Jüdische Identitäten. Das Leben als Jüdin in der ehemaligen DDR und in der Bundesrepublik Deutschland
Sharon Adler: Stella, in deinem 2021 erschienenen autobiografischen Buch „Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten“ schreibst du: „Der Nationalsozialismus war der konkurrenzlose Mittelpunkt des Denkens meiner Mutter.“ Wie bist du als Kind und als Jugendliche damit umgegangen? Was bedeutet es deiner Meinung nach, aus dieser Erfahrung heraus, für die Angehörigen der Zweiten und Dritten Generation, mit den Traumata der Eltern- und Großelterngeneration zu leben ?
Stella Leder: Ich kann diese Frage nur schwer beantworten, weil die Geschichten, die ich als Kind hörte, ein so elementarer Bestandteil meines und unseres Lebens waren, dass ich sie nicht aus ihm heraustrennen kann. Das waren Geschichten aus der Familie, von Freunden, aber meine Mutter las mir auch Bücher von Überlebenden vor. Die Grenzziehung zwischen Geschichte, Geschichten und Realität verläuft bei Kindern ja grundsätzlich anders als bei Erwachsenen. Als Erwachsene fragen wir zuerst: Wann war das, ist diese Geschichte eine historische oder eine fiktive Geschichte? Als Kind sind Geschichten einfach Teil von Realität. Das galt in meiner Kindheit eben auch für Erzählungen über den Nationalsozialismus. Ich saß mit sieben, acht Jahren im Klassenraum und fantasierte darüber, dass Kinder von einem auf den anderen Tag nicht zur Schule kommen und nicht mehr zurückkehren.
Der Anlass war, dass zwei oder drei Kinder krank waren und ihre Plätze leer blieben. Ich glaube, damals hatte meine Mutter mir schon Ida Vos
Sharon Adler: Bettina, Anfang der 1960er-Jahre trennten sich deine Eltern Stephan und Gudrun, und du bist fortan zwischen den neu entstehenden Elternhäusern gependelt – eins russisch-jüdisch, eins deutsch-deutsch: Was bedeutete es für den jüdischen Teil der Familie, für dich persönlich, in der DDR jüdisch zu sein oder es zu leben?
Bettina Leder: Die jüdischen Familien, die ich in der DDR kannte, waren alle nicht religiös. Mein Vater und seine Freunde verstanden sich als Kommunisten. Meine Tante Anja und mein Onkel Hans, die in jedem Sommer für ungefähr drei Monate von Tel Aviv nach Berlin kamen und in meinem Kinderleben eine große Rolle spielten, brachten bei einem ihrer Besuche Schabbatleuchter mit – aber sie standen unbenutzt im Regal. Ich kannte niemanden, der in die Synagoge gegangen wäre oder die Feiertage eingehalten hätte. Eine Freundin erzählte mir vor ein paar Jahren, in ihrer Familie sei manchmal Schabbes gefeiert worden: Wenn die Verwandtschaft aus dem Westen gekommen sei. Das hat mich überrascht.
Als ich klein war, war ich viel allein. Ich hatte kaum Freunde, war schon im Kindergarten und später in der Schule eine Außenseiterin. Das hat mir schwer zu schaffen gemacht, ich wollte sehr gern dazugehören und war überglücklich, als ich nach der Trennung meiner Eltern und unserem Umzug zum ersten Mal einen wirklichen Freund fand: Stefan ging mit mir in eine Klasse, und wir waren uns ziemlich ähnlich. Auch er las, wo er saß und stand, liebte klassische Musik; wir waren beide Kinder, die nicht sonderlich behütet waren, begannen, unsere Tage gemeinsam zu verbringen und waren unzertrennlich. Bald stellte sich heraus, dass auch unsere Eltern sich kannten. Mein Vater war wie Silvia ein paar Jahre im Exil in der Schweiz gewesen, aber ich glaube, da kannten sie sich noch nicht; kennengelernt haben sie sich erst, als Silvia und Dieter Schlenstedt zusammen mit meiner Mutter Germanistik studierten und dann auch zu uns nach Hause kamen. Daran habe ich aber keine Erinnerung.
Als Stefans Mutter vor ein paar Jahren starb, schrieb der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Cohen über sie: Auschwitz habe zum Unabdingbaren ihres Denkens gehört. Ich glaube, der Begriff des Denkens greift zu kurz, aber sofern Cohen die zentrale Stellung der Katastrophe in Silvias Sein bezeichnen wollte, hat er Recht und nicht nur bezogen auf sie: Ich würde sagen, das war den Menschen gemeinsam, unter denen ich aufgewachsen bin.
Das bedeutete nicht, dass mein Vater irgendetwas erzählt hätte von dem, was ihm und der Familie in der Nazizeit widerfahren war. Er war ein schweigsamer Mensch, ganz für sich. Ich erinnere, wie mich seine Traurigkeit beschäftigte; und dass ich ihm gern Fragen gestellt hätte, zum Beispiel, was es eigentlich bedeutet, jüdisch zu sein. Aber ich habe mich nicht getraut. Seine Trauer war wie ein Wall um ihn herum. Mit 13 Jahren habe ich mir einen Ruck gegeben und endlich doch gefragt und habe damit einen Ausbruch provoziert, wie ich ihn bis dahin noch nie erlebt hatte; jenseits aller Worte, die damals geschrien wurden, hat mich das darin bestätigt, dass ich nicht fragen darf und soll. Erst später, in den 70er- und 80er-Jahren, hat sich das ein bisschen verändert, da erzählte er dann manchmal von sich. Wie er in den Kommunistischen Jugendverband eingetreten war und einen Brief an die Jüdische Gemeinde geschrieben und seinen Austritt erklärt hatte und tatsächlich gedacht habe, er sei nun kein Jude mehr. Als er es erzählte – mit vielleicht 70 Jahren – amüsierte er sich köstlich über die Vorstellungen, die er als 16-Jähriger gehabt hatte.
Zu dieser Zeit, also in den 70er- und 80er-Jahren, war dann auch die antiisraelische Propaganda in der DDR ein Thema, das ihn mehr und mehr bedrückte. Und ich erinnere auch, wie er mir Anfang der 80er-Jahre von einer Auseinandersetzung in der Akademie der Künste erzählte: Da war es während einer Sitzung zu einem Disput über die Fernsehserie „Holocaust“ gekommen, und zwischen ihm und Otto Gotsche war der Streit eskaliert; er hatte Gotsche einen Antisemiten genannt. Ich lebte schon im Westen, wir sahen uns zwar, weil er reisen durfte, aber nicht mehr so oft wie früher. In dieser Zeit gab es keine Begegnung, während der nicht in der einen oder anderen Weise sein Judentum zur Sprache gekommen wäre. Es hatte sich etwas verändert. Aber in meiner Kindheit? Kaum ein Wort.
Andererseits: Der Eichmann-Prozess war ein großes Thema. Und mein Vater kaufte jedes Buch über die Shoah – gleichgültig, ob es im Osten oder Westen erschien. Es war eine große Sammlung, die Bücher lagen offen bei uns zu Hause herum. Nach unserem Auszug richtete er in meinem alten Kinderzimmer eine neue Bibliothek ein – mit der gesammelten Literatur über die Shoah, auch über den Weltkrieg und Hiroshima. Direkt neben den Regalen stand mein Bett. Wenn ich morgens die Augen aufschlug, sah ich auf die Buchrücken. Und natürlich zog ich die Bücher heraus und sah sie an. Niemand machte sich Gedanken, was das für eine Acht-, Neunjährige bedeutete. Ich wusste in diesem Alter schon viel über den Nationalsozialismus und die Verfolgung im Allgemeinen; auch, dass mein Vater emigriert war, ebenso die meisten seiner Freunde; dass meine Schwester in Paris geboren worden war, dass das alles geschehen war, weil sie Juden waren; aber ich wusste nicht, was das eigentlich meint: jüdisch sein und nichts Weiteres über die Familie; manchmal schnappte ich in Unterhaltungen der Erwachsenen Brocken auf, die sich in mir festhakten, aber ich hatte überhaupt kein Bild. Als ich das erste Foto der Familie sah, war ich vielleicht 15 Jahre alt.
Sharon Adler: Bettina, du hast deine Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter in der DDR verbracht. Wie hast du den Umgang der DDR mit der NS-Geschichte (in Schule und Universität, während deines Germanistik-Studiums an der Humboldt-Universität Berlin) erlebt?
Bettina Leder: Das waren sehr widersprüchliche Erfahrungen. Auf der einen Seite: Das Elternhaus, in dem die Shoah und der Antifaschismus eine so große Rolle spielten; auch die staatlichen Bekundungen, sich als antifaschistischer Staat zu verstehen. Auf der anderen Seite machte ich spätestens nach dem Auszug bei meinem Vater Erfahrungen, die damit überhaupt nicht zusammenpassen wollten.
Ich lernte Menschen kennen, in deren Wohnzimmern Fotos von Wehrmachtssoldaten mit Trauerflor standen und deren Kinder mich in der Schule beschimpften und mir Prügel androhten – ein Echo ihrer Eltern, dachte ich später. Als Mädchen von acht oder auch zwölf Jahren konnte ich die Feindseligkeit nicht begreifen und war auch in keiner Weise darauf vorbereitet. Der Auszug, das war nicht nur die Trennung meiner Eltern, es war wie ein Sturz in eine andere Welt. Meine Mutter begann, für einen Filmverleih zu arbeiten und ich befreundete mich mit dem Sohn ihres Chefs. Er war nur wenig älter als ich. Von ihm hörte ich zum ersten Mal im Leben antisemitische Witze, die mich wie ein Messer trafen. Ich konnte weder verstehen noch artikulieren, was ich erlebte. Mir fehlte sehr lange die Sprache.
Bald nach unserem Umzug begann ich eine Schule mit erweitertem Russischunterricht zu besuchen. Das Thema Nationalsozialismus spielte eine große Rolle, nicht nur im Geschichtsunterricht. Wir lernten das „Moorsoldaten“-Lied singen; wir lasen Bechers „Kinderschuhe aus Lubmin“, Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“, Friedrich Wolfs Erzählung „Kiki“ und sein Drama „Professor Mamlock“; wir kannten Biografien von Menschen, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten; Besuche in Konzentrationslagern waren obligatorisch.
Im Geschichtsunterricht wurde der Nationalsozialismus in der 9. Klasse thematisiert; innerhalb dieser Lerneinheit ging es auch um die Shoah. In einer Unterrichtsstunde meldete sich ein Mädchen und erzählte, seine Großeltern hätten in der Nazizeit Juden in ihrem Keller versteckt. Kaum hatte sie sich gesetzt, ging eine zweite Hand nach oben – ein zweites Mädchen erzählte eine ähnliche Geschichte.
Vor mir in der Bank saß mein Freund Stefan. Ich erinnere, wie ich ihn aus einem Impuls heraus von hinten umklammerte und mich an ihm festhielt. Für mich waren die Erzählungen der beiden Mädchen wie auch die wohlwollende Reaktion der Lehrerin ein Schock. Etwas in mir wusste – sofern man von Wissen sprechen kann, wenn man etwas nicht artikulieren kann –, dass es im höchsten Maß unwahrscheinlich war, dass es in meiner Klasse mit ungefähr 30 Kindern gleich zwei Familien geben sollte, die Juden geholfen hatten. Im Rückblick würde ich sagen: Die Lehrerin hätte einen Weg finden müssen, die Erzählungen vorsichtig zu hinterfragen; aber das Gegenteil war der Fall: Beide Mädchen wurden für ihre Geschichten gelobt. Dass mit meiner Mitschülerin Ruth, meinem Freund Stefan und mir drei Kinder in der Klasse saßen, die einen ganz anderen Hintergrund hatten, hat niemand realisiert. Und als ich begriff, was damals passiert ist, war ich schon ziemlich erwachsen. Über viele Jahre ist diese Geschichte wie ein Stachel in mir stecken geblieben.
Sharon Adler: Bettina, welche Erinnerungen hast du an die Atmosphäre unter den Jüdinnen und Juden der DDR zu dieser Zeit in diesen Nachkriegsjahren? Vor dem Hintergrund, dass es vor allem Remigrant*innen, Rückkehrer*innen aus den
Bettina Leder: Zunächst: Die 1950er-Jahre waren tatsächlich noch Nachkriegszeit, der Krieg war überall noch spürbar. Zwar waren viele Ruinen schon abgeräumt, aber mitten in der Stadt waren riesige Brachen entstanden; die Häuser waren übersät von Einschusslöchern; unsere Lieblingsspielplätze waren halb gesprengte Bunker.
Wir lebten in dieser kaputten Stadt Berlin wie auf einer Insel, und wenn ich „wir“ sage, meine ich nicht nur meine Familie, sondern auch den Freundeskreis, der überwiegend aus Remigranten und Überlebenden aus den Lagern bestand. Die sowjetische Stadtkommandantur hatte meinem Vater, als er 1947 in die damalige SBZ kam, ein Haus am Stadtrand zugewiesen; es hatte zuvor einem Nazi gehört und war enteignet worden. Nicht weit entfernt waren zwei kleine Siedlungen entstanden, die die DDR-Regierung für die überlebenden Rückkehrer hatte bauen lassen. Da lebten zum Beispiel Kurt und Jeanne Stern,
Kurt und Jeanne waren Schriftsteller wie mein Vater, und sie drehten Filme; und ständig gab es Probleme mit Filmen oder Büchern: ein Film durfte nicht gezeigt werden, ein Manuskript nicht gedruckt werden. Ich lernte merkwürdige Worte, „dekadent“ zum Beispiel. Ich wusste nicht, was das Wort meint, aber ich wusste schon, dass es Menschen gab, die Bücher verbieten wollten, weil sie angeblich dekadent waren. Oder auch dem sozialistischen Realismus nicht entsprachen, der damals zum beherrschenden Begriff der Kunstdebatten in der DDR wurde. Die Arbeit und die Auseinandersetzung mit den engstirnigen ästhetischen Vorstellungen ihrer eigenen Genossen beherrschten die Gespräche, die zwischen meinem Vater und seinen Freunden geführt wurden. Ich konnte spüren, wie wichtig ihnen das war. Zu den ersten Liedern, die ich als Kind lernte, gehörte Brechts „Kinderhymne“: „Anmut sparet nicht noch Mühe, / Leidenschaft nicht noch Verstand, / daß ein gutes Deutschland blühe, / wie ein andres gutes Land.“ – Für mich war klar: Die Remigranten und Überlebenden waren es, die dieses gute Deutschland schaffen wollten.
Täter-Opfer-Umkehr und der Umgang mit jüdischen Überlebenden
Sharon Adler: Stella, der Untertitel deines Buchs lautet „Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte“. Wann und wodurch entstand dein Bewusstsein für (d)eine jüdische Identität? Und war sie ausschließlich durch die Erfahrungen deiner Mutter, die unter Überlebenden der Shoah gelebt hat, geprägt, oder waren darunter auch positiv konnotierte Erfahrungen zum Jüdischsein oder das Judentum betreffend?
„Erinnerungsabwehr und sekundären Antisemitismus gab es in beiden Gesellschaften, sie hatten aber auf Grund der sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen unterschiedliche Formen.“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
„Erinnerungsabwehr und sekundären Antisemitismus gab es in beiden Gesellschaften, sie hatten aber auf Grund der sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen unterschiedliche Formen.“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Stella Leder: Die Juden, die ich in meiner Kindheit zunächst kannte, waren entweder kommunistische Remigrant*innen oder sie waren ihre Kinder, ausnahmslos Intellektuelle und/oder Kulturschaffende. Es gab eine spezifische Kultur, die sie verband und die sie ausstrahlten, zu der auch gehörte, dass man sich intellektuell und persönlich nicht nur auf Deutschland bezog, denn so waren die Leben und Geschichten dieser Menschen nun einmal geprägt. Es gab dieses Monokulturelle nicht, das ich in anderen Familien wahrgenommen habe. Viele von ihnen waren mehrsprachig, die Politik und Kultur von Frankreich, Russland und weiteren Ländern waren ebenso Gesprächsthema wie deutsche Literatur oder Politik. Diese Kultur war sehr anziehend. Religiöses jüdisches Leben lernte ich erst nach und nach als Jugendliche kennen, als wir in einer Umgebung lebten, in der es eine Jüdische Gemeinde gab.
Meine Mutter hat einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter. Sie hat viel später, als ich erwachsen war, eine Statusklärung
Wenn ich als Jugendliche Konflikte mit meiner Mutter hatte und ich mich darüber bei ihrer jüdischen Freundin beklagte, sagte sie: „Ich verstehe Dich ja, aber sie ist eben eine jüdische Mamme, daran wirst Du nichts ändern!“ Gleichzeitig ermahnte mich meine Mutter, die Halacha nicht zu ignorieren und war der Auffassung, dass man die Regeln des Judentums nicht übergehen könne, wenn es einem wichtig sei. Da hatten wir also den Salat. Ein Bewusstsein für jüdische Identität habe ich unter anderem über den Versuch entwickelt, mich nicht zugehörig zu fühlen. Das funktionierte nicht; ich fühlte mich immer zugehörig, daran gab es keinen Zweifel, zu keinem Zeitpunkt. Als ich Jugendliche war, begann meine Mutter irgendwann, in die Synagoge zu gehen. Mit der Zeit kamen andere Dinge hinzu: Die Erfahrungen der Feiertage, Freundschaften. Das Gefühl von „zu Hause“ war immer irgendwie jüdisch. Gleichzeitig habe ich später einen Unterschied gemerkt zwischen mir und Freundinnen, die aus ähnlichen Konstellationen wie ich kamen, und die sich, ohne zu zweifeln, als jüdisch bezeichneten. Denn ich hatte zwar das Gefühl von Zugehörigkeit, aber zu meiner Erfahrung gehörte eben auch das Wissen, nicht dazu zu gehören. Das ist eine entscheidende Erfahrung.
Sharon Adler: Bettina, du bist 1977 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt, als Folge deines Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, dessen Vater, Jude und Kommunist, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gekämpft hat und in Auschwitz ermordet wurde. Du selbst hast Unterschriften gesammelt und Unterstützer*innen mobilisiert. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Bettina Leder: Als Wolf Biermann ausgebürgert wurde, war ich außer mir vor Zorn und Wut und Verzweiflung. Ich war damals schon kritisch, mich beschäftigte sehr die Frage, ob es noch eine Chance gibt, dass die DDR sich demokratisiert; aber so etwas hatte ich für vollkommen undenkbar gehalten.
Die Petition hatte eine Gruppe von Künstlern verfasst. Mein Vater, Christa und Gerhard Wolf, Erich Arendt, Stefan Heym, Volker Braun, Heiner Müller, Jurek Becker und andere wandten sich mit dem Text an die Regierung der DDR und baten, sie möge die Ausbürgerung Wolf Biermanns überdenken. Wir erfuhren davon aus den Nachrichten. Ich kann nicht mehr sagen, wer die Idee hatte, aber meine Freundin Sibylle Havemann und ich – und vielleicht auch noch andere Freunde, das weiß ich nicht mehr – fuhren mit dem Text der Petition zu Menschen, die wir kannten, und fragten, ob sie auch unterschreiben wollten. Und natürlich haben wir auch selbst unterschrieben. Und die Unterschriftenlisten an die Presse gegeben.
Dann kam bald das Gefühl, dass mein Leben sich in einer Weise verändert, die ich nicht leben will und nicht leben kann. Es kam sehr schnell dazu, dass ich rund um die Uhr überwacht wurde. Vor meiner Wohnungstür wurden Ausweise kontrolliert, Freunde wurden unter Druck gesetzt, den Kontakt zu mir abzubrechen, ich bekam keine Post mehr, die Wohnung wurde abgehört. Ging ich in die Uni, dann mit einem Schwarm von Stasileuten. Ein Jahr nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns habe ich die DDR verlassen und, wie man so schön sagt, neu angefangen.
Die Bahnfahrkarten, mit denen Bettina Leder 1977 gemeinsam mit ihrem Sohn über den Bahnhof Friedrichstraße nach Hamburg ausreiste. (© Bettina Leder)
Die Bahnfahrkarten, mit denen Bettina Leder 1977 gemeinsam mit ihrem Sohn über den Bahnhof Friedrichstraße nach Hamburg ausreiste. (© Bettina Leder)
Sharon Adler: Stella, du schreibst in deinem Buch von deiner Kindheit und Jugend in Berlin und in Bremen, der hessischen Provinz und in Frankfurt, und davon, dass du als Jüdin immer wieder von Nazis bedroht wurdest und von Erfahrungen mit einer Geschichtslehrerin, die schon in der DDR unterrichtet hatte. Was möchtest du über diese Zeit und konsequenterweise über die Bildung deines politischen Bewusstseins erzählen?
Stella Leder: Das Buch ist in erster Linie ein Buch über Antisemitismus und Erinnerungskultur in beiden deutschen Staaten, das ich entlang von persönlichen Geschichten erzähle. Mich hat als Jugendliche der Antisemitismus meiner Umgebung sehr stark beschäftigt, aber ich hatte keine Worte dafür. Ich hatte irgendwann in einem Schulbuch etwas über den Begriff Antisemitismus gelesen, aber die Definition war historisch angelegt, bezog sich primär auf christlichen Antisemitismus im Mittelalter und hörte mit dem Nationalsozialismus auf. Ich saß also oft in der Schule mit dem Gefühl, dass seltsame Dinge passierten, ich aber nicht verstand, was genau passierte.
Der Wendepunkt geschah, als Martin Walser die Paulskirchenrede hielt. Meine Lehrerin, die sich dezidiert als Linke verstand, sagte, Walser habe Recht mit dem, was er sage. Die folgende Debatte hat mich politisiert, ich fing an, jeden Tag Zeitung zu lesen und Nachrichten im Radio zu hören. Ein paar Jahre später machte ich eine Multiplikatorinnenausbildung in der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt, die damals Jugendliche und junge Erwachsene ausgebildete, die durch die Ausstellung führen sollten. Während meiner ersten Führung standen wir vor einer antisemitischen Karikatur, ein Schüler sagte, dass da aber doch was dran sei an der Karikatur, wenn man bedenke, was in Israel passiert. Die Lehrerin der Klasse nickte dazu. Ich habe die Bildungsstätte danach nicht mehr betreten, die nette Mitarbeiterin, die uns betreute, hinterließ eine Nachricht nach der anderen auf meinem Anrufbeantworter, die ich nicht beantwortete. Es hat lange gedauert, bis ich diese Erfahrungen verstanden habe. Mit Mitte 20 machte ich ein Praktikum in der Amadeu Antonio Stiftung, die später mein Arbeitgeber wurde. Die Stiftung war der erste Ort, an dem ich mich nicht wie ein seltsamer Mensch gefühlt habe.
Jüdischer Widerstand und Resilienz (vom 20. Jahrhundert bis heute)
Sharon Adler: Stella, du arbeitest für verschiedene NGOs in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus-Prävention und bist Mitgründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik.
Stella Leder: Erinnerungsabwehr und sekundären Antisemitismus gab es in beiden Gesellschaften, sie hatten aber aufgrund der sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen auch unterschiedliche Formen. Das prägt bis heute. Leider ist das Wissen über Antisemitismus und die Erinnerungskultur der DDR nur unter einigen wenigen Expert*innen bekannt, und wenn wir heute über die Erinnerungskultur sprechen, meinen wir eigentlich die westdeutsche Erinnerungskultur. Das bedeutet auch, dass selbstkritische Auseinandersetzungen, wie es sie auf Westdeutschland bezogen gibt, kaum existieren. Viele Menschen sind heute in Ostdeutschland felsenfest davon überzeugt, dass es keinen Antisemitismus in der DDR gegeben habe, sondern dieser aus Westdeutschland stamme. Mit diesem Argument wehren sie die Thematisierung von Antisemitismus als Problem der anderen ab.
Es braucht hier sehr genaue Auseinandersetzungen, die anerkennen, dass es in der DDR, insbesondere im Vergleich zur BRD, früh Literatur und Filme gab, die den Nationalsozialismus thematisierten. Und die gleichzeitig benennen, dass die Mehrheit der Bürger*innen in der DDR sich schnell einbildeten, sie hätten keine Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen, weil sie in einem antifaschistischen Staat lebten. Diese Imagination ist bis heute wirkmächtig und erschwert die Arbeit zu aktuellem Antisemitismus in der Praxis. Antisemitische Verfolgung in der DDR bleibt eine Fehlstelle in den Auseinandersetzungen. Es hat in der DDR in den 1950er-Jahren zum Beispiel antisemitische Schauprozesse gegeben. Auch der staatliche Antizionismus in der DDR müsste thematisiert werden. Wenn Menschen sagen, antizionistische Positionen seien in Deutschland gesellschaftlich schon immer tabuisiert worden, spricht das einerseits für eine verzerrte Wahrnehmung der Gegenwart, es ist aber auch schlichtweg historisch falsch. Vielleicht würde die Wahrnehmung der Gegenwart genauer werden, wenn es eine breitere Auseinandersetzung mit der Geschichte geben würde, zu der eben auch die Geschichte des Antizionismus gehören müsste.
Sharon Adler: Stella, zu deinen Arbeiten der letzten Jahre gehören auch eine Ausstellung und Comics zur Hachschara-Bewegung, „Chawerim. Jüdische Selbsthilfe, Widerstand und die Hachschara-Bewegung“.
Stella Leder: Als Hachscharot werden Einrichtungen bezeichnet, in denen sich Jüdinnen und Juden auf die Einwanderung nach Palästina vorbereiteten. Während der Zeit, in der Palästina britisches Mandatsgebiet war, brauchte man ein spezielles Zertifikat, für das meistens handwerkliche, hauswirtschaftliche oder landwirtschaftliche Fähigkeiten nachgewiesen werden mussten. Diese Fähigkeiten wurden in den Hachscharot vermittelt – neben jüdischer Geschichte und Hebräischkenntnissen. Ab der Machtübernahme der Nazis wuchs die zunächst kleine Bewegung und rettete in den folgenden Jahren vielen Tausenden Menschen das Leben. Ihr organisatorisches Zentrum für Deutschland lag in Berlin, die meisten Hachscharot lagen in Brandenburg, aber auch in anderen Regionen des Deutschen Reichs. Es gab eine Ausdifferenzierung, zum Beispiel gab es eine Hachschara auf einem Schiff in Hamburg.
In der Mittleren Hachschara wurden jüdische Jugendliche ausgebildet, als sich ihnen die öffentlichen Schulen nach und nach verschlossen. Mit der Zeit wurden die Hachscharot von den Nazis in Zwangsarbeitslager umgewandelt, ab 1941 müssen alle diese Lager als Zwangsarbeitslager angesehen werden, auch wenn es eine gewisse interne Selbstorganisation gab. 1943 wurden die letzten Jüdinnen und Juden aus einem ehemaligen Hachschara-Lager in Brandenburg nach Auschwitz deportiert. Einige von denen, die überlebten, fanden 1945 wieder zusammen und setzten ihre Arbeit bis zur Staatsgründung Israels fort, halfen von Hessen aus die Alija Bet zu organisieren und wurden dabei von den Amerikanern unterstützt.
Sharon Adler: Stella, seit wann beschäftigst du dich mit der Geschichte der Hachschara-Bewegung und warum war es dir wichtig, dazu zu forschen? Und welchen familienbiographischen Bezug hast du zur Hachschara-Bewegung?
Stella Leder: Dafür gibt es mehrere Gründe. Es gibt fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema, aber zivilgesellschaftlich und erinnerungskulturell ist die Geschichte der Hachschara geradezu unbekannt. Dabei ist sie in jeder Hinsicht interessant, sie ist eine Geschichte jüdischer Widerständigkeit und Selbstorganisierung, eine in vielen Bereichen progressive Bewegung. Zum Beispiel wurden die Hachscharot immer von einer Frau und einem Mann geleitet. Wir forschen übrigens sozusagen nebenbei, eigentlich machen wir praktische Arbeit wie die Comics oder die Ausstellung dazu, die Du ja eben schon erwähnt hast. Also: Wir produzieren in einem sehr kleinen Rahmen Erinnerungskultur.
Ich hatte schon längere Zeit zu Antisemitismus gearbeitet, als ich begann, mich mit der Hachschara zu beschäftigen. Ich war etwas müde geworden von der fortwährenden Dekonstruktion von israelbezogenem Antisemitismus und war interessiert daran, ein anderes Narrativ zu finden, mit dem wir arbeiten können. Wer sich mit der Hachschara beschäftigt, kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass das eine progressive, emanzipatorische Bewegung war und dass der Zionismus vielen Menschen das Leben gerettet hat. Wir haben im Institut für Neue Soziale Plastik 2015 begonnen, uns damit zu beschäftigen. Seitdem haben wir nicht eine einzige Veranstaltung zum Thema gemacht, nach der wir nicht vehement verbal angegriffen worden sind. Diese Arbeit wird anscheinend als Provokation empfunden.
Zur Geschichte der Hachschara gehört die Geschichte von jüdischen Pädagoginnen und Pädagogen, die im Nationalsozialismus sehr wahrscheinlich die Möglichkeit gehabt hätten, die Papiere für die Ausreise zusammenzubekommen – und ich spreche hier vom Jahr 1941! –, die aber bewusst den Entschluss fassten, bei den Kindern zu bleiben. Manche von ihnen, darunter Sonja Okun, Alfred Selbiger und Lotte Kaiser, sind ermordet worden, andere wie Anneliese Ora-Borinski, Arthur Posnanski und Herbert Growald haben die Vernichtungslager überlebt. Diese Menschen haben den Kindern, so gut es ging, ein Zuhause gegeben und vielen von ihnen das Leben gerettet. Bis heute bleibt ihnen die öffentliche Anerkennung verwehrt. Warum gibt es in Berlin kein Museum zu diesem Thema? Nach keiner einzigen von diesen Personen ist heute ein Platz oder eine Straße in der Stadt benannt.
Provenienzforschung
Sharon Adler: Bettina, deine Großeltern kamen als Kinder Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Österreich und Rumänien nach Chemnitz, sie heirateten 1914 und übersiedelten kurz nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Du hast zu ihrem Leben und Überleben recherchiert und auch zum Aufbau ihrer Kunstsammlung. Wie haben sie ihre Auswanderung in den 1930er-Jahren vorbereitet?
Bettina Leder: Meine Großmutter hat ihre beiden jüngeren Kinder, meinen Onkel Alfred und meine Tante Ruth, schon 1933 auf Hachschara geschickt; beide konnten mit Hilfe der Jugend-Alijah zu Beginn des Jahres 1934 nach Palästina einwandern. Mein Vater folgte dann zu Beginn des Jahres 1936 zusammen mit seiner Frau Juliette.
Meine Tante war bei ihrer Einwanderung erst 14 Jahre alt, mein Onkel 15. Insbesondere für Ruth war das keine einfache Zeit, sie ist krank geworden. Meine Großmutter ist mehrere Male nach Palästina gefahren, um sich um die Kinder zu kümmern, und auch Henrietta Szold
Die Entscheidung, dass auch die Großeltern auswandern würden, fiel nach den Novemberpogromen. Mein Großvater war für sechs Wochen im KZ Sachsenhausen, meine Großmutter hat ihn dort freigekauft – mit einem Gemälde von Lovis Corinth; und dann musste es sehr schnell gehen. Es war das übliche Prozedere: Um auswandern zu können, brauchten meine Großeltern die sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes; um diese zu erhalten, mussten sie nachweisen, dass sie die Reichsfluchtsteuer und die sogenannte Judenvermögensabgabe bezahlt hatten; sie mussten nachweisen, dass sie ihren Schmuck abgeliefert hatten und ihr gesamtes Umzugsgut – jedes einzelne Buch, jeden Kaffeelöffel, jeden Strumpf, jedes Bild – in Listen samt Anschaffungsdatum und Preis notieren, woraufhin für alles, was nach 1933 angeschafft worden war, die „Dego-Abgabe“ fällig wurde.
Dann kam der Zoll, um nach der Freigabe des Umzugsgutes durch das Finanzamt beim Verpacken zuzuschauen, damit nichts mitgenommen wurde, was vom Finanzamt nicht genehmigt worden war. Schließlich wurden die Umzugscontainer, die sogenannten Lifts, zur Spedition Brasch gebracht, die zu dieser Zeit schon den neuen, „arischen“ Inhaber im Namen trug: Harry W. Hamacher hatte die Firma 1936 in Besitz genommen. Die Lifts wurden für die spätere Lieferung nach Großbritannien eingelagert. Es lag nahe, nach Großbritannien zu gehen, dort lebte Familie; aber wie? Meine Großeltern besaßen nun zwar alle für die Auswanderung notwendigen Papiere, hatten aber keine Einreisegenehmigung. Es scheint, als hätten sie im letzten Moment noch versucht, eine Genehmigung für die USA zu bekommen und die Gestapo gebeten, man möge die gesetzte Frist verlängern. Aber statt der Verlängerung kam die Drohung, beide würden verhaftet werden, wenn sie nicht ausreisten. Sie verließen Berlin Anfang Juli 1939. Irgendwie haben sie es doch geschafft, nach Großbritannien einzuwandern – wie, das weiß ich bis heute nicht.
Karteikarte Lola Leders aus den Akten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg. Die zugehörige Finanzamtsakte, die auch die Liste des Umzugsgutes von Lola und David Leder enthielt, wurde nach dem Krieg als fehlend verzeichnet, der Zwangsname Sara gestrichen. (© Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Kartei)
Karteikarte Lola Leders aus den Akten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg. Die zugehörige Finanzamtsakte, die auch die Liste des Umzugsgutes von Lola und David Leder enthielt, wurde nach dem Krieg als fehlend verzeichnet, der Zwangsname Sara gestrichen. (© Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Kartei)
Sharon Adler: Bettina, du engagierst dich ehrenamtlich als Beirätin in der Stiftung ZURÜCKGEBEN, hast die Ausstellung „Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden 1933 bis 1945“ kuratiert und zum Thema publiziert.
Liste mit Überweisungen aus den Akten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg. Die nach jahrelanger Suche im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufgefundene Liste bezieht sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf Verkäufe aus dem Umzugsgut der Familie Leder, das - so die Einlassung des Antragsgegners im Wiedergutmachungsverfahren Lola Leders - angeblich bei einem Bombenangriff vernichtet worden war. In der ersten Spalte sind die Namen der Überweisenden, also der mutmaßlichen Erwerber, verzeichnet, darunter der Oberfinanzpräsident. (© Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Vermögensübersicht)
Liste mit Überweisungen aus den Akten der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg. Die nach jahrelanger Suche im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufgefundene Liste bezieht sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf Verkäufe aus dem Umzugsgut der Familie Leder, das - so die Einlassung des Antragsgegners im Wiedergutmachungsverfahren Lola Leders - angeblich bei einem Bombenangriff vernichtet worden war. In der ersten Spalte sind die Namen der Überweisenden, also der mutmaßlichen Erwerber, verzeichnet, darunter der Oberfinanzpräsident. (© Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Vermögensübersicht)
Bettina Leder: In der Ausstellung ging es um die ab 1933 erlassenen Gesetze und Verordnungen, die auf die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung zielten – zum Nutzen und Vorteil des „Reiches“ und der Volksgenossen. Umgesetzt wurden diese Maßnahmen von den Finanzämtern – oft in Zusammenarbeit mit Stadtverwaltungen, Grundbuchämtern, mit der Post, dem Zoll, der Polizei, Transportunternehmen, der Gestapo. Die Finanzämter waren unter anderem zuständig für die Erteilung der schon erwähnten Unbedenklichkeitsbescheinigung, ohne die niemand auswandern konnte; die Errechnung und Einziehung der Judenvermögensabgabe; die „Sicherung“ von Häusern und Privatkonten für eine später eventuell zu leistende Reichsfluchtsteuer; schließlich für die „Erfassung und Verwertung“ des in den Wohnungen der Deportierten zurück gebliebenen Hausrats. Das war das letzte, was die, die auf ihre Deportation warteten, taten: Sie füllten die Bögen für die „Vermögenserfassung“ aus; diese Bögen gehören für mich zu den furchtbarsten Zeugnissen, die ich kenne. Sie erzählen von einem grauenhaften Prozess der Entindividualisierung. Egal, wer und was man 1933 oder noch 1935 gewesen war, angesehener Wissenschaftler oder Arbeiter: Als sie die Bögen ausfüllten, waren sie alle nur noch eins – bitterarm.
Die Ausstellung beschäftigte sich einerseits mit dem Handeln ganz normaler Beamter der Finanzbehörden und zeichnete andererseits Biografien und Familiengeschichten von Opfern der Ausplünderung nach. Wir haben sie in den 16 Jahren ihres Bestehens in 30 Städten und auch in sehr kleinen Orten gezeigt; und an jedem Ort in den jeweils zuständigen Archiven neu zu forschen begonnen und uns über die Presse mit einem Aufruf an die Bevölkerung gewandt: Gibt es Familien, in denen Geschichten der Ausplünderung überliefert sind? Gibt es Gegenstände, die auf öffentlichen Auktionen von „Judengut“ erworben wurden? Auf dieser Basis haben wir für jede Ausstellungsstation einen neuen regionalen Schwerpunkt geschaffen und ungefähr 150 Lebensläufe und Familienbiografien von Menschen aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Berlin rekonstruiert. Die Akten der NS-Finanzverwaltung enthalten nicht nur unendlich viele biografische Details; sie enthalten auch die letzten Lebensspuren der Deportierten: Eben die sogenannten Vermögenslisten. Dazu lassen sich dann oft auch die Listen der Versteigerungen finden, auf denen ihre Habseligkeiten auktioniert wurden; sie enthalten auch die Namen der Erwerber. Und Briefe von Menschen, die sich an die Finanzämter wenden, weil sie sich für den Nachlass ihrer Nachbarn interessieren.
Was die Recherchen zu meiner eigenen Familie betrifft: Als ich vor 25 Jahren damit begonnen habe, ging es zunächst überhaupt nicht um die Kunstsammlung; ich wollte mehr über meine Großeltern, aber auch über meine Tante, meinen Onkel und meinen Vater wissen. Ich habe damals unterschätzt, was das bedeutet und bin sehr froh, dass seit über zwanzig Jahren die Historikerin Beate Schreiber von Facts & Files an meiner Seite ist, die den klaren Blick behält, wenn ich ihn verliere. Ohne sie hätte ich das nicht machen können.
Dass die Familie eine Kunstsammlung besessen hatte, gehörte zu den wenigen Dingen, die ich seit meiner Kindheit wusste; aber ich wusste nichts Genaues. Ungefähr 2003 wurde klar, dass diese Sammlung in gewisser Weise noch einmal ein Sonderthema ist. Wir hatten die Wiedergutmachungsakten gelesen und ich begriff, dass sich in den Lifts, die meine Großeltern für die Auswanderung nach Großbritannien gepackt hatten, auch 20 gerahmte Gemälde und Zeichnungen sowie sechs Mappen mit Originalzeichnungen aus der Sammlung befunden hatten; und dass die Lifts nie in Großbritannien angekommen waren. Meine Großmutter ist kurz nach dem Krieg nach Berlin gekommen, um nach ihnen zu suchen und hat sie nicht gefunden; aber einen Beleg für ihren letzten Aufenthaltsort. Das war ein Lager der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten am heutigen Fraenkelufer; wie es scheint, war dieses Lager in der Synagoge untergebracht, das recherchieren wir gerade genau. Die Lifts waren im Januar 1942 im Lager der Spedition von der Gestapo beschlagnahmt und am 23. März 1944 an den Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg ausgeliefert worden. Im Wiedergutmachungsverfahren wurde dann behauptet, sie wären im Lager der Vermögensverwertungsstelle bei einem Bombenangriff vernichtet worden; doch der Bombenangriff hatte stattgefunden, bevor die Lifts ans Fraenkelufer geliefert worden waren. Daher mussten wir annehmen, dass der Inhalt verkauft oder versteigert worden ist, vermutlich in Berlin. Erst kürzlich hat Beate Schreiber im Brandenburgischen Landeshauptarchiv eine Liste mit den Namen von Personen gefunden, die für Erwerbungen aus dem Umzugsgut meiner Großeltern Überweisungen getätigt haben – vermutlich also selbst die Erwerber waren.
Ungefähr 2005 waren wir zum ersten Mal so weit, dass wir eine Vorstellung davon hatten, was genau zu tun wäre, um die Sammlungsgeschichte zu rekonstruieren – und es war klar, dass es viel Geld kosten würde. Wir hatten Ideen für die Finanzierung, die aber leider gescheitert sind. 2018 hat dann die Stiftung Kulturgutverluste, die bis dahin bereits Provenienzforschungen in Museen finanziert hatte, sich auch für Anträge von Privatpersonen geöffnet. Wir haben einen Antrag gestellt, der bewilligt worden ist und haben nun die finanziellen Mittel, die Recherchen fortzuführen.
Sharon Adler: Bettina, seit einigen Jahren richten Kulturinstitutionen den Blick verstärkt auf mögliche Provenienzen in ihren Sammlungen, darunter die Berlinische Galerie oder das Badische Landesmuseum.
Bettina Leder: Dass wir heute über die enteignete, entzogene und geraubte Kunst so sprechen, wie wir darüber sprechen – in der Regel ohne Ressentiments, in Anerkennung der Tatsachen und mit Offenheit – ist im Grunde der Washingtoner Erklärung von 1998, der sich Deutschland angeschlossen hat, zu verdanken. Die Unterzeichner verpflichteten sich damals, verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu identifizieren und mit den einstigen Eigentümerinnen und Eigentümern oder ihren rechtmäßigen Erbinnen und Erben faire und gerechte Lösungen zu finden.
In den Folgejahren setzte – zunächst zögerlich – eine systematische Provenienzforschung neu ein. Und hatte viele Gegner. Es gab zum Beispiel die Meinung, dass man sich ausreichend mit dem Thema beschäftigt habe und dass dieses Kapitel längst abgeschlossen sei; Unwilligkeit. Und es gab antisemitische Wortmeldungen. So glaubte die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch 2007 anlässlich der Rückgabe eines Kirchner-Gemäldes an die Erbin der Familie Hess einen Artikel mit der Überschrift „Man sagt Holocaust und man meint Geld“ veröffentlichen zu müssen und gab damit sicher die Meinung vieler wieder. Jedenfalls habe ich im Rahmen meiner Arbeit diese und ähnliche „Meinungen“ öfter gehört.
Ich bin sicher, dass die Ressentiments nicht verschwunden sind; Vorurteile aufzulösen, ist nicht einfach. Und doch ist die Lage heute eine ganz andere. Es gibt das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste, das in den vergangenen gut 20 Jahren unzählige Forschungsprojekte gefördert hat und für Vernetzung sorgt. In den beginnenden 2000er Jahren kannte ich Kunsthistoriker, die glaubten, die NS-Geschichte sei etwas, das mit ihrem Fach nichts zu tun habe. Heute werden in vielen kunsthistorischen Studiengängen Kurse oder Module zur Provenienzforschung angeboten und in Museen arbeiten Menschen, die wissen, dass zur Kunstgeschichte eben auch die Geschichte der Kunstwerke, der Besitzerwechsel, die Geschichten von Raub, Entziehung, Enteignung und Plünderung gehören. Viele große Häuser haben in den vergangenen Jahren mit Engagement systematische Provenienzforschung betrieben oder sind zurzeit damit beschäftigt, auch Bibliotheken. Als wir 2018 die „Raub“-Ausstellung zum letzten Mal in Frankfurt am Main gezeigt haben, beteiligten sich fast alle Museen der Stadt mit eigenen Präsentationen zum Thema. Das war eine bewegende Erfahrung. Das bedeutet nicht, dass nichts mehr zu tun wäre. Aber das Klima, das Bewusstsein, die Arbeitsmöglichkeiten, die finanzielle Situation, der Rückhalt für die Forschung haben sich verändert.
Die Öffnung der innerdeutschen Grenzen aus jüdischer Perspektive
Das Foto von Bettina und Stella Leder wurde 1995 bei der Feier zum 80. Geburtstag von Stephan Hermlin, eigentlich Rudolf Leder, dem Vater von Bettina Leder und Großvater von Stella Leder, in der Wohnung von Klaus Wagenbach aufgenommen. (© Christian Hindemith)
Das Foto von Bettina und Stella Leder wurde 1995 bei der Feier zum 80. Geburtstag von Stephan Hermlin, eigentlich Rudolf Leder, dem Vater von Bettina Leder und Großvater von Stella Leder, in der Wohnung von Klaus Wagenbach aufgenommen. (© Christian Hindemith)
Sharon Adler: Wie habt ihr den Fall der Mauer erlebt? Welche Erinnerungen habt ihr an eure Gefühle, Befürchtungen und Hoffnungen der Jahre 1989/1990 anlässlich der Zeit der politischen „Wende"?
Bettina Leder: Ich hatte sehr gemischte Gefühle. Für ein paar kurze Stunden dachte ich damals: Jetzt gehe ich zurück. Eine Riesenfreude überschwemmte mich. Ich dachte: Jetzt bauen wir einen demokratischen Sozialismus auf. Tatsächlich hatte ich für ein paar Stunden noch einmal diese wahnsinnige Hoffnung.
Am nächsten Morgen sah ich nüchtern und mit Skepsis und auch mit Angst in die Welt. Ich fürchtete den Einheitstaumel. Und ich fürchtete, die Rechten könnten stärker werden. Als Ignaz Bubis 1992 in Rostock zutiefst schockiert vor dem Sonnenblumenhaus stand und ein lokaler CDU-Politiker befand, dass Bubis hier nichts zu suchen habe, weil seine Heimat doch Israel sei – das war ein schrecklicher Moment, den ich nie vergessen werde.
Stella Leder: Ich war ein Kind, wir lebten zu diesem Zeitpunkt in Bremen, die Eltern meiner westdeutschen Freunde ließen die Sektkorken knallen und freuten sich für die Leute in der DDR. Ich fand es interessant, dass Leute um uns herum über die Bürger*innen der DDR sprachen, als hätten sie eigentlich kein richtiges Leben. Die Mutter einer Freundin fuhr irgendwann in dieser Zeit in die DDR und sagte danach halb ironisch, halb ernst, sie sei ganz überrascht gewesen, dass die Sonne geschienen habe und der Himmel blau gewesen sei, weil sie sich die DDR immer grau-in-grau vorgestellt habe. Meine ostdeutsche Mutter fand in diesen Situationen auffällig oft einen Anlass, den Raum zu verlassen. Ich habe wahrgenommen, dass sie in den Gesprächen nichts sagte, sie hatte gar keine Anknüpfungspunkte. Zu Hause murmelte sie, als ich sie nach der Bedeutung des Mauerfalls fragte: „Ich weiß nicht, was die Deutschen damit machen.“ Der Nationalismus der Zeit war unerträglich. Im Zentrum meiner Erinnerung an diese Jahre steht die Angst vor der brachialen rechtsextremen Gewalt und das Entsetzen über die Toten.