Da die DDR außenpolitisch auch ihren ungemein erfolgreichen Sport einsetzte, um sich weltweit staatliche Geltung zu verschaffen, verwundert es nicht, dass sie diesen nicht nur in ihrem Dauerkonflikt mit der Bundesrepublik in Stellung brachte,
Befürchtete Offensive gegen die DDR
Mit der Akzeptanz ihres Nationalen Olympischen Komitees (NOK) als vollwertiges Mitglied durch das Internationale Olympische Komitee (IOK) und der Erlaubnis, bei den Olympischen Winter- und Sommerspielen 1968 in Grenoble und Mexiko-Stadt erstmals mit einer eigenen Mannschaft antreten zu können, hatte die angesichts der bundesdeutschen Hallstein-Doktrin um ihre diplomatische Anerkennung ringende DDR im Oktober 1965 auf dem Terrain des Weltsports zwei wichtige Etappensiege im Kampf um ihre internationale Repräsentanz als eigenständiger deutscher Staat vorzuweisen.
Doch nachdem das IOK im April 1966 die Olympischen Sommerspiele 1972 nach München vergeben hatte, herrschte unter den Funktionären der Internationalen Kommission des Deutschen Turn- und Sportbunds (DTSB) der DDR Frust. Sie ahnten, „reaktionäre Kräfte im westdeutschen Sport“ könnten durch die zunächst nur für 1968 geltende „einheitliche Olympia-Symbolik“ beider deutscher Staaten ein separates Auftreten der DDR bei späteren internationalen Wettkämpfen weiter blockieren.
Dieser „Alleinvertretungsanspruch“ folge einer aus DDR-Sicht „reaktionären Außenpolitik“ der Bundesrepublik, um die Allianz der sozialistischen Länder im Sport „zu durchbrechen“ und Sportfunktionäre aus Entwicklungsländern für sich einzunehmen, unter anderem durch die Gewährung von Trainingslagern, Auslandstrainern und Urlaubsreisen. Es drohe „eine neue Offensive“ gegen den DDR-Sport, die mit mehr internationalen Wettkämpfen in der DDR und beim Deutschen Turn- und Sportfest 1969 in Leipzig mit seinen vielen ausländischen Gästen abzuwehren sei, um die Bundesrepublik als „Hauptstörenfried“ im Weltsport „zu entlarven“.
Zudem sollten „jungen Nationalstaaten“ aus der sogenannten Dritten Welt im Vorfeld der Münchner Spiele ebenso Trainingslager angeboten werden, damit sich ihre Auswahlteams „in der DDR akklimatisieren“ könnten.
Kairo als Dreh- und Angelpunkt
Damit war besonders Afrika gemeint, dem sich die herrschende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) beziehungsweise ihr Politbüro als Machtzentrale der Partei seit 1960 strategisch widmete und somit das auswärtige Agieren der DDR bestimmte. So hatten sich seit 1955 stete Sportkontakte der DDR mit Ägypten entwickelt, das, verknüpft mit der Hoffnung auf eine baldige diplomatische Anerkennung, nach der staatsbesuchartigen Reise von Partei- und Staatschef Walter Ulbricht nach Kairo (Februar 1965), der bundesdeutschen Nahost-Krise 1965
Auch ein 1966 vereinbartes Sportabkommen zwischen Kairo und Ostberlin war Ausdruck dessen und sorgte unter anderem dafür, dass der 1964 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig eingeführte Internationale Trainerkurs, der häufig Entwicklungsländern angeboten wurde, von denen sich die DDR diplomatischen Beistand erhoffte, nun besonders von Ägypten genutzt wurde (zum Beispiel 1967 mit 25 von 88 Plätzen). Hinzu kam 1966/67 ein intensivierter Sportverkehr mit Wettkämpfen und Trainingslagern im Basketball, Wasserball, Hockey, Radsport, Handball, Boxen, Schwimmen oder Wasserspringen.
Ein gutes Auskommen mit dem Nil-Staat war für den DDR-Sport auch deshalb von Belang, weil vor den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt – auf Geheiß des Politbüros
Aufbau strategischer Netzwerke
Damit verband sich, dass der DDR-Sport in Afrika seit dem Deutschen Turn- und Sportfest 1956 gute Kontakte zu Ahmed Demerdasch Touny besaß, der als Generalsekretär des ägyptischen NOK sein Land auch im IOK vertrat. Bei ihm liefen viele sportpolitische Themen der oft erst wenige Jahre unabhängigen Staaten Afrikas zusammen, weshalb er für das Werben der DDR unter jenen Ländern um ihre gleichberechtigte Mitgliedschaft im IOK und in anderen Weltsportverbänden sowie für ihr Ansinnen, 1972 in München und bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo erstmals mit eigenen nationalstaatlichen Symbolen (Hymne, Flagge) aufzutreten, ein wichtiger Vermittler war. Über ihn entstand auch die Verbindung zum 1966 gegründeten Obersten Sportrat Afrikas (OASR), der als Kontinentalverband für den DDR-Sport eine wichtige Schnittstelle zu den aufstrebenden afrikanischen NOKs darstellte, die es als Multiplikatoren seiner Münchner Olympia-Ziele zu gewinnen galt.
Bereits 1965 reisten Funktionäre des DDR-NOK zu den ersten Allafrikanischen Kontinentalspielen nach Brazzaville (Kongo), um bei hohen Sportfunktionären und IOK-Mitgliedern Lobbyarbeit in eigener Sache zu betreiben. Daraus entstand die Zusage des DTSB, die zweiten Allafrikanischen Kontinentalspiele des OASR zu unterstützen (unter anderem durch die Bereitstellung von Trainern), die 1969 in Mali (Bamako) stattfinden sollten, aber nach einem Putsch ausfielen. Durch eine erhoffte diplomatische Anerkennung motiviert, war Mali damals (wie Guinea und Ghana) ein wichtiges Aktionszentrum der DDR in Westafrika.
Bundesdeutsche Vorstöße
Ab 1966 begann auch die Bundesrepublik über das Auswärtige Amt und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit damit, ihre Sportbeziehungen nach Afrika energischer anzukurbeln. Auch sie wollte sich dort Zustimmung für ihre Blockade der DDR im IOK und bei Olympia sowie für ihren politischen Anspruch, auch weiter alleiniger Repräsentant Deutschlands zu sein, organisieren
Als Bundespräsident Heinrich Lübke 1966 Kenia, Madagaskar, Mali, Togo, Kamerun und Marokko besuchte, warb er auch um deren Zuspruch für die bundesdeutschen Olympia-Pläne, wobei er mit deutlich finanzstärkeren Argumenten auftreten konnte als die DDR. Allein Marokko wurde Entwicklungshilfe über 194 Millionen D-Mark in Aussicht gestellt; bis 1971 stieg der Sportetat des Bundes für Entwicklungsländer auf 1,8 Millionen D-Mark (wovon 500.000 D-Mark für Trainingslager in Vorbereitung auf die Spiele in München gedacht waren).
Professionalisierungsschübe und Belastungsgrenzen
Daher erweiterte der DDR-Sport ab 1965/66 seine internationalen Initiativen, die formal in die kulturelle Auslandsarbeit des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) fielen und dort zum Bereich der kulturell-wissenschaftlichen Zusammenarbeit gehörten (Aspekte des Leistungssports blieben hiervon unter der steten Vorgabe der Geheimhaltung weitgehend ausgeschlossen und waren Sache des DTSB). Dem zugeordnet wurde 1968 ein jährlicher Auslandssportetat von 456.000 DDR-Mark, der sich bis 1972 auf 770.000 DDR-Mark erhöhte. Nötig wurde das vor allem, da der Aufwand für den weltweit immer gefragteren Internationalen Trainerkurs der DHfK in die Höhe schoss und diese ihre dafür nötigen Strukturen bis 1972 zu einem Institut für Ausländerstudium ausbaute.
Das dafür verantwortliche Staatliche Komitee für Körperkultur (StaKo) kalkulierte für den Kurs inzwischen jährlich 750.000 DDR-Mark ein, wofür die ihm für seine internationale Arbeit ab 1965 bereitgestellten Fördergelder aus Erlösen der staatlichen Sportlotterie von 250.000 DDR-Mark nicht mehr ausreichten. Administrativ erhielt das StaKo ab 1966 wieder eine internationale Abteilung, die ihm 1957 angesichts der damaligen Gründung des DTSB als nationalem Dachverband und der ihm von der SED zugedachten Vormachtstellung auch in internationalen Sportfragen aberkannt worden war.
Der DTSB richtete indes in seiner internationalen Abteilung 1969 einen „Sektor Afrika” ein, der nun unter anderem damit begann, erstmals überhaupt eine Kontaktdatenbank für die Arbeit mit Afrika aufzubauen. Um Reibungsverluste zwischen beiden Institutionen in Auslandsfragen zu minimieren, griff im Juni 1965 mit Erich Honecker der damals auch für den Sport zuständige Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED ein, als er die Bildung einer Internationalen Koordinierungskommission von DTSB und StaKo sowie eine zwischen ihnen geteilte Länderzuständigkeit absegnete.
Da für die DDR diplomatisch aufwertende Ressortabkommen mit ausländischen Ministerien und Verbänden auch im Sport ein staatlicher Kooperationspartner und keine Massenorganisation wie der DTSB gefragt war, bekam das StaKo als staatliche Behörde nun die Zuständigkeit in der internationalen Zusammenarbeit für jene sechs Staaten zugesprochen, von denen sich die DDR aktuell am ehesten ihre diplomatische Anerkennung versprach (Ägypten, Guinea, Mali, Syrien, Irak, Tansania). Und während sich DTSB und StaKo nach langen internen Querelen um Zuschüsse und Befugnisse bis 1971 erstmals auf eine gemeinsame Sportstrategie zur Dritten Welt einigten, wurde die Sportschule in Güstrow für sechs Millionen DDR-Mark generalüberholt, um unter anderem afrikanischen Gästen vor Olympia 1972 eine moderne Sportstätte für ihre Trainingslager anbieten zu können.
Zusätzlich plante der DTSB aufgrund der immer größeren Nachfrage aus aller Welt nach Trainern aus der mit dem Ruf des Erfolgs versehenen DDR den Aufbau eines Auslandstrainerpools, den das Ministerium für Außenwirtschaft ab 1970 mit 875.000 DDR-Mark subventionieren sollte (da damit auch Hoffnungen des Außenhandels auf die Einnahme von Devisen einhergingen).
All diese Aktionsstränge führten den DDR-Sport vor Olympia 1972 an seine Belastungsgrenze, da er zugleich seine Beteiligung an den Weltfestspielen der Jugend 1973 in Ostberlin vorbereiten musste. So konnte der DTSB nicht mehr dem Obersten Sportrat Afrikas bei der Gestaltung der Eröffnungsfeier seiner Allafrikanischen Kontinentalspiele 1973 in Nigeria (Lagos) helfen. Hier sprangen Choreographen der Armeesportvereinigung „Vorwärts“ der Nationalen Volksarmee ein. Argwöhnisch notierte DIE ZEIT aus bundesdeutscher Perspektive daher, die Massenschau in Lagos mit 1000 nigerianischen Soldaten stelle eine „seltsame Mischung von preußischem Drill und nigerianischen Volkstänzen“ dar.
Rückenwind aus Afrika und „AG 72”
Parallel dazu verlieh der Wirkungsverlust der Hallstein-Doktrin der DDR Rückenwind. Immer mehr Länder (unter anderem Ägypten, Sudan, Syrien, Algerien, Guinea, Somalia) nahmen ab 1969/71 diplomatische Beziehungen zu ihr auf. DTSB-Funktionäre meinten, es sei geglückt, der „westdeutschen Sportführung in vielen dieser Länder entgegenzuarbeiten. Einige dieser Länder begreifen immer mehr, dass auch die sogenannte Entwicklungshilfe auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport durch die westdeutsche Sportführung ausschließlich den neokolonialistischen Bestrebungen Westdeutschlands dient.”
Zugleich hatte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) Ende der 1960er Jahre eine „AG Olympia” gebildet (auch „AG 72” genannt), die 1970-73 zur Vorbereitung aller Olympia-Fragen auf Betreiben der ZK-Abteilung Sport gegen die von den Diplomaten dafür beanspruchte Führungskompetenz als Parteikommission beim ZK der SED fortbestand und dem Politbüro direkt berichtete.
Angesichts der neuen Ostpolitik der Bundesregierung („Wandel durch Annäherung”) sollte sie die Bundesrepublik als „reaktionären” Olympia-Gastgeber diskreditieren, deshalb die „sozialistischen Bruderstaaten” und die der DDR gewogenen Entwicklungsländer auf eine Linie gegen die Bonner Entspannungspolitik einschwören und dazu eine scharfe antibundesdeutsche Propagandakampagne vorantreiben.