Vorweg ein Zitat der US-amerikanischen Historikerin Marion Kaplan: „Das Fehlen der Frauen in Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Geschichte hat unsere Vorstellungen von dem, was Geschichte 'ist' ebenso verzerrt, wie die Schlüsse, die wir daraus zogen. Indem wir Frauen sichtbar machen, ändern wir nicht nur deren Bedeutung, sondern auch den Blick, wie wir Geschichte als Ganzes betrachten."
Bezeichnenderweise stammt dieses Zitat aus einem Band Marion Kaplans, der sich mit dem Konzept Familie beschäftigt – ein Terrain, das „dem täglichen Leben, dem Privaten und dem Individuellen eine größere Aufmerksamkeit schenkte (…).“
Jüdisch und weiblich – eine Minderheitserfahrung
Die 1700-jährige Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland war seit jeher eine Minderheitsgeschichte. Jüdische Frauen bildeten und bilden die eine Hälfte dieser Minderheit. Die Erfahrungen und die Erzählungen jüdischer Frauen aus dem ehemaligen Osten bilden den äußersten Rand dieser Minderheitsgeschichte. Jüdische Alltagserfahrungen in der DDR fanden nur wenig Beachtung, sei es in der öffentlichen Wahrnehmung oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Wir richten das Vergrößerungsglas auf eine sehr kleine, noch dazu stark diverse Gruppe. Sie setzte sich keineswegs nur aus hochrangigen Kulturfunktionär:innen und Star-Intellektuellen zusammen. Neben Remigrant:innen, die häufig aus kommunistischen Überzeugungen einen Neuanfang in Ostdeutschland wagten, versammelten sich Gestrandete aus den DP-Lagern, aus Israel Zurückgekehrte , Überlebende aus dem Untergrund und aus gemischten Ehen, sowie die, die dem Grauen und Sterben in den Todes- und Konzentrationslagern entkommen waren. Untersucht und sichtbar gemacht werden sollen in diesem Beitrag die Berichte von Jüdinnen, die in der DDR aufwuchsen. Diese Berichte sind aus persönlichen Beziehungen und unserem gemeinsam geteilten ostdeutsch-jüdischen Erfahrungsraum erwachsen. Wir wollen vier weibliche Lebenswege in den Mittelpunkt rücken, die nicht viel mehr vereint als eben die Tatsache, dass sie Frauen sind, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR erlebt haben. Indem wir ihre Schilderungen betrachten, ergänzen wir die Geschichte um neue Aspekte und um eine erweiterte, bisher vernachlässigte Perspektive.
Klischees: „die DDR-Frau“ und „die Jüdin“
Mit der „DDR-Frau“ verbinden sich zahlreiche Mythen: die erwerbstätige Mutter, die „ihren Mann" in der Produktion stand, jung verheiratet und dennoch wirtschaftlich unabhängig. Die kommunistische Ideologie schuf eine neue Frau mit sozialistischer Persönlichkeit, die ihre „persönlichen Interessen und Bedürfnisse hinter die der Gesellschaft, des Staates und der Partei zurückstell(te).“
Für unseren Interviewband „Jung und jüdisch in der DDR“ haben wir 20 Gespräche geführt, 13 davon mit Frauen. Die älteste Gesprächspartnerin wurde 1948 in Berlin geboren, die jüngste 1973, ebenfalls in Berlin. Ihre Erzählungen spannen ein ganzes Leben in der DDR oder berühren eine bewegte Jugendzeit, geprägt von Unsicherheiten und Identitätssuche. Die Anzahl der Interviews verweist darauf, dass es hier nicht um die Darstellung repräsentativer Ergebnisse geht. Die sehr unterschiedlichen Geschichten stehen vielmehr exemplarisch für die Heterogenität dieser Gemeinschaft. Indem wir einzelne Lebensgeschichten kaleidoskopisch beleuchten, hoffen wir, sie in einen größeren Zusammenhang zu bringen, um damit den Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte zu weiten. Vorausgeschickt werden muss, dass das Frausein nicht explizit Thema unserer Interviews war und sich unsere 13 Gesprächspartnerinnen nicht als Frau erzählt haben. Vielmehr begegnet uns eine geschlechtsunspezifische Erzählform oder das generische Maskulinum. Auffällig unbefangen und selbstbewusst verwendeten unsere Gesprächspartnerinnen die Bezeichnung „Jude“ statt „Jüdin“, wenn sie von sich sprachen. Im Osten benutzten Frauen auch selbstverständlich für sich die Begriffe „Lehrer“ oder „Ingenieur“.
Normierte Familienvorstellungen
Die DDR verstand sich als ein weitgehend homogener Staat mit klar definierter Nationalität: Deutsch. Auch für abweichende Lebensstile gab es nur wenig Raum.
Andererseits weckte in nicht wenigen das Fehlen einer jüdischen Mutter die Sehnsucht, einen jüdischen Partner zu finden, um eine eigene jüdische Familie gründen zu können. Unglückliche Beziehungen zwischen den Eltern mögen zu dem Wunschdenken geführt haben, mit einem jüdischen Mann ließe sich auch die „Vergangenheit heilen“. Nur ließ sich dieses Wunschdenken nicht in die Realität übersetzen. Rivka, 1966 in der Nähe von Berlin geboren, sagt zum Beispiel: „Als Jugendliche hatte ich zeitweilig sehr romantische Vorstellungen vom Judentum und dachte daran, religiös zu werden. Ich wollte einen gelehrten Juden heiraten und viele Kinder bekommen. Für mich war die jüdische Gemeinschaft eine große Wunschfamilie.“
Eva Nickel und Helga - frühe Erfahrungen
Als die DDR 1949 gegründet wurde, war Eva Nickel ein Jahr alt. Sie wurde 1948 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding, im Westteil der Stadt, geboren. Ihre Mutter hatte die NS-Zeit im Untergrund überlebt. Ihre beiden kleinen Töchter, Evas Halbschwestern, wurden in Auschwitz ermordet. Nach der Befreiung heiratete die Mutter den Sohn einer ihrer Retterinnen, Evas Vater. „Von klein auf ging ich in die Jüdische Gemeinde. Das war vor allem meinem nichtjüdischen Vater wichtig, meiner Mutter aber auch. Er wollte mich zur ‚politischen Jüdin’ erziehen, weil meine Schwestern Ruthchen und Gitti 1944 in Auschwitz ermordet worden waren. Ich wurde für sie geboren, ich hatte eine Nachfolge, einen Kampf anzutreten.“
Die Leipziger Gemeinde war einst die sechstgrößte in Deutschland. 1949, als Helga geboren wurde, zählte sie 349 Mitglieder, 1989 waren es nur noch 36.
Nach der Befreiung flüchtete die Familie nach Leipzig. „Ich war Mitglied der Gemeinde. Das war meiner Mutti wichtig. Wir gingen zu den Feiertagen in die Synagoge, aber auch mal zum Schabbes“, erinnert sich Helga. „Es war immer schön dort. Mich kannten alle von Geburt an. Ich war immer die Kleine. Wenn wir kamen, wurde ich immer abgeküsst, egal wie alt ich war.“
In der Schule erzählte Helga nichts von ihrer jüdischen Herkunft. Dennoch wurde sie eines Tages von einem Jungen attackiert: „Er beschimpfte mich: ‚Du siehst aus wie eine Jüdin!’ Ich erzählte davon zu Hause, und meine Mutti wandte sich an die Jüdische Gemeinde: ‚Ich bin als Kind bespuckt und geschlagen worden und meiner Tochter passiert das auch. Das gibt es doch nicht!’ Ein Vorstandsmitglied, ein Freund meiner Großeltern, ging zum Oberbürgermeister und redete Tacheles. Dann kam der Vorsitzende in die Schule. Das war die Geschichte, eine dunkle Geschichte. Hinterher passierte gar nichts. Absolute Ruhe. Auch meine Lehrerin sagte nichts. Ich wurde nie wieder belästigt.“
Auch Eva Nickel erinnert sich an einen antisemitischen Vorfall während ihrer Ausbildung zur Gewandschneiderin: „Dann begann im Juni 1967 der Sechstagekrieg in Israel. In einer Mitarbeiterversammlung mit der üblichen Politschulung informierte man uns alle über die Lage der kriegerischen Auseinandersetzungen aus DDR-Sicht. In der Diskussion wurde geurteilt: ‚Die sind schlimmer als die Nazis!‘ Ich war wütend und überlegte, was ich tun könnte. Ich dachte, du musst jetzt etwas sagen, du kannst dir das nicht gefallen lassen! Klopfenden Herzens meldete ich mich und erzählte von meiner Tante, die in Israel lebte. Dass sie vor den Nazis aus Berlin geflohen war und dass es nicht anginge, sie als Nazi zu bezeichnen. Und dass ich nicht der Meinung bin, dass die Israelis Nazis seien. Ich fand mich enorm mutig und war mir der Konsequenzen nicht bewusst.“
Daraufhin wurde Eva zu einer Aussprache mit der FDJ- und Parteileitung einbestellt. Dort wies sie auf ihre Familiengeschichte hin und auch darauf, dass im Kreis der Kolleginnen bisweilen antisemitische Sprüche fielen. Bis dahin hatte Eva sich nicht getraut, auf diese Bemerkungen zu reagieren. Ihre Kolleginnen leugneten alles und mobbten Eva nach diesem Vorfall. Helga und Eva erzählen beide recht ausführlich von ihren antisemitischen Erlebnissen und wie sie (beziehungsweise. Helgas Mutter) sich dagegen wehrten. Nicht alle unsere Gesprächspartnerinnen berichten von solchen Erfahrungen. Antisemitismus wurde von ihnen auf sehr unterschiedliche Art und Weise wahrgenommen und bewertet. Gleichwohl verschwiegen die meisten von ihnen ihr Judentum in der Öffentlichkeit, in der Schule oder auf der Arbeit, möglicherweise, weil die Angst vor Antisemitismus, explizit oder implizit vermittelt durch die Familie, durchaus präsent war.
Berufstätigkeit und Gemeindealltag
Sowohl Eva als auch Helga waren – in der DDR selbstverständlich – berufstätig. Nach ihrer Ausbildung zur Gewandschneiderin und zum Wirtschaftskaufmann studierte Eva Ökonompädagogik und war zwanzig Jahre in der Ausbildung von Lehrlingen tätig. Helga lernte einen Beruf, heiratete und wurde Mutter von drei Söhnen. Lange Jahre pflegte sie ihre kranke Mutter: „Heute frage ich mich, wie ich das überhaupt schaffte.“
Auch Eva blieb der Gemeinde als Erwachsene eng verbunden. In den Siebzigerjahren wurde sie vom Gemeindevorsitzenden gefragt, ob sie die Kindergruppe weiter aufbauen würde. „Ich übernahm das gern. Ich erinnere mich, dass der Vertreter des Vorstands, der für die Jugendarbeit zuständig war, mir immer sagte: ‚Mach keine Pioniergruppe daraus!‘ Das hatte ich natürlich gar nicht vor. Wir beschäftigten uns mit jüdischen Themen und nicht mit dem ‚Aufbau des Sozialismus‘!“
Glückwunschkarte aus der Jüdischen Gemeinde Berlin (Ost); Berlin ca. 1980-1989; Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel (© Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel)
Glückwunschkarte aus der Jüdischen Gemeinde Berlin (Ost); Berlin ca. 1980-1989; Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel (© Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel)
Eva lag die Arbeit mit den Kindern sehr am Herzen. Sie erzählt ausführlich über die Treffen, bei denen sie gemeinsam mit den Kindern bastelte, Feiertagsgerichte zubereitete, ihnen Märchen vorlas.
Oft musste sie improvisieren, denn es gab keinen Lehrplan und keine pädagogischen Materialien. „Wir bastelten auch gemeinsam Glückwunschkarten zu Rausch Haschonoh,
Die meisten Kinder hatten nur wenig jüdisches Wissen zu Hause mitbekommen: „Mir ging es darum, die Mädchen und Jungen für das Judentum zu begeistern“, erinnert sich Eva: „Ich hatte zwar eine pädagogische Ausbildung, die Arbeit mit der Kindergruppe war aber Learning by Doing. Die Bedürfnisse der verschiedenen Altersgruppen zusammenzubringen – die Kinder waren zwischen acht und dreizehn Jahren alt – war eine Herausforderung. Ich mochte diese Arbeit sehr und die Kinder kamen gern zu mir. Einige gingen, als sie älter waren, zur Jugendgruppe.“
Auch Helga kümmerte sich über längere Zeit um ihre schwer erkrankte Mutter: „Meine Mutti starb 1984 mit 54 Jahren. Das ist doch kein Alter! Ihre Krankheit war eine Auswirkung der Nazizeit.“
Helga erzählt, dass sie die DDR nicht vermisst. Sie schätzte den Vorsitzenden der Leipziger Gemeinde, Eugen Gollomb (1917-1988) sehr, weil er, wie sie sagt, nie ein Blatt vor den Mund nahm, sich nicht von den Stasi-Leuten, die in die Synagoge kamen, beeindrucken ließ.
Marion Kahnemann – Gemeinde als Familienersatz
Marion Kahnemann kann als Beispiel dafür gelten, dass die abwesende jüdische Familie, vor allem die Leerstelle „jüdische Mutter“, durch die jüdische Gemeinschaft, die Marion in der Dresdner Gemeinde fand, ersetzt wurde. Marion, 1960 in Dresden geboren, war erst 16 Jahre alt, als ihr Vater, den die Nationalsozialisten in die Emigration nach Bolivien gezwungen hatten, starb. Das Verhältnis der Eltern untereinander beschreibt sie als spannungsgeladen. Auch sie selbst versteht sich mit ihrer Mutter schlecht. Nach dem Tod des Vaters sucht sie als junges Mädchen den Weg in die Gemeinde und erfährt eine freundliche Aufnahme. Insbesondere ein älteres Gemeindemitglied, die Überlebende Johanna Krause, die verwitwet und kinderlos ist,
Plastik 'Henriette' von Marion Kahnemann, ca. 1985 (© Marion Kahnemann)
Plastik 'Henriette' von Marion Kahnemann, ca. 1985 (© Marion Kahnemann)
Marion erzählt: „Besonders viel habe ich mich mit Johanna Krause unterhalten. Wir haben sehr viel miteinander geredet. Sie war in diesem Kreis die wichtigste für mich.“
Das jüdische Kinderferienlager
Engagiert wie sie ist und in Ermangelung anderer Helferinnen und Helfer, wird ihr die Betreuung von circa 20 Kindern aus der ganzen Republik im jüdischen Sommerferienlager in Glowe auf der Insel Rügen übertragen. „Vor der Wende, das muss in meinem ersten Studienjahr gewesen sein, hatten sie mich in der Gemeinde gefragt, sie hatten ja nicht so viele Leute, die das hätten übernehmen können, ob ich nicht als Helferin mit nach Glowe fahren will. Ich war sehr jung. Ich meine, 21. Ich habe zugesagt, denn die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat mich interessiert.“
Die „sozialistische Erziehung“, für die formelle staatliche und gesellschaftliche Institutionen wie Schule, Medien und gesellschaftliche Organisationen Verantwortung trugen
Neuorientierung nach dem Ende der DDR
Mit dem Ende der DDR hieß es auch für die ostdeutschen Jüdinnen, sich neu zu orientieren. Diese Neuorientierung bezog sich ebenso auf das Judentum und die Gemeinden. Vormals familiäre Zusammenkünfte im kleinen Kreis wuchsen nach der Einwanderung der russischsprachigen Jüdinnen und Juden zu einer Veranstaltungsgröße mit mehreren Dutzenden Teilnehmenden. Marion ergreift verschiedene Gelegenheiten ihren Wissensdurst zu stillen und verbringt ein Jahr in Stockholm, um an der akademischen Einrichtung Paideia jüdische Texte zu studieren. Die Umwälzungen im Zuge der Wiedervereinigung bringen jedoch nicht nur Gelegenheiten mit sich, sondern ebenso ökonomische Belastungen. Für manche stand die Existenzsicherung im Vordergrund und die Verbindung, die mit der Jüdischen Gemeinde bis dahin bestand, löste sich auf.
Marions Hoffnungen auf eine prosperierende, lebendige jüdische Gemeinschaft in Dresden erfüllten sich nicht. Der Anstrengung, die Neuankömmlinge zu integrieren, fiel die Bewahrung der mühsam aufrecht erhaltenen Traditionen während der DDR-Zeit zum Opfer. Und obwohl sich die Schicksalsstrukturen in Ost (DDR) und Ost (UdSSR) ähnelten, gelang es nicht, daraus eine gemeinsame Vision für jüdisches Leben, geschweige denn solidarische Entwürfe für weibliche jüdische Perspektiven zu entwickeln.
Andrea Tatjana Wigger – Suche nach Individualität und Zugehörigkeit
Die Biographie von Andrea Tatjana Wigger ist, anders als Marion Kahnemanns Leben, von vielen starken Frauen in der Familie geprägt. Ob sich daraus eine weibliche Perspektive konstruieren lässt, muss offenbleiben. Tatjanas Großmutter stammte aus Frankfurt am Main und überlebte die Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam mit ihrer Mutter in Großbritannien, wohin sie mit einem Kindertransport flüchten konnte. In London lernt sie ihren späteren Mann kennen und gründet noch im Exil eine Familie. Schließlich kehrt das junge Ehepaar mit zwei kleinen Mädchen, eine davon Tatjanas Mutter, 1947 nach Deutschland zurück.
Der Großvater kommt bei einem Autounfall 1949 ums Leben und Tatjanas Großmutter wird mit nur 25 Jahren Witwe. Die Großmutter heiratet zwar ein zweites Mal, aber dieser Mann stirbt, da ist Tatjana noch ein Baby. Ihre Eltern wiederum lassen sich frühzeitig scheiden. Obwohl sie sich mit dem nichtjüdischen Stiefvater gut versteht, bleiben die Bezugspersonen in ihrer Familie eindeutig die Frauen. Sie selbst wird 2003 Mutter einer Tochter und versucht, dieser jüdische Traditionen nahe zu bringen.
Es ist ein bunter Mix aus einem selbstbewussten Judentum, das fest verankert ist in der turbulenten Familiengeschichte: „Wenn man schwanger ist, muss man sich die Gretchenfrage stellen: Wie hältst du’s mit der Religion? Ich habe meine Tochter Naomi genannt, und ich liebe Weihnachten. Ich muss das haben! Ich brauche auch diesen Baum, jedoch keine Engel! Die gab es nie in unserer Familie. Keine Engel, keine Weihnachtsmänner, keine Rute und auch keine Weihnachtslieder. Wir haben auch eine Glocke, die ist von Deutschland nach England und von England wieder zurück nach Deutschland gewandert, und die klingelt nur einmal im Jahr am 24. Dezember um Fünf zur Bescherung.
Ich feiere auch Schabbat und ich zünde gern die Chanukkia an. Ich lese die Geschichten, die zu den jüdischen Feiertagen gehören. Meine Tochter wurde Bat Mizwa und ab und zu gehen wir in die Synagoge.“
Tatjana wiederum beginnt während der Adoleszenz eine Suche nach Sinn und Verbindung, Individualität und Dazugehörigkeit. Diese Suche drückt sich vor allem in der Sehnsucht nach äußerlicher Unverwechselbarkeit aus, unverwechselbar zu anderen DDR-Jugendlichen. Das große Vorbild war die junge Frau im Westen: „Trugen die Frauen in Paris im Sommer Stiefel zu ihren ärmellosen Kleidern, dann konnte auch dieser Modetrend ebenso wenig wie der Wunsch nach Jeans am Eisernen Vorhang gestoppt werden.“
Darüber hinaus spiegelt sich Tatjanas Sehnsucht nach Unverwechselbarkeit in ihrer Studienwahl. Sie versucht, der empfundenen Enge der DDR mit Hilfe eines Sprachstudiums zu entkommen. Schließlich fällt die Mauer und alle Pläne müssen neu justiert werden. Heute arbeitet Tatjana als Lehrerin am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn in Berlin und hat auch in der Fächerwahl das Judentum zu einem Bestandteil ihrer Identität gemacht. Sie unterrichtet Hebräisch und Darstellendes Spiel.
Fazit
Ausgangsmaterial der hier vorgestellten vier Biographien sind die in unserem Interviewband „Jung und jüdisch in der DDR“ zusammengetragenen Erinnerungen, in denen die Gesprächspartnerinnen Auskunft darüber geben, was ihnen wichtig schien, was sie bewegte oder auch, was sie verletzte. Allein der Topos „Erinnerungen“ verweist darauf, dass es nicht unser Interesse war, historisch verbürgte Ereignisse nachzuerzählen und in Form einer Oral History „beglaubigen“ zu lassen. Unser Erkenntnisinteresse wurde eher von dem Wunsch geleitet, zu erkunden, welchen Niederschlag Geschichte in persönlichen Reflexionen gefunden hat.
So gibt eine Gesprächspartnerin zu Protokoll: „Ich bin mir hinsichtlich meiner Erinnerungen nicht sicher, inwieweit diese der Realität entsprechen und was ich im Laufe der Zeit ergänzt habe. Aber mir war schon als Kind bewusst, dass die Familiengeschichte besonders war, geheim.“ Damit wird auch deutlich, dass Erinnerungen nicht als verlässliche Quellen zitiert werden. Vielmehr lesen wir sie als Erfahrungssedimente, die die Verarbeitung von Erlebtem und Empfundenem immer wieder aufs Neue spiegeln und bei Befragung an die Oberfläche gelangen.
Die Geschichte jüdischer Frauen in der DDR gelangte bisher zu wenig an die Oberfläche. Jüdische Frauen fanden in den Publikationen weniger Beachtung, da sie nur selten (offizielle) Spitzenfunktionen in den Gemeinden innehatten und nicht als Teil der intellektuellen Elite der DDR publiziert und wahrgenommen wurden. Die in diesem Beitrag vorgestellten vier Beispiele geben vor allem die Alltagserfahrungen in der DDR wieder und zeigen die Lebens- und Gefühlswelten der porträtierten Frauen. Die eingangs erwähnten Klischees von „der DDR-Frau“ und „der Jüdin“ finden wenig Widerhall in den individuellen Erzählungen, die sich zu einem vielschichtigen Bild zusammenfügen, das diese stereotypen Vorstellungen infrage stellt.
Die historischen Aufzeichnungen, in denen die Frauen und ihre Perspektive fehlen, wie Marion Kaplan in dem eingangs zitierten Kommentar schreibt, müssen durch erinnerte (Alltags-)Geschichte ergänzt und korrigiert werden. Nur auf diese Weise können sie Geschichte werden, kann die Geschichte angemessen erzählt und letzten Endes zitiert und weitergegeben werden.
Zitierweise: "Eine weibliche Perspektive auf jüdische Kindheit und Jugend in der DDR“, Sandra Anusiewicz-Baer/Lara Dämmig, in: Deutschland Archiv, 5.7.2022, Link: www.bpb.de/510151.