Wie ist mit dem eigentlich Unbegreiflichen umzugehen? Was anfangs vielen surreal erschien, ist nunmehr seit über sieben Monaten bittere Realität: Russlands Angriffskrieg in Europa gegen die Ukraine. Auch für den ukrainischen, russischsprachigen Archäologen Maxim Levada aus Kyiv war zunächst unvorstellbar, was am 24. Februar 2022 geschah und er begann das Geschehen in langen Interner Link: Tagebucheinträgen zu verarbeiten. Er kommentiert seitdem den russischen Überfall auf die Ukraine mit einer losen, aber stetigen Folge ausführlicher Facebook-Einträge. Arbeitskollegen aus Deutschland und Polen, darunter der Landesarchäologe von Schleswig-Holstein, Ulf Ickerodt in Schleswig, sammelten seine Beiträge aus diesem eigentlich flüchtigen Medium und ließen sie sorgfältig übersetzen.
Levada schrieb und schreibt sie, um das Unbegreifliche überhaupt irgendwie zu verstehen. Jede Zeile seines Tagebuchs gleicht einer Anklage. Eine Anklage gegen das übergroße Verbrechen, das keiner Rechtfertigung standhält und von Russland gegen die Ukraine begangen wird und offenbar kein Ende nimmt. Beklagt werden nicht nur zerbombte Städte und Dörfer. Beklagt werden auch die abertausend Leben, deren Existenz urplötzlich durcheinandergewirbelt, geschändet oder auf brutale Weise einfach genommen wurde. Geschildert werden Trauer und Wut, aber auch der Mut sich zu wehren und Schützenswertes zu bewahren. Beklagt wird auch die Angst Leben, Hab und Gut zu verlieren und die Not flüchten zu müssen, aber auch die Sorge vor zerstörtem und geplündertem Kulturgut in ukrainischen Gedenkstätten und Museen. Nicht zuletzt befasst sich Levada mit den vielen traumatisierten Kinderseelen.
Dass dieses Tagebuch auch ins Deutsche übersetzt wird, hat seine, nicht zuletzt auch historischen, Gründe. Wer, wenn nicht wir Deutsche, können und müssen angesichts größenwahnsinniger, imperialer Allmachtansprüche, gezielter Tötungen von Zivilisten, weitgehend zerstörter Städte und angesichts einer geplanten, von Wladimir Putin schließlich im Vorfeld sogar begründeten Vertreibung und Auslöschung der Bevölkerung eines friedlichen Nachbarstaates die Stimme erheben?
Der Kremlmachthaber sprach bereits im Juli 2021 mit überdeutlichem Ausdruck seines imperialen Nationalismus in dem berühmt-berüchtigten Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ dem Land das Recht auf Eigenständigkeit und den Ukrainern das Existenzrecht als zusammenwachsendes Staatsvolk ab. Putin unterstellt eine „historische Einheit“ von Russen, Weißrussen und Ukrainern. Er redete in Bezug auf die Ukraine von „unseren historischen Territorien“. Weiterhin behauptet er, dass Hundertausende russischstämmige Ukrainer vor Verfolgung und Zwangsassimilierung in dem Land, das ihre Heimat ist, zu schützen und zu befreien seien. Der Archäologe Maxim Levada wäre einer der zu Befreienden, aber Levada distanziert sich von seinem "russischen Erbe".
Putins Feindbild-Narrativ
Auch im Westen hätte man es wissen können und müssen: Hier wurde ein Krieg vorbereitet und vorbereitend legitimiert. Dieses ideologisch fundamentierte Narrativ mündete schließlich in der Behauptung der vom Westen gesteuerten „Nazis“ in der ukrainischen Führung, die das ukrainische Volk mit den Russen entzweien wollen. Da man sich in Russland als die „Faschistenbekämpfer“ schlechthin sieht und diese Tradition gewissenhaft pflegt, wähnte sich Putins Propagandastab mit der Diffamierung der ukrainischen Regierung als Nazis automatisch auf der historisch richtigen, der „guten“ Seite. Levada aber möchte gar nicht befreit werden. Demokratische Grundwerte, die er in der Ukraine wachsen sieht, sind ihm lieber als staatlich gesteuerte Desinformation als allbekanntem Werkzeug totalitärer Regime.
So, wie pseudohistorisch argumentiert und Begründungen für den Angriff auf ein souveränes Land einfach nur erfunden wurden, wird auch nach der Invasion verleumdet und werden Desinformationen verbreitet. Als Täter für die Angriffe auf Zivilisten werden von Außenminister Sergej Lawrow und anderen russischen Verantwortlichen die Angegriffenen, die Ukrainer selbst, verantwortlich gemacht. Dieser Zynismus unterscheidet sich in nichts von vergleichbaren Vorgehensweisen, die von Deutschland im Dritten Reich genutzt wurden. Ein Fachkollege von uns sagte es treffend: Die Sprache der Lüge ist zur Zeit Russisch. Auch Anna Externer Link: Schor-Tschudnowskaja aus Wien und Joachim Externer Link: Jauer haben das im Deutschlandarchiv treffend analysiert.
Eine folgenreiche Schuld
So wie die Deutschen mit der Schuld des Zweiten Weltkriegs leben müssen, werden es die Russen mit den Verbrechen des Jahres 2022 tun müssen. Die Gräueltaten von Butscha, Busowa, Kramatorsk, Mariupol werden in der Staatengemeinschaft für immer in Stein gemeißelte Male der russischen Schande und kommen hoffentlich vor Gericht. Die Täter und ihre Helfer wissen am besten, was sie zu verantworten haben. Die Unterstützung für Putins Kurs im eigenen Land, aber auch durch die im Ausland lebenden Russen ist bedrückend groß. Das sei nicht vergessen. Eine reiche russische Influencerin, die in den ersten Kriegstagen ihre (zwanzigste?) Chanel-Tasche aus Protest vor angeblicher Diskriminierung der Russen vor laufender Kamera zerschnitt, ist ein tragisch-komischer Beleg dafür.
Dieses und vergleichbares könnte der britische Schriftsteller George Orwell (1903-1950) in seinem Buch 1984 gemeint haben, als er schrieb, dass die Menschen eines Landes die Berührung mit der Vergangenheit benötigen. Würden sie hiervon abgeschnitten, dann hätten sie, gleich den Menschen im interplanetarischen Raum, keinen Anhaltspunkt, in welcher Richtung oben und unten sei. Die naiv-berechnende russische Influencerin spiegelt dies und bildet einen harschen Kontrast zur inzwischen inhaftierten russischen Journalistin Marina Owsjannikowa, die sich vor laufender Kamera mit einem Protestplakat von der russischen Regierung distanzierte.
Vor diesem Hintergrund ist dieses Interner Link: Tagebuch ein historisches Dokument. Es ist subjektiv, natürlich. Das muss auch so sein, denn in dieser Subjektivität liegt auch seine große Kraft. Wir dokumentieren die Einträge des ersten Kriegsmonats. Das Buch endet mit der Rückeroberung der Region um Kyiv. Mariupol als ukrainische Stadt gibt es dagegen nicht mehr und leider gibt es zahlreiche russische Bekundungen, dass dieser Eroberungskrieg damit noch lange nicht zu Ende ist. Maxim Levada schreibt weiter.
Uns ist es wichtig, eine Auswahl seiner Kommentare als PDF zum ersten Kriegsabschnitt zu veröffentlichen, damit wir, die wir scheinbar noch so weit von diesem Krieg entfernt sind, deren Leben scheinbar unberührt weitergeht (außer dass die Sprit-, Heiz- und Lebenshaltungskosten steigen) zumindest in Gedanken bei unseren europäischen MitbürgerInnen in der Ukraine sein können, die nichts anderes als Mitmenschen sind und sich nach nichts mehr sehnen (wie übrigens viele Russen auch), als endlich wieder Frieden und Wiedergutmachung. Aber einfach wird das angesichts der Opfer, Schäden Traumata und Narben, die die ersten fünf Kriegsmonate seit dem 24. Februar hinterlassen haben, gewiss nicht und möglicherweise müssen wir damit rechnen, dass 33 Jahre nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang in Europa zwischen Russland und der Ukraine bald eine neue Mauer wächst.
Ulf Ickerodt und Jan Schuster
Dr. Ulf Ickerodt ist Landesarchäologe von Schleswig-Holstein, Prof. Dr. Jan Schuster Detektorarchäologe in Łódź.
Zitierweise: Maxim Levada, Ulf Ickerodt, Jan Schuster, "Sechs Monate Krieg - Ein Tagebuch des Unbegreiflichen“, in: Deutschland Archiv, 24.08.2022, Link: www.bpb.de/510982. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Zu weiteren Texten in der Rubrik Externer Link: "Zeitenwende? Stimmen zum Ukrainekrieg und seinen Folgen". Darunter sind:
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow: Externer Link: "Sie haben die Zukunft zerbrochen", Deutschland Archiv 30.4.2021
Uwe Hassbecker: Externer Link: "Putin meint uns", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolfgang Templin, Externer Link: "Wurzeln einer unabhängigen Ukraine", Deutschland Archiv vom 23.3.2022
Gerd Koenen, Externer Link: "Die russische Tragödie, die auch die unsere ist", Deutschland Archiv 26.3.2022
Cedric Rehman, "Externer Link: Vertreibung ist auch eine Waffe", Deutschland Archiv 27.3.2022
Eva Corino, "Externer Link: Mehr Willkommenklassen!", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolf Biermann, Externer Link: Am ersten Tag des Dritten Weltkriegs, Deutschland Archiv vom 25.2.2022
Ekkehard Maas, Externer Link: Russlands Rückfall in finsterste Zeiten, Deutschland Archiv vom 28.2.2022
Wladimir Kaminer, Externer Link: "Putin verursacht nur Scheiße", Deutschland Archiv vom 2.3.2022
Jörg Baberowski, Externer Link: Das Verhängnis des Imperiums in den Köpfen, Deutschland Archiv 3.3.2022
Tobias Debiel, Externer Link: Kalter und heißer Krieg. Wie beenden? Deutschland Archiv 4.3.2022
Joachim Jauer, Externer Link: "Ihr Völker der Welt", Deutschland Archiv 5.3.2022