Im Widerstand – überleben
Ella und Martin Deutschkron waren überzeugte Sozialdemokraten. Deshalb wurde in der Familie Deutschkron viel und offen über Politik gesprochen. Inge Deutschkron hat bereits als Kind eine Menge über Politik gewusst und sogar an den Demonstrationen der Kommunisten und Sozialdemokraten gegen die Nationalsozialisten und deren sogenannte Machtergreifung teilgenommen.
Wenige Jahre später musste ihr Vater, Martin Deutschkron, nach England fliehen, um sein Leben zu retten. Weil kurze Zeit darauf der Angriffskrieg der Nationalsozialisten begann, konnten Mutter und Tochter nicht folgen. Sie erlitten Zwangsarbeit und Diskriminierung, der Deportation entzogen sie sich durch ein Leben im Untergrund. Freunde und Mitmenschen – einfache Handwerker, Rentnerinnen – ermöglichten Mutter und Tochter, zwei Jahre in Verstecken zu überleben. Anders als Anne Frank entgingen Inge und Ella Deutschkron dem Verrat. Aber nur rund 1.700 von zuvor etwa 200.000 Berlinerinnen und Berlinern mit jüdischem Hintergrund überlebten. In ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“
Ich traf Inge Deutschkron im Februar 1989 erstmals in ihrer damaligen Wohnung
Inge Deutschkron: Nun, ich bin nicht jeden Abend da. Ich bin an den Abenden da, wo ich Menschen drin weiß, also Publikum, das mir nahesteht, irgendwie. Also zum Beispiel Leute, die mir geholfen haben, die gibt es ja immer noch. Und da bin ich dann dabei, weil ich auch finde, es ist für sie nicht so ganz leicht, manchmal ihre eigene Rolle plötzlich auf der Bühne zu sehen. Und das ist einer der Gründe. Der andere ist: Es interessiert mich natürlich auch sehr die Reaktion, zum Beispiel der jungen Menschen. Wir hatten schon einmal eine Schülervorstellung, und da war ich nun doch sehr gespannt, wie die Schüler auf dieses Stück reagieren.
David Dambitsch: Wie haben die Schülerinnen und Schüler auf das Stück reagiert? Waren ihre Reaktionen andere als die der Erwachsenen?
Inge Deutschkron: Zu meiner Überraschung fast noch besser als bei den Erwachsenen, wenn man es überhaupt noch sagen kann. Ich war sehr überrascht. Sie begriffen so schnell, worum es ging.
David Dambitsch: Was kam an Reaktionen?
Inge Deutschkron: Na, erst mal ein irrsinniger Applaus. Der war wirklich unwahrscheinlich stark mit Trampeln und Pfeifen und was Sie wollen, wie junge Menschen das eben tun.
Inge Deutschkron im Grips-Theater, Aufführung "Ab heute heißt du Sarah" (© Margrit Schmidt)
Inge Deutschkron im Grips-Theater, Aufführung "Ab heute heißt du Sarah" (© Margrit Schmidt)
David Dambitsch: Sind Sie vielleicht auch neugierig darauf, wie sich die Deutschen verändert haben, wenn Sie in der Vorstellung sind?
Inge Deutschkron: Das natürlich auch. Ich weiß nicht, ob man das Wort verändern benutzen kann, wie sie überhaupt heute sind, ob sie vielleicht eben doch noch so sind oder wieder so sind wie damals, das kann ja auch sein. Und es ist ja auch leider Gottes so, dass es einige gibt, die heute bereit sind, eine Neo-Nazistische Partei zu wählen, so sehe ich die Republikaner
David Dambitsch: Fast jeden Abend erleben Sie und begegnen Sie ihrer eigenen Kindheit im Grips-Theater. Was ist das für Sie für ein Gefühl?
Inge Deutschkron: Das war zu Anfang nicht so leicht. Und ich meine, es ist auch jedes Mal, wenn ich es wiedersehe, schwer. Das erste Mal habe ich gedacht, ich würde das nicht überstehen können, denn Sie hören plötzlich Ihre eigenen Eltern sprechen. Sie hören dieselben Sätze, die sie gebraucht haben. Wissen Sie, wenn man das aufschreibt, wie ich es in meinem Buch getan habe, so ist das etwas ganz anderes, als wenn man sich plötzlich selbst hört. Und das war schon sehr schwer. Nun saß ich aber zwischen zwei Menschen, zu denen ich so hundertprozentiges Vertrauen und auch das Gefühl hatte, dass sie mich beschützen – einmal Volker Ludwig, der Mann, der das Theater leitet und der auch den Text geschrieben hat, und sein Partner Detlef Michel, der seinen Anteil daran hatte. Das war erst mal das Gefühl der Sicherheit. Und dann, zum anderen, füg‘ ich immer hinzu: Es kam eine so entsetzliche Wut in mir hoch über das, was damals gewesen ist. Das gibt einem dann die Kraft, wissen Sie, auch die physische Kraft, das zu überstehen und zu sagen, das muss allen bekannt gemacht werden. Das müssen alle wissen. Das müssen heute vor allen Dingen alle jungen Menschen wissen, wie es wirklich war, wie es der Einzelne erlebte.
Inge Deutschkron, 1937 (© Gedenkstätte Deutscher Widerstand )
Inge Deutschkron, 1937 (© Gedenkstätte Deutscher Widerstand )
David Dambitsch: Wenn man heute Schulbücher aus der Zeit des „Dritten Reichs“ anschaut, stellt man fest, dass ein Gutteil des Antisemitismus/Antijudaismus über die Erziehung transportiert worden ist. Die Täter und Täterinnen von damals sind heute die Groß- und Urgroßeltern der Jugendlichen. Gibt es Reste der NS-Erziehung, die fortwirken? Bemerken Sie so etwas?
Inge Deutschkron: Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Ich habe es nicht bemerkt bis jetzt, außer mit solchen Leuten jungen Leuten, die eben heute zu den „Republikanern“ gestoßen sind. Ich würde sagen, mir sind sie nicht begegnet, aber es gibt sie sicher. Und ich höre ja manchmal Geschichten, wo junge Menschen nach dem Prinzip Law and Order – also Recht und Ordnung/Recht und Gesetz – reagieren und verlangen, dass man links abbiegt, und zwar ganz scharf in der richtigen Kurve und so weiter. Na, mein Gott, das ist eben von damals übriggeblieben. Das wird man wohl nicht ganz ausrotten können. Ich merke wahrscheinlich andere Dinge als Sie. Zum Beispiel: Ich bin nach Ost-Berlin gegangen, und wenn dann die Polizistinnen, eine junge Polizistin, zu einem Westberliner oder Westdeutschen sagt, als er das Visum haben will: „Jetzt zeigen Sie mal ihr linkes Profil“, dann wird mir natürlich schlecht. Dann weiß ich immer nicht, was ist das? Ist das nun diese entsetzliche Erziehung, die sie da drüben haben, die so ähnlich ist in mancher Hinsicht wie die von den Nazis? Oder ist es in ihnen drin?
David Dambitsch: Seit 1966 sind Sie israelische Staatsangehörige und waren Redakteurin bei Ma'ariv in Tel Aviv. Durch die NS-Justiz wurden Sie als Jüdin diskriminiert und verfolgt, Sie sind nicht religiös. Was bedeutet Ihnen ihre jüdische Identität heute?
Inge Deutschkron: Ich nenne mich eigentlich Israeli. Wissen Sie, für mich ist Judentum immer noch eine Religion und keine Rasse und keine Nation. Aber was immer es ist, ich weiß nicht, wie andere Leute es nennen. Ich habe nie Zugang zum Judentum bekommen, in dem Sinne. Natürlich, Hitler hat mich zur Jüdin gestempelt. Ich habe das akzeptiert. Ich habe die Nase hochgetragen, solange das nötig war. Aber dann fand ich doch, eine Beziehung zum Judentum ist bei mir nicht gewachsen. Das liegt sicher daran: Ich bin als Sozialistin erzogen worden, und wir kannten keine Religion. Für mich ist das Judentum immer noch mehr Religion als alles andere.
David Dambitsch: Es gibt zwei Anlässe, aus denen Sie in Berlin sind im Moment: Zum einen für das Grips- Stück „Ab heute heißt du Sara“, zum anderen für die Recherchen für einen zweiten Teil ihres Buches „Ich trug den gelben Stern“. Wie erleben Sie das Wiedersehen mit Berlin?
Inge Deutschkron: Ich bin natürlich öfter schon in Berlin gewesen nach dem Krieg, und das war immer ein – ich würde sagen – sehr fröhliches Wiedersehen: Einmal, weil ich hier die Sprache höre, die die einzige Sprache ist, die ich richtig kann, nämlich: Berlinisch; und überdies die Atmosphäre, die Kultur, das ist meine Kultur. Und ich habe auch hier sehr viele Freunde. Nur ist es natürlich so: Wenn man eine Woche oder vielleicht auch einen Monat hier ist, dann ist das noch nicht In-Berlin-Sein. Das ist so eine Art Enklave, wenn Sie so wollen, man lebt auf einer Insel, man sieht nur die Dinge, die einen erfreuen, und dann fährt man wieder ab, und man weiß auch, dass man wieder abfährt.
Inge Deutschkron mit dem früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (© Margrit Schmidt)
Inge Deutschkron mit dem früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (© Margrit Schmidt)
Diesmal ist es natürlich auch so, es ist nur ein sehr viel längerer Besuch. Aber dennoch. Ich habe immer noch das Gefühl, ich bin nicht hier, direkt in Berlin. Ich sage sehr ehrlich, dass es sehr viele Straßen gibt, zu denen ich nicht gehe, weil dort Dinge passiert sind, die ich einfach nicht noch einmal innerlich erleben möchte. Dazu gehört zum Beispiel die Innsbrucker Straße 58. Dort ist die erste Deportation gewesen, die ich miterlebt habe, und das ist etwas, was sehr tief sitzt, und das vermeide ich gern. Und so gibt es auch andere Orte hier in Berlin. Und ich versuche nun, so auf die Weise zurechtzukommen, wissen Sie. Aber ich weiß ja auch, dass ich wieder abfahre. Also, ein Wiedersehen mit Berlin ist es sicher, aber dennoch kein tieferes Erlebnis.
Unbequem – die Zeitzeugin
Ella Deutschkron gab ihrer Tochter eine wichtige Empfehlung mit auf den Weg, als sie ihr erzählte, dass sie Jüdin sei, und ihre halbwüchsige Tochter nicht wusste, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Die Mutter sagte: „Lass‘ Dir nichts gefallen, wenn du angegriffen wirst. Wehr‘ dich!“ Was in den Jahren des Überlebens eher als ein Abwehren aller Bedrohungen und Verfolgungen begann und sie dann in den unmittelbaren Jahren nach dem Krieg in England und später bei ihren Auslandsaufenthalten als Reiseberichterstatterin in dem alltäglichen Existenzkampf einer jungen, freien Journalistin in einer Männerwelt weiter herausforderte, sollte schließlich zum Leitgedanken ihres Engagements gegen das kollektive Vergessen in Deutschland werden. „Lass‘ Dir nichts gefallen, wenn du angegriffen wirst. Wehr‘ dich!“ wurde bis ins hohe Alter zum Leitgedanken ihrer Arbeit mit Jugendlichen in Deutschland gegen Antisemitismus.
Mit 70 Jahren veröffentlichte sie als Resümee dieser selbstgewählten Aufgabe als Überlebende der Shoah ihr autobiografisches Werk „Unbequem – mein Leben nach dem Überleben“
David Dambitsch: Sie haben in Ihrem neuen Buch „Unbequem“ zahllose Beispiele für direkte Kontinuitäten zwischen dem Hitler-Regime und der jungen Bundesrepublik genannt. Inwieweit hat die Faszination vieler Jugendlicher in diesem Land für den Rechtsextremismus etwas mit diesen von Ihnen beschriebenen Tatsachen zu tun?
Inge Deutschkron: Erst einmal ist die Vergangenheit in diesem Adenauer-Staat überhaupt nicht aufgearbeitet worden, also die verschiedenen Generationen haben ja eigentlich alle „von nichts gewusst“ oder auch nichts wissen wollen. Und es wurden keine Informationen gegeben und es wurde auch nichts weitergegeben, sodass diese Zeit, die Nazizeit, eigentlich so wie ein Unfall, wie ein Betriebsunfall, in der Geschichte steht und die jungen Menschen eigentlich darüber nichts Vernünftiges gehört haben.
Und ich glaube, das hat natürlich seine Folgen, seine Konsequenzen auch für die heutige Generation, die gar nicht kapiert, dass es nicht etwas – na, sagen wir mal – Harmloses war, dass es nicht nur der Krieg war, den sie verloren hatten, sondern dass da mehr war. Das haben sie eben nicht erfahren. Und das erfahren sie auch heute kaum. Also da liegt die Schuld für meine Begriffe. Hätte man das aufgearbeitet, wäre es weitergegeben worden. So sehe ich das.
David Dambitsch: Unbequem halten Sie in Ihrem neuen Buch auch der Partei den Spiegel vor, der Sie sich von Kindesbeinen an verbunden fühlen, der SPD. Die SPD, so schreiben Sie sinngemäß, habe den Kampf gegen die alten Nazis und die Restauration in der Bundesrepublik nicht lange genug und viel zu oberflächlich geführt. Wie bewerten Sie denn heute den Kampf der SPD im Zusammenhang mit der
Inge Deutschkron: Ich finde das schändlich. Ich meine, dieser Artikel 16 war eigentlich auch ein Beweis, dass es ein anderes Deutschland gibt oder geben wird. So haben es jedenfalls die Väter (und Mütter d. Red.) des Grundgesetzes damals gesehen. Und so sehe ich das auch. Und ich finde, dass sie daran rütteln, ist ungeheuer und eine sehr gefährliche Geschichte. Wenn man nämlich damit erst anfängt, dann gibt es auch kein Aufhören. Und wissen Sie, politisches Asyl: Jeder von den alten Sozialdemokraten weiß, was das bedeutet hat, wie wichtig das war und wie schlimm es war, wenn Länder ihre Tore schlossen. Mein Gott, davon wissen wir eine Menge. Und gerade diese Partei will das nun irgendwie abändern und die Leute daran hindern, Asyl zu bekommen. Und man muss sich mal darüber klar sein, und ich sage das immer wieder und weiß das eben aus meiner Erfahrung und der Erfahrung meines Vaters: Es geht niemand aus seinem Land weg, so einfach und leichtfertig. Gut, es mag Ausnahmen geben. Es gibt sicher auch Abenteurer, aber der größte Teil der Menschen, die aus ihrem eigenen Heimatland weggehen, die gehen aus irgendeiner Not. Und darum ist diese Asyl-Begrenzung eine ganz schlimme Geschichte. Ich finde, gerade die Sozialdemokraten hätten alles tun müssen, um da einen Weg zu finden, dass man diesen Artikel 16 erhält, wie er ist.
David Dambitsch: Wie hat sich die Stimmung an den Schulen seit der deutsch-deutschen Vereinigung verändert?
Inge Deutschkron: Wenn ich ein Ostpublikum vor mir habe, ob es Erwachsene sind oder Kinder, dann ist das eine ganz eigenartige Erfahrung. Ich habe einmal ein Experiment gewagt, indem ich versucht habe, sie zu fragen, ihnen zu sagen, wir wissen so wenig über euch, erklärt mir doch mal, wie habt ihr es zum Beispiel mit der Bewältigung der Vergangenheit gehalten? Und was habt ihr gemacht? Da ist es mir einmal gelungen, eine Diskussion hervorzurufen. Aber es war eigentlich keine Diskussion. Sie haben sich untereinander gestritten. Der eine hat gesagt: Wir haben alles über den Antifaschismus gewusst und gelernt gehabt, jedes Kind musste die KZ-Gedenkstätten besuchen und das sehen und die Filme und so weiter. Und dann ist ein anderer aufgestanden und hat gesagt: Aber was redest du da? Wir haben doch die falschen Informationen bekommen. Man hat uns auch immer nur die Kommunisten als die großen Widerstandshelden vorgeführt. Das ist doch alles nicht wahr. Und dann, das war für mich wahnsinnig interessant, ich brauchte überhaupt nicht mehr zu reden, denn sie redeten untereinander.
Und dann kam eine Frau und sagte: Ich bin Lehrerin. Man hat uns in den 50er-Jahren gesagt, wie wichtig Anne Frank war, in jeder Stunde, und plötzlich durfte der Name nicht mehr erwähnt werden. Das war die Zeit, wo man in der DDR antisemitisch war.
David Dambitsch: Das Zentrum für Antisemitismusforschung hat ermittelt, dass der Rechtsradikalismus unter Jugendlichen in der ehemaligen DDR bereits eine Dominanzerscheinung sein soll. Man spricht immer häufiger von einem „1968 von rechts“. Wie sehen Sie das, wenn Sie zum Beispiel an die Ereignisse von Rostock zurückdenken?
Inge Deutschkron: Ich weiß nicht, ob dieser neue Staat da wirklich genug tut. Da brauchen wir Sozialarbeiter, da brauchen wir Jugendclubs. Da brauchen wir Diskussionen mit ihnen, da brauchen wir natürlich auch den Kontakt zum Westen. West-Jugendliche, Ost-Jugendliche, Austausch und so weiter. Und wenn es nur in Spiel und Sport ist, aber da muss etwas passieren. Also, ich weiß nicht, vielleicht bin ich zu optimistisch. Aber ich glaube, da kann man noch was bewirken. Man muss es aber schnell tun.
David Dambitsch: Was kann mit dem Wichtigsten passieren, mit Erziehung und Bildung?
Inge Deutschkron: Wissen Sie, da müssen wir erst mal die Lehrer dafür ausbilden. Ich glaube, auch bei denen hinkt es ja doch nach. Sehen Sie, ich habe neulich in Ostdeutschland eine Geschichtslehrerin kennengelernt. Ich war bei ihr im Haus, und sie sagte: „Sehen Sie sich doch mal an, das ist meine Bibliothek da drüben. Die kann ich wegschmeißen, jedes Buch darin ist falsch.“ Daran sehen Sie, wie schwierig das ist. Das sind ganz große Probleme, die wir haben. Wissen Sie, wir müssen auch verhindern, dass die Rechtsradikalen oder die Neonazis aus dem Westen – die ja ganz genau wissen, was sie wollen, die haben ja eine Ideologie, das ist ja der Unterschied, die haben eine feste Ideologie, was die im Osten noch nicht haben –, wir müssen verhindern, dass sie einen Einfluss auf diese Jugend im Osten bekommen.
Inge Deutschkron und André Schmitz (© Margrit Schmidt)
Inge Deutschkron und André Schmitz (© Margrit Schmidt)
Analytisch – die Ereignisse beobachten
Inge Deutschkrons Bücher – so erinnerte es Volker Ludwig vom Grips-Theater bei ihrer Beerdigung – haben die Eigenschaft, dass kaum ein Kapitel, ein Absatz, einzukürzen ist. Denn als durch und durch analytisch arbeitende und unabhängige Zeitzeugin und Publizistin entging ihr kein wesentliches Detail, und alles, was sie aufschrieb, diente der Erklärung der Abläufe und Ereignisse.
Sie schrieb über das Elend und die Not der Kinder in den Ghettos, über ihr Leben in Israel und die „Stillen Helden“, die Menschen, die während des NS-Regimes anderen die Tür und das Herz geöffnet hatten, um ihnen beizustehen. Ihr selbst stand zeitlebens die Berliner Familie Gumz
David Dambitsch: Wenn Sie heute zurückdenken an Ihre Tätigkeit als Prozessbeobachterin beim ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess Anfang der 1960er-Jahre – was sind die ersten Eindrücke, die Ihnen da ins Gedächtnis kommen?
Inge Deutschkron: Mir kommt zuerst ins Gedächtnis, dass da 21 Angeklagte saßen, von denen ich wusste, dass sie schreckliche Verbrechen begangen hatten – und zur gleichen Zeit, dass da Zeugen auftreten mussten, Menschen, die das durchlitten haben, und die nun ihren ehemaligen Peinigern gegenüberstanden. Das war mein schrecklichstes Gefühl eigentlich.
Wobei ich das noch verstärken muss: Was mich ganz fürchterlich entsetzte, war, dass ein großer Teil der Angeklagten nicht in Haft war, sondern im Hotel wohnte, zusammen mit den Zeugen. Nun stellen Sie sich vor, die frühstücken zusammen. Das ist alles vollkommen unglaublich. Und das hat die deutsche Justiz zustande gebracht. Anders kann man es nicht sagen. Denn die Leute, die aus Israel kamen, die kannten keine Hotels, die wurden ihnen zugewiesen. Da saß auch der Herr Mulka,
David Dambitsch: Bei dem Prozess in Frankfurt saßen diejenigen auf der Anklagebank, die vor Ort in Auschwitz selektiert, gefoltert und gemordet haben. Also die, die gesehen worden sind von den überlebenden Zeugen, standen vor dem Richter. Dennoch gab es Freisprüche und milde Urteile. Welche Erklärung gab es damals dafür?
Inge Deutschkron: Man zog sich zurück auf die Strafprozessordnung, die verlangte, dass ein Angeklagter unschuldig ist, solange seine Schuld nicht nachgewiesen ist. Und die nachzuweisen, war ja nun in Auschwitz furchtbar schwierig, denn die Morde geschahen ja nicht vor allen Leuten. Im Gegenteil, ich würde sagen, wenn jemand wagte, diesem Mord oder diesen Verbrechen nachzugehen, dann wurde er sofort auch abgeknallt. Also, die Zahl der Zeugen war denkbar klein. Und damit war es sehr schwierig, diesen Beweis zu erbringen. Zum Beispiel in dem Fall Kaduk,
David Dambitsch: Wie haben Sie persönlich darüber gedacht? Wie haben die Zeugen, die teilweise aus Israel nach Frankfurt kamen, um dort vor einem deutschen Gericht auszusagen, über die ganze Verhandlung gedacht?
Inge Deutschkron: Einige, die gute Zeugen hätten sein können, sind ja gar nicht erst gekommen, weil sie einem deutschen Gericht das nicht zutrauten, dieses schreckliche Verbrechen irgendwie zu sühnen. Aber die, die gekommen waren, waren natürlich sehr zögerlich und sehr verängstigt. Und zu Anfang, auch das war so furchtbar: Sie hatten keine Betreuung. Das heißt also, sie kamen in den Gerichtssaal, sie mussten ihre schreckliche Zeugenschaft abliefern, auch ihre Erlebnisse, die so schrecklich waren, nun noch einmal durchleben, um sie erklären und erzählen zu können. Und dann gingen sie aus dem Gerichtssaal. Da war keiner da, der sie, na, vielleicht in den Arm nahm oder überhaupt zu ihnen sprach. Das war zu Anfang. Es hat dann Freiwillige gegeben, eine Bonhoeffer-Gesellschaft, wenn ich mich nicht irre, die haben sich ihrer auch angenommen. Es ist alles so unmenschlich. Und das ist ja überhaupt, was ich gegen diesen Prozess habe. Mag sein, dass er der Strafprozessordnung Genüge getan hat, das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Jurist. Aber die Menschlichkeit stand höchstens an dritter Stelle.
David Dambitsch: Trotz aller Problematik hat einer wie Eugen Kogon in den Frankfurter Heften über den Prozess sinngemäß geschrieben, der die Taten abwägende Richter habe für die Zeitgeschichte einen gewaltigen Dienst geleistet. Wie sehen Sie das?
Inge Deutschkron: Ja, das war natürlich eine Aufgabe, die ihm eigentlich nicht zugewiesen worden war. Er hatte, wie gesagt, die Prozessseite zu bearbeiten, die geschichtlich-politische, die kam zufällig zustande und die ist meines Erachtens nur ungenügend gewürdigt worden. Wahrscheinlich war es auch gar nicht möglich. Aber für meine Begriffe: Natürlich, ganz konnte man das nicht vom Tisch wischen, aber so, wie dieser Hintergrund, dieser politisch-historische, war, hätte der natürlich ganz anders aufgearbeitet werden müssen. Aber das ging eben in diesem Rahmen des Prozesses nicht.
David Dambitsch: Sie haben die Täter Auge in Auge gesehen. Was kann man den Nachgeborenen am schwierigsten vermitteln?
Inge Deutschkron: Am schwierigsten ist zu vermitteln, dass diese Angeklagten aussahen wie normale Deutsche. Sie sahen nicht aus wie Verbrecher, sie machten nicht den Eindruck von schlechten Menschen oder so, sie sahen aus wie Buchhalter oder irgendwelche kleinen Angestellten. Da konnte der Eindruck nicht vermittelt werden, was sie wirklich taten. Und ich erinnere mich noch sehr genau, dieser Schreckliche, der Schlimmste eigentlich, würde ich sagen von meinem Standpunkt aus: Boger,
Und darum ist das schwer zu vermitteln, es nicht zu sehen, die sehen da so einen Menschen, ist ja gar nicht zu glauben, was der Mensch angerichtet hat. Das finde ich schwierig. Wobei ich eben sagen muss: Das Gute an dem Prozess während der langen Dauer, der war ja von Dezember 1963 bis August 1965, war, dass in dieser langen Zeit etwa 15.000 Jugendliche ins Gerichtsgebäude gekommen sind, um dem zuzuhören, was da verhandelt wurde. Und das ist schon schrecklich wichtig gewesen. Und ich glaube, es wäre gut gewesen, wenn man diese Kinder damals befragt hätte – ich weiß nicht, ob das geschehen ist –, was sie daran besonders beeindruckt hat. Aber Eindruck muss es hinterlassen haben.
Inge Deutschkron führt Schülerinnen und Schüler durch das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt (© Margrit Schmidt)
Inge Deutschkron führt Schülerinnen und Schüler durch das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt (© Margrit Schmidt)
David Dambitsch: Für Sie selbst, Frau Deutschkron, war der 27. Januar 1945 noch kein Befreiungstag. Welche Erinnerung haben Sie an den Winter 1945?
Inge Deutschkron: Der Winter war eigentlich schwerer als die anderen, aber nicht, weil es kälter war oder so. Aber die Front kam immer näher, und damit wurden auch die Dinge immer schwieriger, zum Beispiel Ernährung. Es gab weniger Lebensmittel und wir, die wir versteckt lebten, kriegten natürlich immer noch weniger. Unsere Freunde konnten uns nicht mehr so viel geben; dann natürlich auch die Bombardierungen. Dadurch wurden natürlich sehr viele unserer potenziellen Unterkünfte zerbombt. Die Zeit wurde sehr viel schwieriger. Obwohl, ich war ja immer eine Optimistische, sonst hätte ich es auch wahrscheinlich nicht durchgestanden.
Zitierweise: „Inge Deutschkron: „Das müssen alle wissen“, aus Interviews mit Inge Deutschkron, David Dambitsch, in: Deutschland Archiv, 7.7.2022, Link: www.bpb.de/510389