Vorweg ein Zitat der US-amerikanischen Historikerin Marion Kaplan: „Das Fehlen der Frauen in Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Geschichte hat unsere Vorstellungen von dem, was Geschichte 'ist' ebenso verzerrt, wie die Schlüsse, die wir daraus zogen. Indem wir Frauen sichtbar machen, ändern wir nicht nur deren Bedeutung, sondern auch den Blick, wie wir Geschichte als Ganzes betrachten." Zur Auflösung der Fußnote[1]
Bezeichnenderweise stammt dieses Zitat aus einem Band Marion Kaplans, der sich mit dem Konzept Familie beschäftigt – ein Terrain, das „dem täglichen Leben, dem Privaten und dem Individuellen eine größere Aufmerksamkeit schenkte (…).“ Zur Auflösung der Fußnote[2] Genau dort, im Alltag, im Privaten und Individuellen hat die Erforschung der Geschichte von Frauen ihren Ausgang genommen. Es ist die Erforschung der „persönlichen Beziehungen und Gefühle“, Zur Auflösung der Fußnote[3] wie Kaplan es ausdrückt, die die Möglichkeit eröffnet, das Dazwischen zu erkunden – den Raum zwischen dem gesellschaftlichen Außen und dem nichtöffentlichen Innen.
Jüdisch und weiblich – eine Minderheitserfahrung
Die 1700-jährige Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland war seit jeher eine Minderheitsgeschichte. Jüdische Frauen bildeten und bilden die eine Hälfte dieser Minderheit. Die Erfahrungen und die Erzählungen jüdischer Frauen aus dem ehemaligen Osten bilden den äußersten Rand dieser Minderheitsgeschichte. Jüdische Alltagserfahrungen in der DDR fanden nur wenig Beachtung, sei es in der öffentlichen Wahrnehmung oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Zur Auflösung der Fußnote[4] Das war durchaus folgerichtig, da es sich nach der Fluchtwelle in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre Zur Auflösung der Fußnote[5] um eine Gruppe von nur wenigen hundert Gemeindemitgliedern handelte. Zur Auflösung der Fußnote[6]
Wir richten das Vergrößerungsglas auf eine sehr kleine, noch dazu stark diverse Gruppe. Sie setzte sich keineswegs nur aus hochrangigen Kulturfunktionär:innen und Star-Intellektuellen zusammen. Neben Remigrant:innen, die häufig aus kommunistischen Überzeugungen einen Neuanfang in Ostdeutschland wagten, versammelten sich Gestrandete aus den DP-Lagern, aus Israel Zurückgekehrte , Überlebende aus dem Untergrund und aus gemischten Ehen, sowie die, die dem Grauen und Sterben in den Todes- und Konzentrationslagern entkommen waren. Untersucht und sichtbar gemacht werden sollen in diesem Beitrag die Berichte von Jüdinnen, die in der DDR aufwuchsen. Diese Berichte sind aus persönlichen Beziehungen und unserem gemeinsam geteilten ostdeutsch-jüdischen Erfahrungsraum erwachsen. Wir wollen vier weibliche Lebenswege in den Mittelpunkt rücken, die nicht viel mehr vereint als eben die Tatsache, dass sie Frauen sind, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR erlebt haben. Indem wir ihre Schilderungen betrachten, ergänzen wir die Geschichte um neue Aspekte und um eine erweiterte, bisher vernachlässigte Perspektive.
Klischees: „die DDR-Frau“ und „die Jüdin“
Mit der „DDR-Frau“ verbinden sich zahlreiche Mythen: die erwerbstätige Mutter, die „ihren Mann" in der Produktion stand, jung verheiratet und dennoch wirtschaftlich unabhängig. Die kommunistische Ideologie schuf eine neue Frau mit sozialistischer Persönlichkeit, die ihre „persönlichen Interessen und Bedürfnisse hinter die der Gesellschaft, des Staates und der Partei zurückstell(te).“ Zur Auflösung der Fußnote[7] Auch das Bild der jüdischen Frau ist geprägt von klischeehaften Vorstellungen: sei es die schöne Jüdin, die jiddische Mamme oder die kämpferische Sabra, die die Aufbaugeneration in den Kibbutzim verkörperte. Inwieweit entsprachen junge jüdische Frauen in der DDR diesen Vorgaben und Vorstellungen?
Für unseren Interviewband „Jung und jüdisch in der DDR“ haben wir 20 Gespräche geführt, 13 davon mit Frauen. Die älteste Gesprächspartnerin wurde 1948 in Berlin geboren, die jüngste 1973, ebenfalls in Berlin. Ihre Erzählungen spannen ein ganzes Leben in der DDR oder berühren eine bewegte Jugendzeit, geprägt von Unsicherheiten und Identitätssuche. Die Anzahl der Interviews verweist darauf, dass es hier nicht um die Darstellung repräsentativer Ergebnisse geht. Die sehr unterschiedlichen Geschichten stehen vielmehr exemplarisch für die Heterogenität dieser Gemeinschaft. Indem wir einzelne Lebensgeschichten kaleidoskopisch beleuchten, hoffen wir, sie in einen größeren Zusammenhang zu bringen, um damit den Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte zu weiten. Vorausgeschickt werden muss, dass das Frausein nicht explizit Thema unserer Interviews war und sich unsere 13 Gesprächspartnerinnen nicht als Frau erzählt haben. Vielmehr begegnet uns eine geschlechtsunspezifische Erzählform oder das generische Maskulinum. Auffällig unbefangen und selbstbewusst verwendeten unsere Gesprächspartnerinnen die Bezeichnung „Jude“ statt „Jüdin“, wenn sie von sich sprachen. Im Osten benutzten Frauen auch selbstverständlich für sich die Begriffe „Lehrer“ oder „Ingenieur“. Zur Auflösung der Fußnote[8]
Normierte Familienvorstellungen
Die DDR verstand sich als ein weitgehend homogener Staat mit klar definierter Nationalität: Deutsch. Auch für abweichende Lebensstile gab es nur wenig Raum. Zur Auflösung der Fußnote[9] Ebenso waren die Vorstellungen von Familie normiert. „In einem Land, in dem das durchschnittliche Alter bei der ersten Heirat für Frauen bei 22 und für Männer bei 24 Jahren lag, erregten Unverheiratete durchaus Aufmerksamkeit.“ Zur Auflösung der Fußnote[10] Auch wenn die neue finanzielle Unabhängigkeit den Frauen in der DDR eine größere Entscheidungsfreiheit einräumte, wen sie heirateten, blieb die Erwartung, dass man heiratete, bestehen. Die demographische Zusammensetzung der kleinen jüdischen Gemeinschaft in der DDR machte die Wahl eines jüdischen Partners jedoch nahezu unmöglich. Es gab schlicht nicht genügend jüdische Männer im heiratsfähigen Alter. Zur Auflösung der Fußnote[11] Da, mit zwei Ausnahmen, alle von uns interviewten Frauen aus gemischten Familien stammten, ist anzunehmen, dass die „Hemmschwelle“, einen nichtjüdischen Partner zu heiraten, niedrig war.
Andererseits weckte in nicht wenigen das Fehlen einer jüdischen Mutter die Sehnsucht, einen jüdischen Partner zu finden, um eine eigene jüdische Familie gründen zu können. Unglückliche Beziehungen zwischen den Eltern mögen zu dem Wunschdenken geführt haben, mit einem jüdischen Mann ließe sich auch die „Vergangenheit heilen“. Nur ließ sich dieses Wunschdenken nicht in die Realität übersetzen. Rivka, 1966 in der Nähe von Berlin geboren, sagt zum Beispiel: „Als Jugendliche hatte ich zeitweilig sehr romantische Vorstellungen vom Judentum und dachte daran, religiös zu werden. Ich wollte einen gelehrten Juden heiraten und viele Kinder bekommen. Für mich war die jüdische Gemeinschaft eine große Wunschfamilie.“ Zur Auflösung der Fußnote[12] Zu vermuten ist, dass die Verlusterfahrungen durch die Shoah, die bis in die Zweite und Dritte Generation hinein spürbar waren, mit der Vorstellung einer großen, kinderreichen Familie ausgeglichen werden sollten. Wo sich diese Vorstellung nicht verwirklichen ließ – und das war bei den meisten der Fall – trat die Jüdische Gemeinde an die Stelle einer großen "Mischpoke".
Eva Nickel und Helga Zur Auflösung der Fußnote[13] - frühe Erfahrungen
Als die DDR 1949 gegründet wurde, war Eva Nickel ein Jahr alt. Sie wurde 1948 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding, im Westteil der Stadt, geboren. Ihre Mutter hatte die NS-Zeit im Untergrund überlebt. Ihre beiden kleinen Töchter, Evas Halbschwestern, wurden in Auschwitz ermordet. Nach der Befreiung heiratete die Mutter den Sohn einer ihrer Retterinnen, Evas Vater. „Von klein auf ging ich in die Jüdische Gemeinde. Das war vor allem meinem nichtjüdischen Vater wichtig, meiner Mutter aber auch. Er wollte mich zur ‚politischen Jüdin’ erziehen, weil meine Schwestern Ruthchen und Gitti 1944 in Auschwitz ermordet worden waren. Ich wurde für sie geboren, ich hatte eine Nachfolge, einen Kampf anzutreten.“ Zur Auflösung der Fußnote[14] Evas Familie wohnte nicht weit weg von der Synagoge in der Rykestraße, wohin die Familie zu den Feiertagen ging: „Ich erinnere mich, dass die Synagoge oft voll war, dass viele Kinder kamen, insbesondere zu Simchas Tauroh.“ Zur Auflösung der Fußnote[15] Aber: „Von Jahr zu Jahr, bis 1961, leerte sich die Synagoge immer mehr, weil viele in den Westen gingen.“ Zur Auflösung der Fußnote[16] Die Berliner Gemeinde war die größte in der ehemaligen DDR. 1953 spaltete sie sich, nur ein kleiner Teil der Mitglieder verblieb im Osten der Stadt. 1957 zählte sie ungefähr 1.000 Mitglieder, 1990 waren es nur noch 200. Zur Auflösung der Fußnote[17] Auch in den anderen Jüdischen Gemeinden der DDR vollzog sich eine ähnliche Entwicklung. Infolge der antisemitischen Politik der SED Anfang der 1950er-Jahre flüchtete mindestens ein Viertel der Mitglieder in den Westen. Zur Auflösung der Fußnote[18] Die Mitgliederzahl der acht Gemeinden sank aufgrund der Altersstruktur weiter kontinuierlich. 1946 lebten in der sowjetischen Besatzungszone circa 4.000 Mitglieder, zum Ende der DDR waren es keine 400 mehr. Zur Auflösung der Fußnote[19]
Die Leipziger Gemeinde war einst die sechstgrößte in Deutschland. 1949, als Helga geboren wurde, zählte sie 349 Mitglieder, 1989 waren es nur noch 36. Zur Auflösung der Fußnote[20] Helgas Familie überlebte die Nazizeit in Ratibor in Schlesien (heute Racibórz in Polen). Ihre Großmutter konvertierte zum Judentum, als sie heiratete.
Chanukkaleuchter von Helgas Großeltern - aus Ratibor nach Leipzig mitgenommen (© Privat)
Nach der Befreiung flüchtete die Familie nach Leipzig. „Ich war Mitglied der Gemeinde. Das war meiner Mutti wichtig. Wir gingen zu den Feiertagen in die Synagoge, aber auch mal zum Schabbes“, erinnert sich Helga. „Es war immer schön dort. Mich kannten alle von Geburt an. Ich war immer die Kleine. Wenn wir kamen, wurde ich immer abgeküsst, egal wie alt ich war.“ Zur Auflösung der Fußnote[21] Die Gemeinde empfand sie als große Familie. Alle kannten sich, feierten zusammen die jüdischen Feiertage: „Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich meine Bat Mizwa. Ich wurde von Kantor Sander Zur Auflösung der Fußnote[22] während des Gottesdienstes zur Einsegnung nach vorn gerufen. Ich erinnere mich, dass ich auch etwas auf Hebräisch vorlas, was jemand vorher mit mir einstudiert hatte. Von der Gemeinde bekam ich damals ein Gebetbuch geschenkt.“ Zur Auflösung der Fußnote[23] Bar Mizwas, Hochzeiten oder Beschneidungen waren äußerst seltene Ereignisse in den Gemeinden. Dass ein Mädchen Bat Mizwa wurde, war alles andere als selbstverständlich: „Ich hätte gern eine gewollt. Aber das war damals noch nicht üblich.“, erzählt Eva Nickel. Zur Auflösung der Fußnote[24] Sie besuchte als Kind den Religionsunterricht von Rabbiner Riesenburger (1896-1965). Nach dem Tod von Riesenburger und Sander waren es meist Gemeindemitglieder, die die religiöse Unterweisung der Kinder und deren Vorbereitung auf die Bar und Bat Mizwa übernahmen.
In der Schule erzählte Helga nichts von ihrer jüdischen Herkunft. Dennoch wurde sie eines Tages von einem Jungen attackiert: „Er beschimpfte mich: ‚Du siehst aus wie eine Jüdin!’ Ich erzählte davon zu Hause, und meine Mutti wandte sich an die Jüdische Gemeinde: ‚Ich bin als Kind bespuckt und geschlagen worden und meiner Tochter passiert das auch. Das gibt es doch nicht!’ Ein Vorstandsmitglied, ein Freund meiner Großeltern, ging zum Oberbürgermeister und redete Tacheles. Dann kam der Vorsitzende in die Schule. Das war die Geschichte, eine dunkle Geschichte. Hinterher passierte gar nichts. Absolute Ruhe. Auch meine Lehrerin sagte nichts. Ich wurde nie wieder belästigt.“ Zur Auflösung der Fußnote[25] Der Vorfall wurde jedoch von einer Zeitschrift aufgegriffen. Im Juni 1962 erschien in der „Freien Welt“ ein Beitrag mit der Überschrift „Ein Kind wie tausend andere“. Zur Auflösung der Fußnote[26] Dort wird ausgeführt, dass es an der 34. Oberschule in Leipzig, die Helga besuchte, zwar jüdische Kinder gäbe, dass aber niemand sie kenne, weil das keine Rolle spiele – als wenn nichts passiert wäre! Die Familie des jüdischen Jungen Peter, der mit seiner Familie in einer Kleinstadt in Westdeutschland lebe, müsse dagegen die Heimat zum zweiten Mal verlassen, um dem dort erlebten Antisemitismus zu entkommen. Diese Gegenüberstellung entsprach dem Selbstverständnis der DDR als antifaschistischer Staat, in dem es offiziell keinen Antisemitismus gab: „Es mag auch unter uns noch einzelne Menschen geben, in deren Köpfen Überreste der faschistischen Rassetheorie spuken. Aber der Antisemitismus als Erscheinung des öffentlichen Lebens ist tot“, heißt es weiter in dem Artikel, der in der Schlussfolgerung gipfelt, dass die Abwesenheit von Antisemitismus den Anspruch der DDR rechtfertige, „die Zukunft der gesamten deutschen Nation zu bestimmen.“ Zur Auflösung der Fußnote[27]
Auch Eva Nickel erinnert sich an einen antisemitischen Vorfall während ihrer Ausbildung zur Gewandschneiderin: „Dann begann im Juni 1967 der Sechstagekrieg in Israel. In einer Mitarbeiterversammlung mit der üblichen Politschulung informierte man uns alle über die Lage der kriegerischen Auseinandersetzungen aus DDR-Sicht. In der Diskussion wurde geurteilt: ‚Die sind schlimmer als die Nazis!‘ Ich war wütend und überlegte, was ich tun könnte. Ich dachte, du musst jetzt etwas sagen, du kannst dir das nicht gefallen lassen! Klopfenden Herzens meldete ich mich und erzählte von meiner Tante, die in Israel lebte. Dass sie vor den Nazis aus Berlin geflohen war und dass es nicht anginge, sie als Nazi zu bezeichnen. Und dass ich nicht der Meinung bin, dass die Israelis Nazis seien. Ich fand mich enorm mutig und war mir der Konsequenzen nicht bewusst.“ Zur Auflösung der Fußnote[28]
Daraufhin wurde Eva zu einer Aussprache mit der FDJ- und Parteileitung einbestellt. Dort wies sie auf ihre Familiengeschichte hin und auch darauf, dass im Kreis der Kolleginnen bisweilen antisemitische Sprüche fielen. Bis dahin hatte Eva sich nicht getraut, auf diese Bemerkungen zu reagieren. Ihre Kolleginnen leugneten alles und mobbten Eva nach diesem Vorfall. Helga und Eva erzählen beide recht ausführlich von ihren antisemitischen Erlebnissen und wie sie (beziehungsweise. Helgas Mutter) sich dagegen wehrten. Nicht alle unsere Gesprächspartnerinnen berichten von solchen Erfahrungen. Antisemitismus wurde von ihnen auf sehr unterschiedliche Art und Weise wahrgenommen und bewertet. Gleichwohl verschwiegen die meisten von ihnen ihr Judentum in der Öffentlichkeit, in der Schule oder auf der Arbeit, möglicherweise, weil die Angst vor Antisemitismus, explizit oder implizit vermittelt durch die Familie, durchaus präsent war.
Berufstätigkeit und Gemeindealltag
Sowohl Eva als auch Helga waren – in der DDR selbstverständlich – berufstätig. Nach ihrer Ausbildung zur Gewandschneiderin und zum Wirtschaftskaufmann studierte Eva Ökonompädagogik und war zwanzig Jahre in der Ausbildung von Lehrlingen tätig. Helga lernte einen Beruf, heiratete und wurde Mutter von drei Söhnen. Lange Jahre pflegte sie ihre kranke Mutter: „Heute frage ich mich, wie ich das überhaupt schaffte.“ Zur Auflösung der Fußnote[29] Die Familie fühlte sich der Jüdischen Gemeinde sehr verbunden, aber der Alltag ließ wenig Zeit für das Gemeindeleben: „Als ich verheiratet war, Kinder hatte und in Schichten arbeitete, schaffte ich es nicht mehr, regelmäßig zu den Gottesdiensten zu gehen. Immer, wenn ich in die Shul [Synagoge] kam, fragte Aron Adlerstein Zur Auflösung der Fußnote[30] mich: ‚Helga, wo warst Du? Wo waren die Kinder?‘ Wir sind alle in die Gemeinde gekommen, die ganze Familie. Mein Mann, der nicht jüdisch ist, machte viel für die Gemeinde, reparierte zum Beispiel mit den beiden älteren Söhnen die Friedhofsmauer. Es war damals schwierig, Handwerker zu bekommen und mein Mann war immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde.“ Zur Auflösung der Fußnote[31] Es ist durchaus bemerkenswert, dass es für Helgas nichtjüdischen Mann selbstverständlich war, sich in der Gemeinde zu engagieren. Häufig hatten die nichtjüdischen Partner:innen kaum Bezug zur Gemeinde, kamen lediglich als Begleitung zu Veranstaltungen und Gottesdiensten und zeigten darüber hinaus wenig Interesse am Judentum.
Auch Eva blieb der Gemeinde als Erwachsene eng verbunden. In den Siebzigerjahren wurde sie vom Gemeindevorsitzenden gefragt, ob sie die Kindergruppe weiter aufbauen würde. „Ich übernahm das gern. Ich erinnere mich, dass der Vertreter des Vorstands, der für die Jugendarbeit zuständig war, mir immer sagte: ‚Mach keine Pioniergruppe daraus!‘ Das hatte ich natürlich gar nicht vor. Wir beschäftigten uns mit jüdischen Themen und nicht mit dem ‚Aufbau des Sozialismus‘!“
Glückwunschkarte aus der Jüdischen Gemeinde Berlin (Ost); Berlin ca. 1980-1989; Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel (© Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2020/91/14, Schenkung von Eva Nickel)
Eva lag die Arbeit mit den Kindern sehr am Herzen. Sie erzählt ausführlich über die Treffen, bei denen sie gemeinsam mit den Kindern bastelte, Feiertagsgerichte zubereitete, ihnen Märchen vorlas.
Oft musste sie improvisieren, denn es gab keinen Lehrplan und keine pädagogischen Materialien. „Wir bastelten auch gemeinsam Glückwunschkarten zu Rausch Haschonoh, Zur Auflösung der Fußnote[32] Pessach oder Chanukka. Zur Auflösung der Fußnote[33] Es gab damals nur in der Gemeinde und nur limitiert solche Karten zu kaufen. Ich besorgte Briefkarten und Umschläge, Gold- und Buntpapier, und wir bastelten jüdische Motive. Die Kinder brachten auch Karten mit, die sie zu Feiertagen von Verwandten erhalten hatten, schnitten die Motive aus und klebten sie auf eine Karte.“ Zur Auflösung der Fußnote[34]
Die meisten Kinder hatten nur wenig jüdisches Wissen zu Hause mitbekommen: „Mir ging es darum, die Mädchen und Jungen für das Judentum zu begeistern“, erinnert sich Eva: „Ich hatte zwar eine pädagogische Ausbildung, die Arbeit mit der Kindergruppe war aber Learning by Doing. Die Bedürfnisse der verschiedenen Altersgruppen zusammenzubringen – die Kinder waren zwischen acht und dreizehn Jahren alt – war eine Herausforderung. Ich mochte diese Arbeit sehr und die Kinder kamen gern zu mir. Einige gingen, als sie älter waren, zur Jugendgruppe.“ Zur Auflösung der Fußnote[35] Als sie sich um ihre kranke Mutter kümmern musste, die 1987 starb, schaffte sie es nicht mehr, die Kindergruppe zu betreuen: „Sie war durch ihre Erlebnisse in der NS-Zeit traumatisiert. Es nahm mich sehr mit, sie beim Sterben zu begleiten, weshalb ich nicht mehr zusätzlich zu meiner Tätigkeit mit der Kindergruppe arbeiten konnte.“ Zur Auflösung der Fußnote[36]
Auch Helga kümmerte sich über längere Zeit um ihre schwer erkrankte Mutter: „Meine Mutti starb 1984 mit 54 Jahren. Das ist doch kein Alter! Ihre Krankheit war eine Auswirkung der Nazizeit.“ Zur Auflösung der Fußnote[37] Eva beschreibt ihr Verhältnis zur DDR als ambivalent: „Die Gemeinde war für mich eine Nische. Erst später begriff ich, dass ich auch dort vorsichtig sein musste, weil es sehr viele IMs [inoffzielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit] gab. Zur Auflösung der Fußnote[38] Nach der Wende verlor Eva ihre Arbeit: „Ich fing an, als Sozialarbeiterin bei der Jüdischen Gemeinde zu arbeiten und blieb dort bis zur Rente. Ich holte so viel nach! Die Kontakte, die ich durch die Gemeinde knüpfen konnte, waren eine unheimliche Bereicherung. Mein Wissen über jüdische Traditionen wuchs enorm. Ich engagiere mich bis heute in vielen jüdischen Organisationen wie den Child Survivors, Bet Debora, der Raoul Wallenberg Loge, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Mir wurde viel geboten und ich griff zu.“ Zur Auflösung der Fußnote[39]
Helga erzählt, dass sie die DDR nicht vermisst. Sie schätzte den Vorsitzenden der Leipziger Gemeinde, Eugen Gollomb (1917-1988) sehr, weil er, wie sie sagt, nie ein Blatt vor den Mund nahm, sich nicht von den Stasi-Leuten, die in die Synagoge kamen, beeindrucken ließ. Zur Auflösung der Fußnote[40] Nach 1989 änderte sich das jüdische Leben in Leipzig. Durch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die winzige jüdische Gemeinde. Sie umfasst inzwischen mehr als 1.000 Mitglieder. Zur Auflösung der Fußnote[41] „Die Wende war das Ende der Jüdischen Gemeinde, wie wir sie kannten. Dort ist alles jetzt ganz anders (…) Wir gehen nicht mehr in die Gemeinde, weil es nicht mehr so ist, wie es einmal war. Von uns Deutschen ist niemand mehr dort. Eine Freundin sagte mir, sie fühle sich dort wie eine Fremde. Dort ist jetzt alles sehr orthodox. Die Synagoge wurde renoviert und dort, wo die Frauen sitzen, ein Vorhang gezogen. Mir gefällt das nicht. Ich gehe nicht mehr hin, weil ich damit nicht klarkomme. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es nicht mehr. Es hat sich viel geändert. Heute ist alles sehr unpersönlich.“ Zur Auflösung der Fußnote[42] Sowohl für Eva als auch für Helga bedeutete die „Wende“ einen großen Einschnitt – wie für viele Ostdeutsche. Während Eva in Berlin eine neue jüdische Welt entdeckte, zog sich Helga aus der Leipziger Gemeinde zurück, weil sie das Gefühl hatte, dort keinen Platz mehr zu haben. Diesen beiden Tendenzen, Engagement und Rückzug begegneten wir immer wieder in unseren Gesprächen: Während die einen die Chancen nutzen, die sich ihnen in der größer gewordenen jüdischen Gemeinschaft bieten, fühlen sich andere in den Gemeinden nicht mehr zuhause oder sogar abgelehnt.
Marion Kahnemann – Gemeinde als Familienersatz
Marion Kahnemann kann als Beispiel dafür gelten, dass die abwesende jüdische Familie, vor allem die Leerstelle „jüdische Mutter“, durch die jüdische Gemeinschaft, die Marion in der Dresdner Gemeinde fand, ersetzt wurde. Marion, 1960 in Dresden geboren, war erst 16 Jahre alt, als ihr Vater, den die Nationalsozialisten in die Emigration nach Bolivien gezwungen hatten, starb. Das Verhältnis der Eltern untereinander beschreibt sie als spannungsgeladen. Auch sie selbst versteht sich mit ihrer Mutter schlecht. Nach dem Tod des Vaters sucht sie als junges Mädchen den Weg in die Gemeinde und erfährt eine freundliche Aufnahme. Insbesondere ein älteres Gemeindemitglied, die Überlebende Johanna Krause, die verwitwet und kinderlos ist, Zur Auflösung der Fußnote[43] wird für Marion zum Vorbild und zu einer engen Bezugsperson.
Plastik 'Henriette' von Marion Kahnemann, ca. 1985 (© Marion Kahnemann)
Marion erzählt: „Besonders viel habe ich mich mit Johanna Krause unterhalten. Wir haben sehr viel miteinander geredet. Sie war in diesem Kreis die wichtigste für mich.“ Zur Auflösung der Fußnote[44] Die Gemeinde, vordergründig eine religiöse Institution, wird für sie zu einem Ort, an dem sie Familiarität, Zusammengehörigkeit und den Austausch ähnlicher Lebensgeschichten erfährt. Gemeinsame Seder-Abende, Zur Auflösung der Fußnote[45] von Lewandowski-Melodien gerahmte Gottesdienste, Chanukka-Bälle oder Purim-Feiern markieren in der Erinnerung die Höhepunkte dieser „erweiterten Familienfeste“. Das schließt nicht aus, dass Marion weiteren Austausch, insbesondere mit Gleichaltrigen sucht. So wendet sie sich an die in Berlin existierende Jugendgruppe der Gemeinde und bittet darum, über Zusammenkünfte informiert zu werden, an denen sie teilnehmen kann. Begierig nimmt sie Gelegenheiten wahr, Vorträge über das Judentum zu hören, mit Gleichgesinnten aus der Gemeinde bei einem Oberlandeskirchenrat im Ruhestand Hebräisch zu lernen und alle Literatur zu jüdischen Themen, die ihr in die Hände fällt, zu verschlingen.
Das jüdische Kinderferienlager
Engagiert wie sie ist und in Ermangelung anderer Helferinnen und Helfer, wird ihr die Betreuung von circa 20 Kindern aus der ganzen Republik im jüdischen Sommerferienlager in Glowe auf der Insel Rügen übertragen. „Vor der Wende, das muss in meinem ersten Studienjahr gewesen sein, hatten sie mich in der Gemeinde gefragt, sie hatten ja nicht so viele Leute, die das hätten übernehmen können, ob ich nicht als Helferin mit nach Glowe fahren will. Ich war sehr jung. Ich meine, 21. Ich habe zugesagt, denn die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat mich interessiert.“ Zur Auflösung der Fußnote[46] Das vom Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR angebotene Ferienlager unterschied sich von den Betriebs- und Pionierlagern – etliche davon gab es auch in dem ehemaligen Fischerdorf Glowe – allein durch seine geringe Teilnehmer:innenzahl. Während die staatlichen Ferienlager von Hunderten Pionier:innen besucht wurden, konnte das Verbandslager, vergleichbar den Zusammenkünften in der Jüdischen Gemeinde, als erweitertes Familientreffen gelten.
Die „sozialistische Erziehung“, für die formelle staatliche und gesellschaftliche Institutionen wie Schule, Medien und gesellschaftliche Organisationen Verantwortung trugen Zur Auflösung der Fußnote[47] und die dementsprechend in den Betriebs- und Pionierlagern das Ferienprogramm strukturierten, spielte im jüdischen Ferienlager so gut wie keine Rolle. Die sozialistische Ideologie wurde jedoch auch nicht durch den Anspruch ersetzt, den Kindern eine jüdische Bildung angedeihen zu lassen. Dazu waren weder Marion, die Bildhauerei an der Dresdner Kunsthochschule studiert hatte, noch alle anderen, die als Leiterinnen und Leiter, als Betreuerinnen und Betreuer nach Glowe fuhren, befähigt oder pädagogisch vorgebildet. Ähnlich einem Familienurlaub, der eine Auszeit vom stressigen Alltag bedeutet und von den Eltern nicht unter pädagogischen Prämissen und Lernzielen geplant wird, wurde auch die Zeit in Glowe als zwanglose Ferienzeit gestaltet. Es ist dieses Zwanglose, Kleine und Familiäre, das einen bleibenden Eindruck bei allen Teilnehmenden hinterlassen hat und worüber Marion als junge Frau in der DDR berichtet: „Dadurch, dass unser Ferienlager so klein war, war’s viel freier. Das war wirklich diese Freiheit, und dass man unter sich war. Mehr war das eigentlich nicht. Es war einfach unideologisch und freier.“ Zur Auflösung der Fußnote[48]
Neuorientierung nach dem Ende der DDR
Mit dem Ende der DDR hieß es auch für die ostdeutschen Jüdinnen, sich neu zu orientieren. Diese Neuorientierung bezog sich ebenso auf das Judentum und die Gemeinden. Vormals familiäre Zusammenkünfte im kleinen Kreis wuchsen nach der Einwanderung der russischsprachigen Jüdinnen und Juden zu einer Veranstaltungsgröße mit mehreren Dutzenden Teilnehmenden. Marion ergreift verschiedene Gelegenheiten ihren Wissensdurst zu stillen und verbringt ein Jahr in Stockholm, um an der akademischen Einrichtung Paideia jüdische Texte zu studieren. Die Umwälzungen im Zuge der Wiedervereinigung bringen jedoch nicht nur Gelegenheiten mit sich, sondern ebenso ökonomische Belastungen. Für manche stand die Existenzsicherung im Vordergrund und die Verbindung, die mit der Jüdischen Gemeinde bis dahin bestand, löste sich auf.
Marions Hoffnungen auf eine prosperierende, lebendige jüdische Gemeinschaft in Dresden erfüllten sich nicht. Der Anstrengung, die Neuankömmlinge zu integrieren, fiel die Bewahrung der mühsam aufrecht erhaltenen Traditionen während der DDR-Zeit zum Opfer. Und obwohl sich die Schicksalsstrukturen in Ost (DDR) und Ost (UdSSR) ähnelten, gelang es nicht, daraus eine gemeinsame Vision für jüdisches Leben, geschweige denn solidarische Entwürfe für weibliche jüdische Perspektiven zu entwickeln.
Andrea Tatjana Wigger – Suche nach Individualität und Zugehörigkeit
Die Biographie von Andrea Tatjana Wigger ist, anders als Marion Kahnemanns Leben, von vielen starken Frauen in der Familie geprägt. Ob sich daraus eine weibliche Perspektive konstruieren lässt, muss offenbleiben. Tatjanas Großmutter stammte aus Frankfurt am Main und überlebte die Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam mit ihrer Mutter in Großbritannien, wohin sie mit einem Kindertransport flüchten konnte. In London lernt sie ihren späteren Mann kennen und gründet noch im Exil eine Familie. Schließlich kehrt das junge Ehepaar mit zwei kleinen Mädchen, eine davon Tatjanas Mutter, 1947 nach Deutschland zurück.
Der Großvater kommt bei einem Autounfall 1949 ums Leben und Tatjanas Großmutter wird mit nur 25 Jahren Witwe. Die Großmutter heiratet zwar ein zweites Mal, aber dieser Mann stirbt, da ist Tatjana noch ein Baby. Ihre Eltern wiederum lassen sich frühzeitig scheiden. Obwohl sie sich mit dem nichtjüdischen Stiefvater gut versteht, bleiben die Bezugspersonen in ihrer Familie eindeutig die Frauen. Sie selbst wird 2003 Mutter einer Tochter und versucht, dieser jüdische Traditionen nahe zu bringen.
Es ist ein bunter Mix aus einem selbstbewussten Judentum, das fest verankert ist in der turbulenten Familiengeschichte: „Wenn man schwanger ist, muss man sich die Gretchenfrage stellen: Wie hältst du’s mit der Religion? Ich habe meine Tochter Naomi genannt, und ich liebe Weihnachten. Ich muss das haben! Ich brauche auch diesen Baum, jedoch keine Engel! Die gab es nie in unserer Familie. Keine Engel, keine Weihnachtsmänner, keine Rute und auch keine Weihnachtslieder. Wir haben auch eine Glocke, die ist von Deutschland nach England und von England wieder zurück nach Deutschland gewandert, und die klingelt nur einmal im Jahr am 24. Dezember um Fünf zur Bescherung.
Ich feiere auch Schabbat und ich zünde gern die Chanukkia an. Ich lese die Geschichten, die zu den jüdischen Feiertagen gehören. Meine Tochter wurde Bat Mizwa und ab und zu gehen wir in die Synagoge.“ Zur Auflösung der Fußnote[49] Naomis Besuch des Jüdischen Gymnasiums oder der Sommerferienlager der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) stehen nicht im Widerspruch zum Tannenbaum an Weihnachten. Diese sehr individualisierte Form des Judentums, die sich dadurch auszeichnet, aus disparaten Versatzstücken neu zusammengesetzt zu sein, erzählt von der Auseinandersetzung mit einer jüdischen Familiengeschichte und dem Aufwachsen im Osten Deutschlands. Die Erfahrung von Verfolgung und Exil mischen sich bei Tatjanas Großeltern mit dem unbedingten Glauben an den sozialistischen Wiederaufbau und führen zu dem Wunsch, nach Ostdeutschland zurückzukehren, um an diesem Wiederaufbau mitzuwirken.
Tatjana wiederum beginnt während der Adoleszenz eine Suche nach Sinn und Verbindung, Individualität und Dazugehörigkeit. Diese Suche drückt sich vor allem in der Sehnsucht nach äußerlicher Unverwechselbarkeit aus, unverwechselbar zu anderen DDR-Jugendlichen. Das große Vorbild war die junge Frau im Westen: „Trugen die Frauen in Paris im Sommer Stiefel zu ihren ärmellosen Kleidern, dann konnte auch dieser Modetrend ebenso wenig wie der Wunsch nach Jeans am Eisernen Vorhang gestoppt werden.“ Zur Auflösung der Fußnote[50] Tatjana bildet hier keine Ausnahme: „Ich wollte gerne Levis-Jeans haben und fand, dass es das Grundrecht eines Menschen ist, vernünftig sitzende Jeans zu haben. Ich wollte mich gerne individuell anziehen (…).“ Zur Auflösung der Fußnote[51] In ihrem Buch „Frauen in der DDR“ beschreibt Anna Kaminsky den Einfallsreichtum, um in einer von Planwirtschaft geleiteten Wirtschaftsordnung Individualität zu behaupten: „Die schwierige Versorgungssituation bescherte Frauen aller Generationen in der SBZ und der DDR eine generationsübergreifende gemeinsame Erfahrung: Sie mussten zu allen Zeiten improvisieren und erwiesen sich als Meisterinnen darin, aus den verfügbaren Materialien das Beste zu machen: ‚Einfallsreichtum ist auch bei der Herstellung von Modeschmuck Trumpf. Eine Berlinerin kreiert aus Schals, Geschirrtüchern und Servietten originelle Hüte und Kappen, aus Schuhschnallen Ohrclips und aus Muscheln und Vogelbeeren Ketten.‘“ Zur Auflösung der Fußnote[52]
Darüber hinaus spiegelt sich Tatjanas Sehnsucht nach Unverwechselbarkeit in ihrer Studienwahl. Sie versucht, der empfundenen Enge der DDR mit Hilfe eines Sprachstudiums zu entkommen. Schließlich fällt die Mauer und alle Pläne müssen neu justiert werden. Heute arbeitet Tatjana als Lehrerin am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn in Berlin und hat auch in der Fächerwahl das Judentum zu einem Bestandteil ihrer Identität gemacht. Sie unterrichtet Hebräisch und Darstellendes Spiel.
Fazit
Ausgangsmaterial der hier vorgestellten vier Biographien sind die in unserem Interviewband „Jung und jüdisch in der DDR“ zusammengetragenen Erinnerungen, in denen die Gesprächspartnerinnen Auskunft darüber geben, was ihnen wichtig schien, was sie bewegte oder auch, was sie verletzte. Allein der Topos „Erinnerungen“ verweist darauf, dass es nicht unser Interesse war, historisch verbürgte Ereignisse nachzuerzählen und in Form einer Oral History „beglaubigen“ zu lassen. Unser Erkenntnisinteresse wurde eher von dem Wunsch geleitet, zu erkunden, welchen Niederschlag Geschichte in persönlichen Reflexionen gefunden hat.
So gibt eine Gesprächspartnerin zu Protokoll: „Ich bin mir hinsichtlich meiner Erinnerungen nicht sicher, inwieweit diese der Realität entsprechen und was ich im Laufe der Zeit ergänzt habe. Aber mir war schon als Kind bewusst, dass die Familiengeschichte besonders war, geheim.“ Damit wird auch deutlich, dass Erinnerungen nicht als verlässliche Quellen zitiert werden. Vielmehr lesen wir sie als Erfahrungssedimente, die die Verarbeitung von Erlebtem und Empfundenem immer wieder aufs Neue spiegeln und bei Befragung an die Oberfläche gelangen.
Die Geschichte jüdischer Frauen in der DDR gelangte bisher zu wenig an die Oberfläche. Jüdische Frauen fanden in den Publikationen weniger Beachtung, da sie nur selten (offizielle) Spitzenfunktionen in den Gemeinden innehatten und nicht als Teil der intellektuellen Elite der DDR publiziert und wahrgenommen wurden. Die in diesem Beitrag vorgestellten vier Beispiele geben vor allem die Alltagserfahrungen in der DDR wieder und zeigen die Lebens- und Gefühlswelten der porträtierten Frauen. Die eingangs erwähnten Klischees von „der DDR-Frau“ und „der Jüdin“ finden wenig Widerhall in den individuellen Erzählungen, die sich zu einem vielschichtigen Bild zusammenfügen, das diese stereotypen Vorstellungen infrage stellt.
Die historischen Aufzeichnungen, in denen die Frauen und ihre Perspektive fehlen, wie Marion Kaplan in dem eingangs zitierten Kommentar schreibt, müssen durch erinnerte (Alltags-)Geschichte ergänzt und korrigiert werden. Nur auf diese Weise können sie Geschichte werden, kann die Geschichte angemessen erzählt und letzten Endes zitiert und weitergegeben werden.
Zitierweise: "Eine weibliche Perspektive auf jüdische Kindheit und Jugend in der DDR“, Sandra Anusiewicz-Baer/Lara Dämmig, in: Deutschland Archiv, 5.7.2022, Link: www.bpb.de/510151.