Familie, Emigration, Jüdische Identität
Sharon Adler: Du wurdest 1948 in Bulawayo geboren, der zweitgrößten Stadt Südrhodesiens, das seit 1980, nach der Erlangung der Unabhängigkeit, Simbabwe heißt. Die etwa 7.000 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde des Landes stammten aus Ost- und Westeuropa –Ungarn, Polen, Litauen, Deutschland – sowie aus Mittelmeerländern. Woher kamen deine Familie, deine Eltern? Und wie haben sie die Shoah überlebt?
DESSA: Emma Liebermann, meine Mutter, wurde 1912 in Warschau als vierte von sechs Töchtern geboren. Nur vier der sechs Mädchen überlebten. Eine Schwester wurde mit ihren Eltern, meinen Großeltern, ermordet; eine andere Schwester starb eines natürlichen Todes, zwei emigrierten nach Israel, eine nach Paris, und meine Mutter 1930 nach Südrhodesien, um einen Cousin zu heiraten. Diese arrangierte Ehe hat sie sehr wahrscheinlich vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt, das sie erwartet hätte, wäre sie in Polen geblieben, Aber ihr Leben war nicht einfach.
Die Ehe verlief nicht glücklich, und nach der Geburt einer Tochter ließ sie sich scheiden. Sie war dann für kurze Zeit mit einem britischen Militärsoldaten verheiratet, der starb, und heiratete später meinen Vater. Sie hat ihre Eltern nie wiedergesehen, und ich denke oft darüber nach, wie und ob es ihr gelang, den Verlust so weit weg von ihrer Heimat zu verarbeiten. Manchmal saß sie nur da, regungslos, und starrte vor sich hin. Ich fragte mich dann immer: War sie in Gedanken bei ihrer Familie in Polen? Fühlte sie sich schuldig, dass sie weggegangen war, oder war sie verbittert, dass man die Ehe arrangiert hatte, die sie nach Afrika schickte? Vielleicht half es ihr, mit ihrem Schmerz umzugehen, dass sie uns verbot, etwas „Made in Germany“ ins Haus zu bringen. Wenn ich ihr etwas schenkte, achtete ich immer darauf, die Herkunft sorgfältig zu überprüfen.
Meine Mutter arbeitete in Teilzeit als Buchhalterin. Sie spielte gerne Karten und traf sich regelmäßig mit einer Gruppe von Frauen, unter denen auch viele Emigrantinnen waren. Sie war eine hübsche Frau und hatte künstlerisches Talent: sie hatte eine schöne Sopranstimme und häkelte, webte und strickte viel. Einige Stücke verwende ich für eine Installation in meinem Projekt über Alice Salomon.
Ihre Tischdecken liegen auf meinem Esstisch, und wenn ihre Enkel und Urenkel um ihre schönen Handarbeiten herum sitzen, ist sie auch heute in gewisser Weise anwesend.
Ich besitze einige ihrer Zeichnungen, die ich fand, als sie starb. Und als ich mir auch ihre Wandteppiche ansah, fand ich darunter einen mit dem Stempel einer Galerie in Durban, also muss sie irgendwann versucht haben, ihre Arbeiten zu verkaufen – sie hat das nie erwähnt. Sie sprach selten über die Vergangenheit und ich habe nie danach gefragt.
Mein Vater wurde 1900 in Debrecen, der zweitgrößten Stadt Ungarns geboren. Seine Mutter Hermina, geborene Bloch, leitete eine jüdische Mädchenschule, sein Vater starb, als er noch ein kleines Kind war. Mein Vater studierte Medizin in Würzburg und in Padua und arbeitete in zwei Kliniken in Norditalien, bis er 1938 vor dem Faschismus nach Afrika floh.
Ich traf in Italien einen Arzt, der in den Archiven der medizinischen Universität in Padua das Abschlusszeugnis meines Vaters fand. Als ich ihn anrief, weinte er und rief ins Telefon: „Deborah - centodieci su centodieci!“ (einhundertzehn von einhundertzehn). Mein Vater war brillant, exzentrisch und anders als alle anderen Väter, die ich kannte. Er hatte lange Haare, weigerte sich, bei Hitze eine Krawatte zu tragen, sprach viele Sprachen, schätzte Literatur und baute eine umfangreiche persönliche Bibliothek auf. Er eröffnete die erste private multiethnische Klinik in Bulawayo, arbeitete sieben Tage in der Woche für fünf Schilling pro Patient, unabhängig von der Krankheit und der erforderlichen Behandlung. Eine Art Albert Schweitzer. Er war völlig desinteressiert an materiellen Dingen und fuhr bis zu seinem Tod im Alter von 70 Jahren dasselbe alte Auto.
Sharon Adler: Haben deine Eltern mit dir oder untereinander über deine ermordeten Großeltern gesprochen? Wie sind sie mit dem eigenen Überleben umgegangen, wissend, dass ihre Familien getötet worden waren? Wie hast du als Kind darauf reagiert?
DESSA: Obwohl wir nur wenig über die Shoah und meine Großeltern oder gar Warschau sprachen, war mein Unterbewusstsein von diesem tragischen Familienverlust und der dunklen Zeit der Geschichte geprägt. Wie kann ein kleines Kind, das in der afrikanischen Sonne Insekten bei ihrer Arbeit beobachtet, den Tod seiner Großeltern in den Gaskammern verarbeiten? Es sollte etwa vierzig Jahre dauern, bis ich das herausfand durch meine Arbeit entdeckte ich Fragen zur Identität, die sich noch immer weiterentwickeln. Es scheint, dass ich das tat, was wahrscheinlich die meisten getan hätten. Ich verdrängte diesen Schmerz und den Verlust meiner Großeltern, bis ich die Reife und seelische Stärke hatte, die man später im Leben erreicht und gewappnet genug war, damit umzugehen.
Der Weg zur Künstlerin DESSA
Sharon Adler: War Künstlerin zu werden für dich eine Möglichkeit, ein Weg, dich zu wappnen, um mit dem Trauma umzugehen? Wie kamst du zur Kunst?
DESSA: Wenn es ein Weg war, mit dem Verlust und dem Trauma umzugehen, indem ich Künstlerin wurde, dann geschah das völlig unbewusst. Mein Mann bemerkte meine Begabung, als ich zu Hause malte, und ich beschloss, Unterricht zu nehmen, zumal mein Ergotherapie Studium keinen Kunstunterricht vorsah und es sich in der Arbeit mit zukünftigen Patientinnen und Patienten als nützlich erweisen konnte. Ich fand meine wahre „Muttersprache“, meinen Weg des persönlichen Ausdrucks, und hatte bald darauf meine erste Ausstellung.
Sharon Adler: „Durch Kunst vereinen“ ist ein Leitmotiv in deiner Arbeit. Wie kann Kunst deiner Meinung nach als „Übermittlerin“ fungieren, um die Lücke zu füllen, das kollektive als auch das individuelle Gedächtnis betreffend? Wie kann Kunst einen Beitrag zum kollektiven jüdischen Gedächtnis leisten?
DESSA: Ich baue Brücken zwischen der Musik und der Malerei, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Völkern verschiedener Kulturen. Mit dem Projekt „Ein Vermächtnis aus Theresienstadt“ habe ich beide Konzepte vereint, also nicht nur Viktor Ullmanns Musik und meine Malerei, sondern auch historische Ereignisse von der Vergangenheit bis zur Gegenwart.
Die in Südrhodesien (heute Simbabwe) geborene Künstlerin Deborah Sharon Abeles (DESSA, so ihr Pseudonym) wurde 1983 Schweizer Staatsbürgerin. Ab 1986 fanden zahlreiche Ausstellungen und Präsentationen ihrer Werke in Museen, Galerien und Konzertsälen in Europa statt. Seit 2005 hat sie ein zweites Atelier und einen Wohnsitz in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die in Südrhodesien (heute Simbabwe) geborene Künstlerin Deborah Sharon Abeles (DESSA, so ihr Pseudonym) wurde 1983 Schweizer Staatsbürgerin. Ab 1986 fanden zahlreiche Ausstellungen und Präsentationen ihrer Werke in Museen, Galerien und Konzertsälen in Europa statt. Seit 2005 hat sie ein zweites Atelier und einen Wohnsitz in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Meine Motivation, einen Teil unserer kollektiven Geschichte wieder lebendig zu machen, hängt sicher mit dem Verlust meiner eigenen Familie zusammen. Die Last dessen, was ich „das kleine schwarze Loch des Nichts“ in mir nenne, das nie verschwinden wird, ist vielleicht leichter zu tragen, wenn man die Geschichten von anderen beleuchtet. „Ein Vermächtnis aus Theresienstadt“, das ich 1997 abgeschlossen habe, hatte einen großen Einfluss auf meine künstlerische Laufbahn.
Bildende Kunst ist universell, ebenso wie Musik, und beide sind kraftvolle Instrumente, um Ideen an Menschen aller Bildungsschichten zu vermitteln. Im Hinblick auf das kollektive jüdische Gedächtnis halte ich es für sehr wichtig, Erinnerungen aufzuzeichnen und festzuhalten und progressive kulturelle Erinnerungsprojekte zu schaffen, die das Interesse der jüngeren Generationen wecken. Die Arbeit in einer Gruppe mit Menschen, die ähnliche Anliegen haben, bietet die Möglichkeit, Erfahrungen und Anregungen auszutauschen und Fragen der Intoleranz und Ausgrenzung zu erörtern, die auch ich erlebt habe. Durch die Kunst erreiche ich Gruppen, die nur wenig über das Judentum und seine Geschichte wissen.
Berlin und die Bedeutung der Erinnerungskultur durch Kunst
Sharon Adler: Seit 1981 lebst und arbeitest du in Pully, Schweiz, und seit 2000 abwechselnd auch in Berlin. Seit 2005 hast du ein Atelier in Berlin. Hat Berlin, das jüdische Berlin, deine Perspektive auf deine Arbeit, deine Kunst verändert? Welchen Einfluss hat diese Stadt auf deine Arbeit vor dem Hintergrund deiner persönlichen Familiengeschichte, dem Verlust deiner Großeltern?
DESSA: Ein großer Teil meines Lebens ist „einem Weg gefolgt“, der teilweise durch reflektierte Entscheidungen und teilweise durch Zufall entstanden ist. Meine enge Beziehung zu Berlin begann mit den Ausstellungen meiner Arbeiten in der Galerie Bremer, aber meine Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und dieser Stadt begann im Jahr 2000, als der Berliner Dom mein Projekt „Ein Vermächtnis aus Theresienstadt“ präsentierte, das von Viktor Ullmanns Musik inspiriert war. Während der Wochen, in denen ich mich für die Ausstellung in Berlin aufhielt, mietete ich eine Wohnung und stieß in einem Antiquariat auf das Firmenalbum „Die Hygiene im Wandel der Zeiten“ von 1912, herausgegeben vom Kaufhaus N. Israel.
Meine Neugier war schon immer groß, aber diesmal hat sie mich in eine ganz neue Richtung meiner Arbeit geführt, nämlich zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte Berlins – oder man könnte auch sagen mit der Geschichte Berlins, denn ich habe nicht nur Informationen zur Geschichte des Kaufhauses und der Familie Israel recherchiert und gesammelt, sondern auch Aspekte der Entwicklung Berlins zu dieser Zeit.
„Stolzesteine/Stones-of-Pride“
Sharon Adler: Steine haben für dich seit frühester Kindheit in Simbabwe
DESSA: Dieses Projekt war eine zweite Hommage an N. Israel, vor allem aber an Wilfrid Israel, den ich in meiner ersten Hommage nur erwähnt hatte. Ich wollte etwas Einzigartiges schaffen, um an ihn zu erinnern und ihn zu ehren. Als ich 2012 von Charlottenburg nach Wilmersdorf zog, entdeckte ich vor einem Gebäude einen Stolperstein und sah gleichzeitig auch, dass jemand zwei große Metalltafeln mit denselben Namen an der Wand des Gebäudes angebracht hatte, als ob dies eine „Gegenreaktion“ wäre. Ich finde es wichtig, an das Leben der ermordeten Menschen zu erinnern. Mit meinem Gedenkkunstwerk „Stolzesteine/Stones-of-Pride“ ehre ich jedes Leben mit natürlichen Steinen, die ich auf der ganzen Welt gesammelt habe. Steine haben für mich seit meiner Kindheit in Rhodesien eine große Bedeutung. Als Kind liebte ich es, im Matobo-Park zwischen den schönsten Felsformationen, die Tausende von Jahren alt sind, herumzustreifen. Ich staune auch heute noch über diese natürlichen Skulpturen und die Energie, die Steine enthalten, und ich denke, sie sind ein passendes Medium für Erinnerungsarbeit.
Einen Stein auf ein Grab zu legen, ist ein jüdischer Brauch. Im Hebräischen ist das Wort für Stein „EVEN“ und es enthält die Wörter für Vater (Av) und Sohn (Ben). Das deutet darauf hin, dass der Stein ein Symbol für die Weitergabe von Generation zu Generation ist.
„Ein Vermächtnis aus Theresienstadt“ – Gemälde nach Viktor Ullmanns Klaviersonate Nr. 7
Sharon Adler: Kannst du bitte etwas über dein Kunstprojekt „Ein Vermächtnis aus Theresienstadt“, über Viktor Ullmanns
DESSA: 1995 hörte ich Viktor Ullmanns zweite Symphonie, die auf der 7. Klaviersonate basiert, die er in Theresienstadt schrieb, bevor er im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet wurde. In dieser Musik „hörte“ ich verschiedene Bilder: Kräfte, die aufeinanderprallen und auseinandergerissen werden, Funken und Blitze, Dunkelheit und Licht, Heiterkeit und Traurigkeit. Die Symphonie endet mit Variationen und einer Fuge über ein hebräisches Volkslied. Die Melodie ist durchdrungen von Fülle und Seelenfrieden. Diese Musik hat die Erinnerung an den Verlust meiner Großeltern in der Shoah wachgerufen.
Die 41 Bilder, die ich geschaffen habe, kamen eher aus der Tiefe meiner Seele als aus dem Kopf und einem Denkprozess. Anschließend habe ich ein Buch mit den Bildern und Texten veröffentlicht, um das Vermächtnis von Theresienstadt zu bewahren. Gewidmet habe ich es meinen Großeltern. Das Projekt hat die Entwicklung meiner Arbeit über das kollektive Gedächtnis stark beeinflusst. Seit 1997 habe ich diese Ausstellung mit der Musik an vielen Orten gezeigt, unter anderem im Ghetto Museum Theresienstadt.
A Tribute To Kaufhaus N. Israel 1815–1939/Hommage an das Kaufhaus N. Israel 1815–1939
Sharon Adler: Im Jahr 2000 bist du auf das Berliner Kaufhaus „Nathan Israel“
DESSA: Im Jahr 2000 fand ich in einem Berliner Antiquariat das bereits erwähnte lilafarbene Buch mit der Aufschrift „Kaufhaus Nathan Israel Album 1912: Die Hygiene im Wandel der Zeiten“. Das machte mich neugierig, denn 1912 ist das Geburtsjahr meiner Mutter, und der Name Israel deutete auf ein jüdisches Thema. Mein Deutsch war damals noch sehr schlecht. Daher übersetzte eine Freundin für mich, worum es in dem Band ging, und ich erfuhr, dass „Nathan Israel“ der Name eines Kaufhauses gewesen sei. Ich suchte den Ort, wo das Geschäft gestanden haben musste, direkt gegenüber des Roten Rathauses, und fand: nichts. Dabei war es Berlins ältestes und lange Zeit auch größtes Kaufhaus gewesen. Wilfried Israel, der letzte Inhaber des Kaufhauses vor der „Arisierung“, ging 1939 nach England und rettete durch die
In einem anderen Antiquariat fand ich ein weiteres Album dieser Reihe. Die Bücher faszinierten mich, denn man sah, dass sich jemand sehr viel Mühe gegeben hatte, sie zu gestalten. Ich versuchte, mehr herauszufinden: Wer war die Familie Israel? Warum hatte sie diese Bände herausgegeben? Bei meinen Recherchen in Berlin, London und New York fand ich weitere Alben. In dem Album aus dem Jahr 1900 beschrieb ein Artikel, was die Familie alles für ihr Personal getan hatte – von Sozialleistungen bis hin zu Freizeitangeboten, und ich dachte: Das muss bekannt gemacht werden! Jemand muss an die Familie erinnern. Also begann ich, Collagen anzufertigen und zu malen. Die Reihe „A Tribute To Kaufhaus N. Israel 1815–1939“ wurde 2004 in der Galerie Bremer in Berlin und ein Jahr später im Jüdischen Museum Westfalen gezeigt.
„The Art of Remembrance – Alice Salomon”
Sharon Adler: Für dein Projekt über die Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Alice Salomon
DESSA: „Während der monatelangen kreativen Arbeit in meinem Berliner Atelier war die Anwesenheit von Alice Salomon so stark, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte mit ihr „sprechen“. Ich schrieb ein imaginäres Gespräch mit ihr, in dem wir viele Themen erörtern, darunter den Wert der Sozialen Arbeit als Beruf und ihre Erfahrungen im Deutschen Nationalen und Internationalen Frauenrat, die alle auch heute noch aktuell sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
DESSA: „Während der monatelangen kreativen Arbeit in meinem Berliner Atelier war die Anwesenheit von Alice Salomon so stark, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte mit ihr „sprechen“. Ich schrieb ein imaginäres Gespräch mit ihr, in dem wir viele Themen erörtern, darunter den Wert der Sozialen Arbeit als Beruf und ihre Erfahrungen im Deutschen Nationalen und Internationalen Frauenrat, die alle auch heute noch aktuell sind.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
DESSA: Auf Alice Salomon wurde ich durch die Biografin und ehemalige Studentin an der Alice Salomon Hochschule, Isabel Morgenstern, aufmerksam gemacht, die ich bei meiner Ausstellung im Mitte Museum kennenlernte. Ich erzählte ihr, dass ich plante, meine Hommagen mit „Stones of Pride” fortzusetzen. Sie schickte mir die Namen von fünf Frauen, und als ich mehr über Alice Salomon erfuhr, beschloss ich, dass ihr außergewöhnliches Leben ein eigenes Projekt verdiente, zumal sie zu dieser Zeit noch nicht sehr bekannt war.
Das Alice-Salomon-Archiv
Ich folgte Salomons Spuren zur Villa von Franz Mendelssohn, wo sie Salonkonzerte besuchte, und auch nach Engelberg in der Schweiz, wo sie ihre Sommerferien verbrachte. Außerdem sammelte ich Material über die Zeit, die sie in Genf verbrachte. Einen ganz besonderen „Fund“ machte ich auf dem Antiquitätenmarkt am Fehrbelliner Platz: alle Ausgaben der Berliner Illustrierten Zeitung von 1904 bis 1914. Ich schaute mir jede einzelne Seite auf der Suche nach brauchbaren Bildern an und hoffte, etwas über Alice Salomon zu finden.
Meine Geduld wurde belohnt: Im letzten Album von 1904 fand sich ein Artikel von Adele Schrieber über den
Sharon Adler: Wie hast du den künstlerischen Zugang zu ihrem Leben und ihrer Philosophie gestaltet, um Sozialreform und Sozialarbeit durch Kunst sichtbar machen?
DESSA: Ich kann diese Frage am besten beantworten, indem ich zwei herausragende Frauen zitiere. Prof. Dr. Adrienne Chambon,
Zitieren möchte ich auch Dr. Adriane Feustel, die langjährige Leiterin des Alice Salomon Archivs, die zu meiner Ausstellung „Die Kunst der Erinnerung – Alice Salomon“ im Abgeordnetenhaus schrieb: „Die Präsentation der einzelnen Kunstwerke auf einer langen Wand ermöglicht es dem Betrachter, das gesamte Leben und Lebenswerk auf einen Blick zu erfassen und sich gleichzeitig seiner Vielfalt und seines Reichtums bewusst zu werden. Nur die bildende Kunst ist in der Lage, das zeitliche Nacheinander als räumliches Nebeneinander zu gestalten, es in eine Art Gleichzeitigkeit zu übersetzen. Durch die Ruhe, die diese Ausstellung ausstrahlt, macht das Kunstwerk von DESSA das verbindende Element im Werk von Alice Salomon, das, was ihr Werk, ihr Leben trägt, greifbar. Es ist das Eine, von dem Alice Salomon selbst in ihrer Autobiografie gesprochen hat.“
Sharon Adler: In deinem Buch „The Art of Remembrance – Alice Salomon” hast du nicht nur deine Collagen, Gemälde und Installationen veröffentlicht, sondern auch „ein imaginäres Gespräch“ zwischen ihr und dir. Wie sollte sich an sie erinnert werden, und für wie relevant hältst du ihre Leistungen und Forderungen bis heute?
DESSA:
„Ich baue Brücken zwischen der Musik und der Malerei, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Völkern verschiedener Kulturen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
„Ich baue Brücken zwischen der Musik und der Malerei, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Völkern verschiedener Kulturen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Während der monatelangen kreativen Arbeit in meinem Berliner Atelier war die Anwesenheit von Alice Salomon so stark, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte mit ihr „sprechen“. Ich schrieb ein imaginäres Gespräch mit ihr, in dem wir viele Themen erörtern, darunter den Wert der Sozialen Arbeit als Beruf und ihre Erfahrungen im Deutschen Nationalen und Internationalen Frauenrat, die alle auch heute noch aktuell sind. Alice Salomon war ihrer Zeit weit voraus. Ihre beruflichen Erfolge und ihre Weltoffenheit verhinderten jedoch nicht, dass sie zu Unrecht aus Deutschland verbannt wurde. Ihre letzten Jahre in New York waren schwierig. Ich freue mich, dass ich mit meiner Werk-Arbeit zur 150-Jahr-Feier anlässlich ihrer Geburt in ihrer Heimatstadt beitragen und damit ihre Arbeit würdigen konnte.
Zitierweise: „Berlin ist die Stadt, in der ich mich mit meiner jüdische Familiengeschichte auseinandergesetzt habe“, Interview mit Dessa, in: Deutschland Archiv, 5.7.2022, Link: www.bpb.de/510327