Die deutsche Botschaft in der Ukraine hat Mitte August verlauten lassen, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen ursprünglich schon Mai 2022 geplanten und dann wieder abgesagten Besuch in Kyiv „bald“ nachholen werde.
Vermisste Führungsrolle
Auf der Konferenz gelte es, „alle Karten auf den Tisch zu legen, zu einer geordneten Übersicht zu gelangen, kommende Schritte gezielt, einvernehmlich und gemeinsam festzulegen“. Dabei gehe es nicht um Monate, sondern um die nächsten Wochen. In Sachen Ukrainepolitik müsse Deutschland endlich die von den Nachbarn erwartete „Führungsrolle in Europa übernehmen, entschieden und mutig ohne Zweifel vorangehen“. Seit längerer Zeit forderte Strack-Zimmermann bereits einen Koordinator für die ukrainische Waffenhilfe im Bundeskanzleramt. Doch bislang vergebens.
Kurz darauf, am 17. Juli, ging Bundeskanzler Olaf Scholz mit einem Gastbeitrag in der FAZ an die Öffentlichkeit. Als wenn er dem Vorwurf zögerlichen Handelns begegnen wollte, sprach er von der Notwendigkeit einer „geopolitischen Europäischen Union“ und der führenden Rolle Deutschlands dabei. Russland habe mit seiner Aggression die bisherige europäische Friedensordnung in Schutt und Asche gelegt und müsse einer geschlossenen Kooperation der europäischen Demokratien begegnen, was die verhängten Sanktionen und die umfassende Unterstützung der Ukraine betreffe.
Dazu müsse es über die europäische Kooperation hinaus zu einer neuen globalen Kooperation der Demokratien kommen. Das setze „neue Kraft frei. Kraft, die wir in den kommenden Monaten brauchen werden. Kraft, mit der wir gemeinsam die Zukunft gestalten können. Kraft, die unser Land in sich trägt – und zwar in Wirklichkeit“, so Scholz. Er demonstrierte damit erneut sein klassisches Muster, bei eher allgemeinen Ankündigungen zu bleiben. Deutschland sei entschlossen, sich dem „neokolonialen“ Angriff Wladimir Putins zu widersetzen. Diese verbale Aufrüstung sollte wohl auch den Eindruck entschlossenen Handelns erwecken. Vieles klang gut, aber was steckte an wirklich Greifbarem dahinter? Droht gar die Gefahr eines der Ukraine auferlegten Diktatfriedens?
Deutlich wurde Reinhard Bütikofer, Europaabgeordneter und ehemaliger Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen (2002 – 2008). Er fragte nach Scholz‘ Sicht auf einen möglichen Waffenstillstand und konstatierte, dass sich der Bundeskanzler nur einem Ausgang des Krieges widersetze: dass Putin seine Maximalforderungen durchsetzt, also die Auslöschung einer souveränen Ukraine. Würde Scholz einen Kompromiss hinnehmen, in dem die Ukraine die Krim und den Donbass aufgeben müsste, vielleicht sogar Charkiv und Odessa?
„Der Kanzler“, sagt Bütikofer, „hat sich eine rhetorische Strategie zurechtgelegt, die seinen Mangel an Entschlossenheit durch besonders scharfe Worte ausgleichen soll.“ Mit dieser Einschätzung steht der Grünen-Politiker nicht allein. FDP-Frau Strack-Zimmermann, der CDU-CDU Außenpolitiker Norbert Röttgen sowie Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitiker*innen zum Beispiel aus den baltischen Ländern und Polen sehen das ähnlich und drängen auf eine sichtbar konsequentere Politik Deutschlands.
Wolfgang Ischinger, der langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, fordert schon seit Ausbruch des Krieges eine grundlegende Neuaufstellung der deutschen Außen-, Sicherheits- und vor allem der Russlandpolitik.
Welche Weichenstellungen?
Wo und in welchem Kreis werden aber die Weichen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gestellt, werden solche Entscheidungen getroffen? Der aus der bundesdeutschen Geschichte hervorgeholte Verweis, dass die Außenpolitik im Kanzleramt gemacht werde, reicht bei einer Dreierkoalition und starken Bündnisgrünen, die das Außenministerium besetzen, nicht mehr aus. Wer wird jetzt das Drehbuch für den Steinmeier-Besuch schreiben, die Beteiligten auswählen, welchen Charakter werden die Hintergrundgespräche tragen?
Will man einen positiven Blick behalten, kann man auf die für die Ukraine ermutigenden Erklärungen bei den letzten Besuchen führender deutscher Politiker*innen in Kyiv und dem Gipfelmarathon der Sommerwochen verweisen.
Dort konnte allerdings die Uneinigkeit vieler Akteur*innen und die Differenz zwischen ihren Positionen nur schlecht überspielt werden. Bei den mit aller Mühe zustande gekommenen Kompromissen wurde abschließend immer Geschlossenheit betont. Doch hinter den Fassaden werden daran immer wieder Zweifel laut.
Beim Gipfel der EU-Staaten im Juni in Brüssel preschte Ursula von der Leyen nach vorn und setzte gegen zahlreiche Widerstände das Versprechen eines Kandidatenstatus für die künftige Mitgliedschaft der Ukraine und Moldawiens in der Europäischen Union durch. Ungarn machte seine Zustimmung von zahlreichen Zugeständnissen abhängig und setzte eine Reihe davon auch durch.
Einige Tage später, auf dem G7-Gipfel im Oberbayerischen Elmau vom 26. bis 28. Juni 2022, wurde der Ukraine volle Solidarität zugesichert. Als Olaf Scholz dort vor die Presse trat, kam es zu einer denkwürdigen Szene. Die Journalistin Rosalia Romaniec von der Deutschen Welle fragte, ob denn Sicherheitsgarantien für die Ukraine für die Zeit nach einem Waffenstillstand überlegt worden seien. Scholz antwortete, solche Vorstellungen gäbe es. Auf die Rückfrage, ob er die wohl konkret benennen könne, antwortete der Kanzler, freundlich lächelnd, ja das könne er – und ließ die Nichtantwort vielsagend im Raum stehen.
Ende Juni, auf dem Nato-Gipfel in Madrid, stimmten alle Nato-Mitglieder dem Aufnahmeantrag von Finnland und Schweden in das Bündnis zu. Eine Stärkung, die in ihrer sicherheitspolitischen Wirkung, vor allem für den Nordraum, kaum überschätzt werden kann. Die Zustimmung dazu musste dem türkischen Nato-Partner, in Gestalt des Autokraten Recep Tayyip Erdogan allerdings mühsam abgerungen werden. Unverhohlen forderte er als Gegenleistung freie Hand für eine neue Offensive gegen kurdische Unabhängigkeitskräfte.
Die Vertreterinnen der baltischen Staaten und Polens waren am entschiedensten dafür, der Ukraine den Kandidatenstatus für die EU zu verleihen und das Land gleichzeitig näher an die Nato zu rücken. Ihre eigene Sicherheit dadurch zu erkaufen, dass sie in künftigen Vereinbarungen eine Neutralität und einen Vasallenstatus der Ukraine gegenüber Russland akzeptieren, lehnten sie ab. All dies müsse eine freie Entscheidung der Ukraine bleiben, zu der niemand sie drängen dürfe. Wie ein solches Drängen in historischen Ausnahmesituationen aussah, als in Europa mit der Friedenssehnsucht und der Angst der Menschen gespielt wurde, zeigen bedrückende Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:
Historische Analogien
So vorsichtig man mit historischen Analogien sein muss, sie drängen sich auf, wenn man auf die Jahre blickt, die in Europa dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen, der am 1. September 1939 mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen begann.
Bis dahin waren wenig mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verstrichen, der in zahlreichen Ländern Europas Verwüstung und Elend hinterließ, Millionen Tote und Versehrte forderte. In Deutschland stürzte das Kaiserreich durch eine Revolution, die Weimarer Republik wurde zur Demokratie auf wackligen Füßen. Die mit der Kriegsniederlage verbundenen harten Auflagen des Versailler Vertrages arbeiteten Feinden der Demokratie in die Hände, welche die Rückgabe verlorener Territorien forderten, Deutschland zu alter Größe führen wollten und die westlichen Siegermächte für Not und Elend verantwortlich machten. Das Zusammenspiel rechter und linker extremer Kräfte brachte die Weimarer Demokratie zu Fall.
Mit der Machtübernahme Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 veränderte sich binnen kurzer Zeit die europäische Nachkriegsordnung. Im Verlauf weniger Jahre schafften es die Nationalsozialisten, alle innenpolitischen Gegner auszuschalten und mit sozialen Geschenken und dem Versprechen künftiger Weltgeltung die übergroße Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen. Der hemmungslose Demagoge Adolf Hitler gab sich als kompromissbereiter Friedensstifter aus, ignorierte alle militärischen Begrenzungen und Rüstungsbeschränkungen, die Deutschland auferlegt waren, marschierte 1936 in das demilitarisierte Rheinland ein und bracht 1937 den Anschluss Österreichs an das Reich zustande. Im Jahre 1938 war die Tschechoslowakei an der Reihe, wo er zunächst die Abtretung des Sudentenlandes forderte, in dem es eine starke deutsche Minderheit gab. Nur zu deren Schutz sei er tätig, erklärte Hitler.
Schon einmal fahrlässig vertane Chancen
In jedem Jahr nach der Machtübernahme hätten England und Frankreich, die militärisch zunächst haushoch überlegen waren, den Völkerbund und zahlreiche Verträge auf ihrer Seite wussten, Hitler stoppen können. Es gab Oppositionskräfte in der Führung der deutschen Wehrmacht, die gewillt waren, Hitler zu entmachten und zu einem Kompromiss mit den Westmächten zu finden. Alle Chancen dazu wurden vertan, teils aus dem Glauben an die Friedensschwüre Hitlers und seine Kompromissbereitschaft, teils aus dem tiefverwurzelten Egoismus der europäischen Großmächte. Politiker wie Winston Churchill, welche die mit Hitlers Großmachtstreben verbundenen Gefahren erkannten und für rechtzeitiges Eingreifen plädierten, waren isoliert und wurden von den Kräften, die für Appeasement standen, als Kriegstreiber verunglimpft.
Im Münchner Abkommen vom September 1938 sahen der britische Premier Arthur Neville Chamberlain und sein französischer Kollege Édouard Daladier die Chance, den europäischen Frieden zu erhalten, indem Sie der tschechoslowakischen Regierung territoriale Zugeständnisse aufzwangen. Die Situation, die nach der Abtrennung des Sudetenlandes eintrat und die Monate bis zum Kriegsausbruch bestimmte, nannte Leonard Mosley, ein Chronist des Geschehens, den „gespenstischen Frieden“. Ein entscheidender Grund für Hitlers Griff nach dem Sudetenland war das dortige Industriepotenzial und die starken Befestigungsanlagen. Die tschechoslowakische Armee war vorher ein starker Gegner für Hitler. Jetzt war ihr das Rückgrat gebrochen.
Das Verhalten Chamberlains und der britischen Regierung betrachtete Winston Churchill als eine Wahl zwischen Schande und Krieg. Die Regierung habe, um den Frieden zu gewinnen, die Schande gewählt. Aber der Krieg sollte Europa dennoch nicht erspart bleiben.
Polen wurde im September 1939 zum ersten Opfer des Angriffskrieges, zunächst durch den Überfall Hitlerdeutschlands, zwei Wochen später schloss sich mit Josef Stalin der zeitweilige Verbündete Hitlers an.
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurde die Sowjetunion selbst 1941 von Hitlerdeutschland überfallen. Stalin wurde zum Mitglied der Anti-Hitler-Koalition. In dem totalitären Massenmörder einen über die gebotene Notgemeinschaft hinaus akzeptablen Verbündeten zu sehen, blieb selbst Churchill, vor allem aber dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt nicht erspart.
Mit dem Sieg über Hitlerdeutschland und seine Verbündeten und der Befreiung aller von ihm besetzten Länder kam eine neue Nachkriegsordnung zustande. Eine jahrzehntelange Teilung Deutschlands und die Unterdrückung zahlreicher mitteleuropäischer Staaten, mit anfänglichem Massenterror, unter Beistand der je nationalen Kommunisten. Das sowjetische Kolonialgebiet dehnte sich aus, künftige Weltherrschaft wurde zum Ziel kommunistischer Verheißungen. Die Realität sah freilich anders aus. Unfreiheit und Kommandowirtschaft ließen die Sowjetunion im Systemwettkampf des Kalten Krieges hoffnungslos unterlegen sein.
Mit Glasnost und Perestroika unternahm Michail Gorbatschow in den achtziger Jahren einen untauglichen Rettungsversuch. Er wollte die Symptome kurieren, ohne letztlich die imperialen Grundlagen der Sowjetunion in Frage zu stellen, welche letztendlich zerfiel. Weder Gorbatschow noch Boris Jelzin gelang es, aus den Trümmern des Riesenreiches eine russländische Nation zu formen.
Einer Zeit der Wirren und des inneren Zerfalls unter Jelzin folgte durch Wladimir Putin die Sammlung und Disziplinierung kriminell mafiöser Kräfte unter Führung von Geheimdienstkadern und Vertretern des militärisch-industriellen Komplexes. Russland sollte sich von den Knien erheben und zu neuer Größe und Weltgeltung erstehen. Wer diesen Weg aber seit der Jahrtausendwende als Realist verfolgte, konnte und durfte keinen Zweifel daran haben, wohin die Reise ging. Alle Staaten und Nationen, die sich vom früheren zaristischen und später sowjetischen Imperium gelöst hatten, allen voran die Ukraine, sollten heimgeholt werden. Ob als erneuter Teil Russlands oder als Vasallenstaaten. Mehr noch, der gesamten westlichen Werteordnung wurde ein unversöhnlicher Kampf angesagt.
Als die Generalprobe für weitere Angriffe und territoriale Eroberungen mit der Besetzung der Krim und der Installation von Marionettenregimen im Donbass erfolgreich war, als der Westen zwar Sanktionen verhängte, diese aber nur halbherzig durchsetzte, konnte die Moskauer Führung nach 2014 in Ruhe den nächsten Schritt vorbereiten.
Illusionen und Verdrängungen
Bei all dem, was diese lange Geschichte zeigt und was die aktuelle Entwicklung offenbart, ist das Ausmaß aktueller Illusionen und Verdrängung verstörend bedrohlich.
Theologen und Friedensforscher, wie zum Beispiel Professor Egon Spiegel, raten der Ukraine zur Kapitulation, um eine moralisch bessere Position einzunehmen und auf dieser Basis einen gerechten Ausgleichsfrieden mit Putin zu erreichen.
Prominente wie der Historiker Herfried Münkler und der Soziologe Johannes Varwick erklären zwar ihr volles Verständnis für die Ukraine und die Abscheu, die sie Putin gegenüber empfinden. Die Situation der Ukraine sei aber aussichtslos und es gälte eine Lösung zu finden, mit der auch das Putin-Regime gesichtswahrend leben könne. Eine Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen wird unter anderem vom sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer vorgeschlagen, um den Weg zu einem Kompromiss zu ebnen. Ihm springen sächsische Kommunalpolitiker zur Seite, wie ein offener Brief an Minister Robert Habeck vom 1. August 2022 zeigt.
Zahlreiche historische Beispiele zeigen das genaue Gegenteil: Mit guten Argumenten, einer ehrlichen Diskussion und offener Auseinandersetzung lassen sich Bereitschaft zum Verzicht und Kraft mobilisieren.