas lang geratene Titel der Dissertation lautet "Steven Spielberg Schindler´s List Ein filmanalytisches Projekt im Englischunterricht als Möglichkeit für fachintegrierten Ethikunterricht".
Der Zeitzeuge Mietek Pemper
Wichtige Informationen für meine Arbeit habe ich aus dem Mund des Mannes erhalten, ohne den es weder Oskar Schindlers berühmte Namensliste noch Steven Spielbergs Film Schindlers Liste gegeben hätte. Dieser Mann heißt Mietek Pemper. Mietek Pemper war der Sekretär des Kommandanten des KZ Krakau Plaszow. Mit 23 Jahren wurde der perfekt Deutsch und Polnisch sprechende Jude Mietek Pemper der Sekretär des eigenhändig mordenden Amon Göth.
Mietek Pemper lebte bis zu seinem Tod im Jahre 2011 in Augsburg. Wenn ich Fragen hatte zu bestimmten Szenen von Spielbergs Film oder zu der Lebenssituation im KZ von Krakau-Plaszow, so erhielt ich von Herrn Pemper immer ganz präzise Antworten. Er hatte ein fotographisches Gedächtnis, eine wunderbare Sprache und beeindruckte mich in jedem Gespräch durch seine Bescheidenheit und Vornehmheit. Steven Spielberg hat Mietek Pemper 1993 als Berater zu den Dreharbeiten in Krakau eingeladen.
Mietek Pemper hat in seinen zahlreichen Gesprächen mit mir immer wieder betont:
„Insgesamt erzählt Steven Spielberg in seinem Film "Schindlers Liste" die wahre Geschichte Oskar Schindlers in den fünf Kriegsjahren von 1939 bis 1945 in Krakau. Es gibt zwar filmdramaturgische Abweichungen von der Wirklichkeit, es gibt erotische Anreicherungen. Aber im Kern ist Schindlers Liste die wahre Geschichte des Judenretters Oskar Schindler. Und ich bin sehr froh, dass Steven Spielberg diese Geschichte erzählt hat.“
Zu den erotischen Anreicherungen des Films schrieb mir Herr Pemper in einem seiner zahlreichen Briefe: „Der Film Schindlers Liste hat zwar den Holocaust als Hintergrund, aber er ist auch ein Hollywood-Film. Und zu einem Hollywood-Film scheinen aus geschäftlichen Gründen, selbst vor dem Hintergrund des Holocaust, Filmszenen mit einer gewissen Portion Erotik zu gehören. Dabei sind einige dieser erotischen Anreicherungen frei erfunden.“ So zum Beispiel die Filmsequenz, die Emilie Schindlers ersten Besuch bei ihrem Ehemann in Krakau zeigt.
Der Anfang der Besuchs-Sequenz entspricht nicht den Tatsachen. Denn bei ihrem ersten Besuch in Krakau überrascht Emilie Schindler ihren Ehemann Oskar nicht im Bett mit seiner Sekretärin. Oskar hat Emilie vielmehr nach Krakau eingeladen, um ihr seinen geschäftlichen Erfolg vorzuführen und hat sie von seinem Chauffeur in einem seiner vier sehr teuren Autos vom Bahnhof in Krakau abholen lassen.
Diese erotische Anreicherung des Films ist allerdings dezent im Vergleich zu einer anderen, ähnlichen Szene, in der Oskar Schindlers Sekretärin und Geliebte Ingrid unverhüllt ihre erotischen Künste demonstriert. Oder im Vergleich zu der erotischen Sequenz zwischen dem KZ-Kommandaten Amon Göth und seinem spärlich bekleideten jüdischen Hausmädchen Helen Hirsch. Eine Sequenz, die nach Mietek Pempers Urteil in der Wirklichkeit des KZ Krakau-Plaszow völlig undenkbar gewesen wäre. Steven Spielberg präsentiert in seinem Film Oskar Schindlers Leben nur in den Kriegsjahren von 1939 bis 1945.
Aber es würde sich sehr lohnen, einen intensiven Blick auf die vorausgehenden und späteren Lebensjahre des Mannes zu werfen, der seine Rettungstaten mit dem denkwürdigen Wort begründet hat:
„Ein denkender Mensch, der mit dem inneren Schweinehund siegreich fertig wurde, musste einfach helfen. Es war keine andere Wahl.“
Dies würde allerdings den hier zur Verfügung stehenden Platz sprengen. Ich erlaube mir daher, Sie auf ein kleines Buch aufmerksam zu machen, das ich im Jahr 2016 geschrieben habe.
Als ich nämlich das in Deutschland nachlassende Interesse an Oskar Schindler insbesondere im Medienbereich bemerkt hatte, habe ich mich an das Motto meiner Doktorarbeit über Schindlers Liste erinnert:
„Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu schimpfen.“
Ich habe mich an meinen PC gesetzt und das Buch "Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt" geschrieben. Dass dieses Buch in einem Verlag veröffentlicht werden konnte, verdanke ich Dr. Hans-Georg Golz, dem entscheidungsfreudigen Leiter des Fachbereichs Print der Bundeszentrale für politische Bildung. Denn er gab dem Bernstein-Verlag in Siegburg die Zusage, eine ausreichend hohe Zahl von Exemplaren des Buches für die bpb zu übernehmen und an relevante Institutionen weiterzugeben.
Kommen wir also zurück nach Krakau, und zwar in das Jahr 1944:
Im Sommer 1944 beschäftigt Oskar Schindler in seiner Fabrik in Krakau mehr als 1.000 jüdische Mitarbeiter. Inzwischen produziert er auf Anraten Mietek Pempers auch Granathülsen. Er hat ein riesiges Vermögen von mehr als 10 Millionen Reichsmark angehäuft.
Aber: Die Endphase des verlorenen Weltkrieges hat begonnen. In der Normandie sind am D-Day 1944 amerikanische und englische Truppen gelandet, und im Osten rücken die sowjetischen Armeen auch auf Krakau vor. Wie andere Fabriken in Polen, so soll auch Schindlers Emaillewaren- und Munitionsfabrik auf Anordnung der KZ-Verwaltungsbehörde in Berlin geschlossen werden.
Oskar Schindler steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens: Gehen oder bleiben? Das heißt: Sein bis zu diesem Zeitpunkt angehäuftes riesiges Vermögen nehmen und sich nach Westen absetzen oder bleiben und versuchen, so viele jüdische Mitarbeiter zu retten, wie es ihm möglich ist. Oskar Schindler entscheidet sich, in Krakau zu bleiben und seine Fabrik von Krakau in das 340 km entfernte Brünnlitz zu verlagern. Diese Verlagerung war ein gigantisches Unternehmen.
Steven Spielbergs Film Schindlers Liste kam im Herbst 1993 in den USA in die Kinos. Der Film wurde ein ungeheurer Erfolg. Er gewann sieben Oskars. Im Herbst 2018, also 25 Jahre nach der Premiere des Films, feierte Schindlers Liste in den USA sein Silbernes Jubiläum in mehr als 1.000 Kinos. Steven Spielberg sagte dazu in einem Fernsehinterview mit dem Sender NBC:
"Ich glaube, dies ist die wichtigste Zeit, um den Film wieder in die Kinos zu bringen. Vielleicht ist es heute noch wichtiger, den Film Schindlers Liste wieder in die Kinos zu bringen, als bei seiner Premiere im Jahr 1993. Ich glaube, heute steht mehr auf dem Spiel als damals. Denken Sie an den Anti-Semitismus und an die Fremdenfeindlichkeit in den USA und in der gesamten Welt.“
Zum Abschluss möchte ich ein klärendes Wort schreiben zu der in den Filmmedien heftig kritisierten Abschiedssequenz in "Schindlers Liste". Sie enthält eine ganz persönliche Botschaft Steven Spielbergs und einen Appell an die Zuschauer des Films. Mietek Pemper hat mir gesagt, dass er sich genau an die Abschiedsszene erinnert und dass ein goldener Ring mit der hebräischen Inschrift "Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ an Schindler überreicht worden ist.
Aber nach der Überreichung des goldenen Ringes sei Oskar Schindler keineswegs in eine Kette von Selbstanklagen ausgebrochen und habe sich darin beschuldigt, nicht genug zur Rettung seiner und anderer Juden getan zu haben. Und keineswegs sei er weinend zusammengebrochen.
Spielberg betont jedoch im Hinblick auf die Abschiedssequenz:
„Diese Sequenz war in jedem Fall notwendig. Oskar Schindler spricht nicht für sich, er spricht für uns alle, was wir eines Tages tun könnten.“
Und über seinen gesamten Film sagt Steven Spielberg in einem sehr emotionalen Appell:
„Dieser Film sollte für Sie wichtig sein, wenn Menschen Ihnen wichtig sind, wenn Menschlichkeit Ihnen wichtig ist, wenn es Ihnen wichtig ist, dass der Holocaust sich nicht wiederholt.“
Geradezu bekenntnisartig äußert sich Steven Spielberg im „Zusatzmaterial“ zu der DVD des Films "Schindler´s List":
„Schindlers Liste ist weitaus mehr als nur ein Film für mich, weil ich damit eine tiefgreifende Reise in die Seele eines einzigartigen Menschen unternommen habe und, wie sich herausstellen sollte, auch in meine eigene Seele. Schindlers Liste zu drehen, das hat nicht nur meinen Glauben vertieft, sondern meinen Lebensweg verändert. Denn dadurch, dass ich die Geschichte von Oskar Schindler erzählte, habe ich gelernt, wie ein einziger Mensch, nicht eine Armee, sondern ein einziger Mensch die Welt verändern kann.“
Wenn Spielberg „gelernt“ hat, dass und wie ein einziger Mensch die Welt verändern kann, so denkt er dabei ohne Zweifel an eine positive Veränderung der Welt.
Und in der Gegenwart?
Aber seit der Zeitenwende des 24. Februar 2022 müssen wir uns alle, sowohl diejenigen von uns, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, als auch diejenigen, die das Glück einer langen Friedenzeit im Wohlstand erleben durften, erneut mit dem Gedanken und der Gewissheit befassen, dass ein einziger Mensch die Welt auch in einem negativen, verbrecherischen Sinne mit verheerenden und mörderischen Konsequenzen verändern kann.
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Gewiss ist jedoch auch dies: Steven Spielbergs „einziger Mensch, der die Welt verändern kann“, muss kein Oskar Schindler sein. Jede und jeder von uns kann in ihrem und seinem Lebensbereich dieser einzige Mensch sein. Aber dieser einzige Mensch sollte ein denkender Mensch sein. Dann kann er oder sie Schindlers Lebensprinzip folgen: „Ein denkender Mensch, der seinen inneren Schweinehund siegreich überwunden hatte, musste einfach helfen. Es gab keine andere Wahl.“
Oft höre ich in letzter Zeit in meinem Freundeskreis den Satz „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Und daher hoffe ich zutiefst, dass es auch in unserer Welt genügend denkende Menschen gibt, die ähnlich wie Oskar Schindler ihren inneren Schweinehund siegreich überwinden und helfen, die Welt lebenswert zu verändern und zu erhalten. Menschen, jüngere und ältere, die den Mut haben, gegen die Verbrecher der aktuellen und jeder zu erwartenden negativen Zeitenwende Widerstand zu leisten. Am 1. September 2022, dem 83. Jahrestag der von Adolf Hitler verursachten Zeitenwende, war ein Ende der von Wladimir Putin zu verantwortende Zeitenwende des 24. Februar 2022 nicht abzusehen.
Die Teilmobilmachung von 300.000 russischen Soldaten, die Konsequenzen der Schein-Referenden im Osten der Ukraine mit diktatur-konformen Zustimmungsraten, die Explosionen Ende September 2022 in den noch gefüllten Gasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 und insbesondere Putins nicht einschätzbare Drohungen mit Atomwaffen haben die Gesamtsituation in höchst gefährlichem Maße verschärft.
Die seit der zweiten Oktoberwoche 2022 systematisch ausgeweiteten russischen Angriffe auf das Energienetz und die Infrastruktur der Ukraine haben binnem kurzen über 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke zerstört. Die offenkundig von diabolischen Hirnen geplanten Angriffe mit Raketen und Kamikaze-Drohnen lassen bei einer Fortführung einen furchtbaren Winter in der Ukraine erwarten und noch größere Flüchtlingsströme in Richtung Westen. Wie können bloß diese Narben zwischen Ukrainern und Russen wieder verheilen? Wie die neuen Feindbilder zerbröseln? Ja wie überhaupt lässt sich in diesem Krieg wieder Frieden schaffen - "ohne Waffen"?
Was tun?
Seit fast einem Jahr befinden sich die demokratischen Staaten der Welt in einem indirekten Kriegsmodus. Dieser verlangt zweierlei - sowohl die uneingeschränkte soziale und finanzielle Unterstützung der angegriffenen Ukraine als auch die Lieferung von Waffen, um sich gegen die anhaltenden Angriffe zur Wehr setzen zu können.
Er verlangt aber vor allem die Suche nach einem diplomatischen Genie mit tiefenpsychologischen Fähigkeiten, dem es gelingt, eine für alle Seiten gesichtswahrende friedliche Lösung zu finden. Bis diese Lösung gefunden ist, macht es der weiterhin andauernde Kriegsmodus in noch stärkerem Maße als bisher unverzichtbar, dass die Entscheidungsträger der freien Welt die Zivilcourage und die argumentative Kraft behalten, die Bevölkerung ihres jeweiligen Landes zu überzeugen, dass für die Dauer und für die Folgen von negativen Zeitenwenden gemeinsame Anstrengungen, Opfer, Verzicht und sogar völlig ungewohnte gravierende Einschränkungen und Veränderungen des eigenen Lebens unerlässlich sind. In seiner Rede vom 28. Oktober 2022 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mehrfach und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass uns „Jahre mit Gegenwind“ erwarten, dass wir „lernen müssen, uns zu bescheiden“. Er appellierte an uns, „alles zu stärken, was uns verbindet“. Denn „es kommen härtere Jahre, rauere Jahre auf uns zu“.
Aber nicht nur von den Entscheidungsträgern der freien Welt darf erwartet werden, dass sie mit so guten Beispielen voran gehen, dass wir alle nicht umhinkönnen, ihrem Vorbild zu folgen. Bei den Bemühungen um Frieden könnten wir in stärkerem Maße auch von den gedruckten und digitalen Medien unterstützt werden. Natürlich sollen sie „sagen, was ist“ wie Rudolf Augstein es einst seinen Spiegel-Redakteurinnen und Redakteuren nachdrücklich ans Herz gelegt hat.
Aber es wäre auch wünschenswert, wenn sie bei dieser Präsentation der Realität auch positiven Nachrichten und Beispielen selbstloser Hilfsbereitschaft einen größeren Raum gewährten. Also auch Ausschau halten nach den Schindlers dieser Welt, jenen positiven Beispielgebern, die veranschaulichen, dass es Auswege aus Krisen und Kriegen gibt.
Könnten also nicht unsere auf große Auflagenhöhe bedachten Printmedien in viel stärkerem Maße als bisher von ihrem traditionellen Credo abrücken, nur „schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“? Könnte nicht sogar die Tagesschau, von manchen oft nur wahrgenommen als "Katastrophenschau", nicht auch einem Mutmachmodus einen festen Bestandteil einräumen?
Es geht darum, durch faktenbasierte Beiträge aufzuklären und zu Konfliktlösungen zu ermutigen. Es geht darum, vernunftgeleitete Lösungen abzuwägen und letztlich auch dazu beizutragen, dass alsbald möglich der furchtbare Putin-Krieg zu einem Ende gebracht werden kann. Bevor er zu einer Parallele des fürchterlichen Hitler-Krieges wird.
In der „tiefsten Krise, die unser wiedervereinigtes Deutschland erlebt“ (Steinmeier), in der Ungewissheit über die weiteren imperialen Absichten des Diktators im Kreml, könnte auf diesem Weg auch ein Wort John F. Kennedys hilfreich sein, mit dem er 1961 bei seiner Antrittsrede als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an seine Mitbürgerinnen und Mitbürger appellierte:
"My fellow citizens: ask not what the free world can do for you — ask what you can do for the freedom of the world".
Das galt gestern, das gilt heute und gilt morgen.
Zitierweise: "Zeitenwende“, Werner Schneider, Siegburg, in: Deutschland Archiv, 29.9.2022, zuletzt ergänzt 4.1.2023. Link: www.bpb.de/512803.
Dr. Werner Schneider, Jahrgang 1940, 1961 - 66: Studium der Anglistik und Klassischen Philologie in Bonn und Exeter/England, Studiendirektor am Rhein-Sieg-Gymnasium in Sankt Augustin, 2000: Promotion zum Dr. phil an der Universität Bonn mit einer Dissertation über Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste", 2016: Veröffentlichung des Buches "Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG - Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt", 2000 - 2020: Filmgestützte Vorträge an Schulen und öffentlichen Institutionen über Zivilcourage in der Nazi-Diktatur am Beispiel von Oskar Schindler.
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