Ein Rückblick im Jahr zweier Jubiläen
Zwischen dem 16. April, dem Ostersonntag des Jahres 1922, an dem der überraschten Welt der Vertrag von Rapallo
Die deutschen Kommunisten in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR, die als Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik 1949 entstanden ist, mussten von Beginn an mit einem Legitimationsdefizit kämpfen. Sie standen unter dem Kommando der sowjetischen Besatzungsmacht, versuchten sich aber das Selbstbild eines antifaschistisch-demokratischen Staates zu geben. Dazu mussten sie für die eigene Seite den Löwenanteil des Widerstands gegen das Terrorregime der Nationalsozialisten reklamieren und dessen Geschichte grundlegend umdeuten. Dies war ein Widerstand, den es in den unterschiedlichsten Formen gab, der sich aus den unterschiedlichsten Quellen speiste und widerstreitende Ziele verfolgte. Sozialisten und Sozialdemokraten, Liberale und Konservative wurden im Dritten Reich zu Widerstandsgefährten der Kommunisten, teilten deren Schicksal in Gefängnissen, Konzentrationslagern und Hinrichtungsstätten. In der SBZ und der DDR wurden sie erneut verfolgt, wenn sie sich nicht dem kommunistischen Machtanspruch unterwarfen. Sie erlitten den späten Gulag
Ihr positives Bild, ihre Verzeichnung oder die über sie verhängten Verdammungsurteile spiegelten den Charakter des DDR-Systems selbst wider. Das galt auch für den Zugriff auf bedeutende Repräsentanten der Weimarer Republik. Eine für das Schicksal dieser ungefestigten Demokratie entscheidende Persönlichkeit, der im Sommer 1922 einem Fememord rechtsnationalistischer Terroristen zum Opfer fiel, ist hier ein markantes Beispiel: der Jude Walther Rathenau. Er wurde in Darstellung und propagierter Würdigung zum Opfer manipulativer Umdeutung der Geschichte. Beteiligt daran waren Ideologen und Geschichtspropagandisten, aber auch Schriftsteller und Historiker. Frappant ist, dass eine Reihe von ihnen selbst Juden und Jüdinnen waren, die die Ausgrenzung und den Hass, welche Walther Rathenau als Jude entgegenschlugen, auf andere Weise selbst erlitten hatten. Wie weit sie sich aus Überzeugung, Opportunismus, Karrieresucht oder Furcht vor eigener Verfolgung und Diskriminierung an der offiziellen, verfälschten Deutung seiner Person beteiligten, bleibt als Frage im Raum stehen.
Deutlich anders zu bewerten sind die verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit Walther Rathenau und des mit seiner Person verbundenen Rapallo-Vertrages in der Bundesrepublik. Auch hier gab es Ausblendungen und ein großes Maß an Verdrängung, welches jedoch im Laufe der Jahrzehnte in bedeutendem Maß überwunden wurde. Für den vergleichenden „Blick auf die Blicke“ ist eine kurze Rekapitulation Rathenaus Lebens notwendig.
Zur Biografie Walther Rathenaus
Harry Graf Kessler, der mit Walther Rathenau befreundete europäische Kosmopolit und Freigeist, widmete ihm einige Jahre nach seinem Tod eine eindringliche Lebensbeschreibung. Er suchte den Schlüssel zu dessen starker Wirkung auf alle Zeitgenossen in seiner doppelten Identität als jüdischer Intellektueller und deutscher Patriot, seiner ausgeprägten künstlerischen Veranlagung und seiner Karriere als Industrieller sowie Politiker.
Der 1867 in Berlin geborene Rathenau hatte Eltern, die aus unterschiedlichen Milieus stammten. Der Vater kam aus einer wohlhabenden schlesisch-jüdischen Kaufmannsfamilie, wurde Maschinenbauingenieur und erlebte in den Berliner Borsig-Werken die stürmischen Schritte einer neuen Welle der Industrialisierung, verknüpft mit dem Siegeszug der Elektrizität. Im Berlin der Gründerzeit versuchte er sich an verschiedenen Unternehmungen, die im Strudel des Gründerkrachs von 1872/73 an den Rand des Bankrotts gerieten. Mit seinem Geschäftspartner Werner von Siemens brauchte er rund zehn Jahre, um sich wieder herauszuarbeiten und mit der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG) ein eigenes Firmenimperium aufzubauen.
Rathenaus künstlerisch veranlagte Mutter, eine starke Persönlichkeit, kam aus einer reichen jüdischen Bankiersdynastie in Frankfurt am Main. Ihre Mitgift half dem Vater aus dem Krisenstrudel heraus, half beim Aufbau der AEG. Wie selbstverständlich sah Emil Rathenau in seiner Nachfolge den Sohn. Der vom starken Charakter und den musischen Neigungen der Mutter geprägte Walther hätte viel lieber die Laufbahn eines Künstlers, Militärs oder Diplomaten eingeschlagen. Ohne eine enge Bindung an den jüdischen Glauben, lehnte er den Übertritt in eine christliche Konfession ab, was für ihn jede Militärkarriere oder andere Positionen im höheren Staatsdienst so gut wie ausschloss. Als ungetaufter Jude wurde er nach seinem einjährigen Freiwilligendienst
Mit seiner inneren Verbindung von deutscher patriotischer und jüdischer Identität sah er sich plötzlich lebenslang als Bürger zweiter Klasse. Er gab dem Drängen des Vaters nach, absolvierte die verschiedenen Stufen einer Ingenieursausbildung, trat in die Geschäftsführung ein. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums wurde er zum Aufbau der von der AEG gegründeten elektrotechnischen Werke in Bitterfeld und Rheinfelde delegiert. Leitende Stellungen und zahlreiche Aufsichtsratsposten in dem immer stärker expandierenden Industriekonzern folgten.
Trotz eines Arbeitspensums, das andere mehr als ausgefüllt hätte, schuf er nebenbei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein umfangreiches schriftstellerisches Werk. Fortschrittsoptimismus und der damit verbundene Glaube an die sukzessive Verbesserung der menschlichen Lebensumstände dominierten darin. Ein idealistisch bestimmtes „Reich der Seele“ stand im Zentrum seines Werkes. So sehr er das militärische Auftrumpfen und die Kriegsabenteuer von Wilhelm II. und seiner Anhänger ablehnte, so tief war er vom Erfindergeist und wirtschaftlichen Gewicht Deutschlands und seiner führenden Rolle in Europa überzeugt. Ihm schwebte eine Dominanz seines Landes durch immer stärkere wirtschaftliche Verflechtung und eine kluge Handelspolitik vor. Mit dieser Grundhaltung sah er den Kriegsausbruch 1914 und die Rolle Deutschlands dabei kritisch, ließ sich aber, wie sein Freund Graf Kessler, zunächst von der patriotischen Stimmung anstecken. Er setzte sich für Kriegsziele ein, die weniger territoriale Zugewinne bedeuteten, sondern ein aus dem Krieg heraustretendes starkes Deutschland mit der führenden Stellung in einer künftigen Wirtschafts- und Zollunion.
Seine technischen Erfahrungen und Fähigkeiten als Industriekapitän ließen ihn als Juden in die entscheidende Verantwortung für die deutsche Rohstoffwirtschaft rücken, einer entscheidenden Achillesferse der kaiserlichen Kriegsführung. Dem Annexionskurs Hindenburgs und Ludendorffs, die dem Kaiser ab 1917 immer mehr das Heft des Handelns aus der Hand nahmen, dann aber nach den Niederlagen der Sommeroffensive 1918 in Panik gerieten, folgte er nicht. Dennoch übte er im November 1918 Kritik am hastig abgeschlossenen Waffenstillstand. Bei Fortsetzung des Kampfes hätte er auf eine bessere Position am Verhandlungstisch gesetzt. Matthias Erzberger, Politiker der katholischen Zentrumspartei, sah keinen anderen Ausweg, als die harten Bedingungen des Waffenstillstands anzunehmen und als Vorsitzender der deutschen Waffenstillstandskommission zu unterzeichnen. Hindenburg und Ludendorff hingegen wollten sich nicht mit der Unterschrift unter die Kapitulation beflecken und hatten den Zivilisten, Bayern und Katholiken Erzberger in diese Funktion gedrängt.
Die Ermordung Matthias Erzbergers
Mit dem französischen Verhandlungsführer General Foch rang Erzberger bei jedem Artikel des Vertrages um Erleichterungen für Deutschland. Von rechten Kräften wurde er nach der Unterzeichnung des Vertrages als „Novemberverbrecher“ verteufelt und erhielt, wie viele andere Verständigungspolitiker, Morddrohungen. Im August 1921 wurde Erzberger während eines Kuraufenthaltes im Schwarzwald von zwei Mitgliedern der rechten Geheimorganisation Consul
All dies vor Augen, musste sich Rathenau erneut entscheiden. Als Jude war er immer wieder von rechten, deutschnationalen Kreisen angefeindet worden, war nie ein Monarchist gewesen und sah viel Berechtigtes in den Forderungen der Sozialdemokraten. So wurde er zum Mitbegründer der aus den sozialliberalen Kräften der wilhelminischen Zeit hervorgegangenen Deutschen Volkspartei (DVP). Sie stand in deutlichem Gegensatz zu den eher rechten Nationalliberalen um den späteren Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann. Im Wirtschaftsprogramm der DVP verbanden sich Elemente von Marktwirtschaft und Planwirtschaft. Eine Verständigung nach Westen und eine mit friedlichen Mitteln erreichte wirtschaftliche Dominanz im Osten sollte für Rathenau die annexionistische Eroberungspolitik Wilhelms II. und der Militärkreise ersetzen. Sein ausgleichendes Gewicht, sein industrieller Sachverstand und seine ökonomische Erfahrung ließen ihn zu einem der wichtigsten Mitglieder der deutschen Delegation für die Verhandlungen zum Versailler Vertrag werden. Mit geringem Erfolg rang er dort für Lockerungen in den harten Reparationsbestimmungen. So sehr er die harten Bedingungen des Versailler Vertrages ablehnte, sah er doch die katastrophalen Folgen, die eine Verweigerung der Unterschrift haben würde und plädierte für die Unterzeichnung. Damit wurde „der Jude Rathenau“ zu einer der entscheidenden verhassten Personen rechtsnationalistischer, monarchistischer und extremistischer Kreise und Organisationen.
Wie der zur Zentrumspartei gehörige Reichskanzler Joseph Wirth versuchte er in der Folgezeit, eine auf den Westen gerichtete Verständigungspolitik durchzusetzen. Im Unterschied zu Rathenau war Wirth ein Nationalist, der aber republikanisch gesinnt war und die Wiederherstellung der Monarchie ablehnte. Destabilisierungsversuche und Putschpläne rechtextremer Kreise bekämpfte er erbittert und war bereit, alle Machtmittel des Staates dagegen einzusetzen. Außenpolitisch stand Wirth eine erneute gemeinsame Grenze mit Russland vor Augen. Das neu entstandene Polen war dabei nur störend und galt als zu beseitigender Saisonstaat. Sieger wie Besiegte des Weltkrieges trafen die Schäden und Verluste des Ersten Weltkrieges unterschiedlich, aber alle hatten mit den Folgen zu kämpfen. Eine für das Frühjahr 1922 nach Genua einberufene Weltwirtschaftskonferenz sollte der Wiederherstellung der durch den Krieg zerrütteten internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen dienen. Auf ihr waren alle Teilnehmerstaaten am Ersten Weltkrieg repräsentiert, mit Ausnahme der USA. Mit Deutschland und Sowjetrussland nahmen auch zwei Staaten teil, die sich als „Parias“ von bisherigen internationalen Nachkriegstreffen ausgeschlossen sahen, hier aber gebraucht wurden.
Geheime deutsch-sowjetrussische diplomatische und Militärkontakte gab es bereits nach den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Winter 1917/18. Erich Ludendorff und weitere Mitglieder der Reichsleitung hatten die Machtergreifung der im März 1917 aus dem Exil zurückgekehrten Bolschewiki insgeheim mit Millionen von Reichsmark unterstützt.
Joseph Wirth aber brauchte Rathenaus internationalen Namen und sein Verhandlungsgeschick für die Konferenz von Genua in der Rolle des Außenministers. Widerstrebend willigte Rathenau schließlich ein und wurde am 31. Januar 1922 zum Minister des Äußeren ernannt. Seiner Mutter, die dunkle Vorahnungen plagten, erklärte er, dieses Amt übernehmen zu müssen, weil sich kein anderer bereitgefunden hatte. Verantwortung für den Ausgang der Konferenz und die Vision einer Diplomatie, die sich der Weimarer Demokratie verpflichtet sah und nicht mehr von kaisertreuen Beamten beherrscht war, trieben ihn an. Was sich im Hintergrund der Konferenz abspielte und wie der „Überraschungsvertrag“ von Rapallo vorbereitet wurde, wurde vor ihm geheim gehalten.
Rapallo und die Folgen
In die Gespräche zwischen hohen Vertretern des Auswärtigen Amtes um den Leiter der Ostabteilung, Staatsekretär Adolf Georg Otto (Ago) von Maltzan,
Für die Verhandlungen in Genua gab es in der Vorbereitung eine umfangreiche Abstimmung zwischen verschiedenen Ressorts und Ministerien der Reichsregierung. Diese Ressortabstimmungen und die Verhandlungen während der Konferenz sind umfangreich dokumentiert.
Geheimverhandlungen mit militärischen Hintergründen
Die Geheimverhandlungen in Rapallo hingegen wurden von einem kleinen Kreis aus Vertretern der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes und der Reichswehrführung betrieben. Hinzu kamen Vertreter der Rüstungsindustrie. Ago von Maltzan, der bei den Gesprächen federführend war, fühlte sich mit den Vertretern auf der sowjetischen Seite in sehr guter Gesellschaft. Er hatte die Betreuung Karl Radeks nach dessen Freilassung aus Moabit übernommen, für dessen passende Unterbringung und immer intensivere Kontakte in den Folgemonaten gesorgt. Mit dem Volkskommissar für Äußeres, Georgi Tschitscherin, der die sowjetische Delegation in Genua leitete, und seinem Stellvertreter, Maxim Litwinow, verstand er sich bestens. Tschitscherin ging davon aus, dass sie gemeinsam die vierte Teilung Polens vorbereiteten und dass jetzt endlich die Zeit gekommen sei, den Polen das Lebenslicht auszublasen.
Die Interessenlagen auf der deutschen Seite waren eindeutig. Den Vertretern der Schwerindustrie lag an lukrativen Rüstungsaufträgen, die bisher durch die Auflagen des Versailler Vertrags verhindert wurden. Hier ließ sich über Sowjetrussland eine Menge verdeckt abwickeln. Im Generalstab der Reichswehr, der unter dem verharmlosenden Namen „Truppenamt“ agierte, gab es längst Pläne und Vorarbeiten, die Beschränkungen der Reichswehr, denen diese nach Truppenstärke und Waffenarten unterlag, zu unterlaufen. Kurze Zeit nach Rapallo gab es einen geheimen Dreistufenplan für den Aufbau eines großen Heeres mit 102 Divisionen und 2,8 Millionen Mann. Durch die enge Militärkooperation mit der Sowjetunion wurden diese Pläne und Vorarbeiten in den Folgejahren realisiert und setzten Adolf Hitler nach 1933 in den Stand, binnen weniger Jahre ein gigantisches Aufrüstungsprogramm zu betreiben. Die an den Gesprächen beteiligten deutschen Diplomaten und Politiker schließlich wollten die Folgen der Kriegsniederlage Deutschlands hinter sich lassen, es erneut als europäische Hegemonialmacht etablieren, Polen als souveränen Staat auslöschen und Frankreich demütigen.
Für alle Gespräche, die sich in der Karwoche 1922 konzentrierten, galt strengste Geheimhaltung, systematische Tarnung und eine später betriebene weitestgehende Aktenvernichtung, soweit es zu den einzelnen Vorgängen überhaupt Unterlagen und Akten gab. Die überraschende Präsentation des unterschriftsreifen Vertrages sollte am Osterwochenende erfolgen, in der Abwesenheit von Reichspräsident Friedrich Ebert. Der hatte sich vorbehalten, über alle wichtigen Entscheidungen der Konferenz vorab informiert zu werden. Er ahnte nicht, dass in seiner unmittelbaren Nähe illoyale Mitarbeiter saßen, die ihn von entscheidenden Informationen abschnitten und die Verschleierungstaktik der Verschwörer unterstützten.
Reichskanzler Wirth, der den Fortgang der Verhandlungen in der Karwoche verfolgte und in das tatsächliche Gewicht der Militärkonvention eingeweiht war, fiel die Aufgabe zu, den mehr oder weniger ahnungslosen Rathenau, dessen Unterschrift er brauchte, im letzten Moment zu überreden. Entscheidende Momente dieses Prozesses fielen in die letzte Nacht vor dem Vertragsabschluss, als Rathenau mit der Behauptung eines vorangegangenen Dringlichkeitsanrufes aus dem Bett getrommelt wurde und seinerseits die engsten Mitarbeiter zusammenrief. Die nächtlichen Gespräche, von denen nur Schilderungen existieren, sollten unter dem Namen „Pyjamakonferenz“ in die Geschichte eingehen. Da nicht alle Momente der Geheimhaltung funktionierten, hatte man in Kreisen der französischen und der britischen Delegation von dem regen Treiben in der Villa der sowjetischen Delegation Wind bekommen und drohte mit Konsequenzen bei einseitigen Vereinbarungen. Tschitscherin und Litwinow setzten umgekehrt das Gerücht von britisch-sowjetischen und französisch-sowjetischen Separatgesprächen in die Welt, um die deutsche Seite zum schnellstmöglichen Vertragsabschluss zu treiben. Davon sollte auch der geheimnisvolle, entscheidende Anruf handeln, von dem nicht sicher ist, ob es ihn tatsächlich gegeben hat.
Die letzten Entscheidungen fielen am Ostersonntag
Wirth hatte Rathenau erst einige Stunden zuvor mit den militärischen Implikationen des Vertrages vertraut gemacht, spielte dessen wirtschaftspolitische Elemente hoch und die militärpolitische Bedeutung herunter, um Rathenau die Unterschrift zu erleichtern. Der zögerte noch immer, sah sich von eigenen Untergebenen im Auswärtigen Amt hintergangen, ließ dann aber doch seine Loyalität für das Ganze siegen. Bei aller Abneigung gegenüber der sowjetrussischen Seite drückte er später gegenüber Vertrauten aus, dass er nicht daran denke, sich den Russen politisch auszuliefern, er werde sie in der Hand behalten, nicht sie ihn. Ein verhängnisvoller Akt der Selbstüberschätzung und der Unterschätzung der bereits weit gediehenen deutsch-russischen politischen und militärischen Kooperation. Er drückte diese Gedanken gegenüber dem Schweizer Bankier und Ökonomen Felix Somary aus, dessen Kompetenz in Fragen der Währungspolitik er überaus schätzte. Im Mai 1922 wurde Somary überraschend von Rathenau aufgesucht, der ihn mit zwei Ideen konfrontierte. Das Angebot, die Verantwortung für die zerrütteten deutschen Staatsfinanzen zu übernehmen, musste Somary ausschlagen. Er ließ sich aber auf den zweiten Vorschlag ein. Es ging um die Zarenwälder, die an der Bahnlinie Petersburg-Moskau lagen. Ein gigantisches Territorium, für das die russische Seite den Deutschen eine große Konzession anbot. Russland sei der geborene Rohstoffexporteur und Konsument von Industriewaren. Es könne für beide Seiten ein sehr großes Geschäft werden und sie aus der Isolation herausführen, argumentierte Rathenau. Der Schweizer Bankier sollte die dafür notwendigen Kredite organisieren. Somary willigte ein, organisierte den Kredit, musste aber nach anfänglichen wirtschaftlichen Erfolgen merken, dass die Überzentralisierung des russischen Systems auf die Dauer keine ausreichenden Gewinnmöglichkeiten hergab. Nach Auslaufen des ersten Vertrages lehnte Somary die Kreditverlängerung ab.
Nach außen hin wirkte der am Abend des Ostersonntags der Presse präsentierte kurze Vertrag viel harmloser als er tatsächlich war. Vordergründig ging es um die wechselseitige diplomatische Anerkennung, die Einführung der Meistbegünstigungsklausel im Handel für beide Seiten und den Verzicht auf Reparationsansprüche. Ein separates Geheimprotokoll über die militärische Zusammenarbeit, das von Historikern und Historikerinnen lange vermutet wurde, brauchte es nicht, weil die entscheidenden Vereinbarungen dazu in privatrechtliche Vereinbarungen über die Lieferung von Industrieanlagen und Rohstoffen, vor allem Öl, eingebaut waren.
Die französische Seite fühlte sich hintergangen und drohte mit Konsequenzen, die einige Monate nach dem Ende der Konferenz in der Ruhrbesetzung mündeten. Die polnische Seite sah sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt und die Hoffnung auf einen Ausgleich mit Deutschland schwinden. Der unmittelbare persönliche Verlierer war jedoch Rathenau. Er musste sich gegenüber der Reichsregierung und Friedrich Ebert (SPD) für seine Unterschriftsleistung rechtfertigen, hob immer wieder die Seite der Verständigung und der Wirtschaftskooperation in dem Papier hervor. Da der Vertrag noch nicht ratifiziert war, kündigte er die Möglichkeit der einseitigen Aufkündigung an, wenn sich der Umfang der Militärkooperation nicht minimieren ließe und die westliche Seite nicht zustimmen würde.
Eigentlich hätte die deutsche Rechte mit dem Ergebnis von Rapallo zufrieden sein müssen. Das galt jedoch nur für einen Teil des rechten Spektrums. Auf der extremen Rechten, so an der Spitze der Organisation Consul, saß der Hass auf den „Juden Rathenau“ so tief, war die Ablehnung jedweder Verträge mit „Feinden“ so groß, dass der Ausweg in einer Ermordung Rathenaus und der Anzettelung von Unruhen in allen Teilen des Reiches gesehen wurde. Eine radikal-monarchistische Rechte stand dabei auch gegen konservative Republikaner wie Reichskanzler Wirth. Historiker wie Martin Sabrow beschrieben die Strategie der Täter als Teil einer terroristischen Eskalationsstrategie, die den Bürgerkrieg entfachen sollte.
Rathenaus Ermordung am 24. Juni 1922
Am Vormittag des 24. Juni 1922, einem Sonnabend, lauerten drei junge Mitglieder der Organisation Consul Walther Rathenau vor seinem Haus in der Königsallee im Grunewald auf. Erwin Kern, Hermann Fischer und Ernst Werner Techow waren ehemalige Kämpfer der Brigade Erhardt, einer Einheit des Freicorps, die im Baltikum gekämpft und während des Kapp-Putsches 1920 eine Rolle gespielt hatte. Die Brigade Erhard wurde daraufhin offiziell aufgelöst.
Als Rathenaus offener Wagen durch die Ausfahrt gefahren war und auf die Königsallee einbog, folgte ihm der Wagen der Attentäter. Techow saß am Steuer, und die beiden anderen eröffneten das Feuer. Ihre Flucht führte sie anschließend durch zahlreiche deutsche Regionen. Am 17. Juli 1922 wurden die Mordschützen auf der thüringischen Burg Saaleck gestellt, wo sie bei dem Burgpächter Wilhelm Stein, der der Organisation Consul nahestand, Unterschlupf gefunden hatten. Beide Täter überlebten die Festnahme nicht und wurden auf dem Friedhof der nahegelegenen Gemeinde Saaleck beerdigt. Das alte Volkslied „An der Saale hellem Strande, stehen Burgen stolz und kühn“, erhielt eine neue, bittere Bedeutung.
Im Oktober 1922 fand vor dem neugebildeten Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik der Prozess gegen tatsächliche und vermeintliche Hintermänner der Tat statt. Die Angeklagten aus dem Umfeld der Organisation Consul und ihre Verteidiger fuhren eine Doppelstrategie. Bei den Schützen, so behaupteten sie, habe es sich um irregeleitete, radikalisierte Einzeltäter gehandelt. Die vaterländischen Ziele nationaler Kräfte und Organisationen könnten hier nicht vor Gericht stehen. Der Jude Rathenau habe durch all sein Tun die Ehre Deutschlands beschmutzt und keine Achtung verdient. In der Gerichtsverhandlung und den nachfolgenden Prozessen gelang es nicht, Verbindungen zwischen den Tätern und den wahrscheinlichen Auftraggebern an der Spitze der Organisation Consul nachzuweisen. Dem bereits vorher verhafteten Ernst Werner Techow drohte die Todesstrafe, aber er kam mit fünfzehn Jahren Zuchthaus davon und sollte später zum Helden avancieren. Joseph Goebbels besuchte ihn in den späten zwanziger Jahren mehrfach im Gefängnis. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers sollten die Mörder Rathenaus eine späte Genugtuung erfahren. Wenige Monate nach der sogenannten Machtergreifung gab es am 17. Juli 1933 eine Feier auf Burg Saaleck. An der Grabstätte der beiden Täter wurde ein wuchtiger Gedenkstein errichtet, der neben völkisch-nationalen und nationalsozialistischen Symbolen die folgende Inschrift trug: „Tu was Du musst, Sieg oder Stirb- und lass Gott die Entscheidung“ In den folgenden Jahren wurde Burg Saaleck zur Pilgerstätte für zahlreiche rechtsnationale und nationalsozialistische Organisationen.
Die Hintergründe von Rapallo wurden während der gesamten NS-Zeit als Staatsgeheimnis betrachtet. Hitler wollte seinen Ruhm als Führer nicht mit den Industriellen, Diplomaten und Militärs teilen, die ihm zur Macht verholfen hatten, und ihn, den Gefreiten, oft nur als Mann des Übergangs sehen wollten.
Die Rätsel um Rathenau und Rapallo bleiben
Im Jahre 2006 hielt die Osteuropahistorikerin Eva Fleischhauer fest, dass es auch nach mehr als achtzig Jahren noch immer viele Rätsel um Rapallo gäbe. Rätsel und Ungewissheiten, die auch die Person Rathenaus einschlössen.
Für den offiziellen DDR-Blick war Rathenau ein Repräsentant der bürgerlichen Klasse, der als Industrieller einerseits negativ beurteilt werden musste, der mit der ideologisch positiven Lesart von Rapallo andererseits aber auch eine positive Würdigung erfuhr. Ihm wurden die sowjetfeindlichen Ansichten seiner Klasse unterstellt, er selbst dann aber zum Friedens- und Sowjetfreund umgedeutet. Dann ließ man ihn der deutschen Reaktion zum Opfer fallen. Dass er Jude war und dafür gehasst wurde, spielte in der DDR-Rezeption nur eine untergeordnete Rolle. Von einer wirklichen Rezeption konnte auch kaum gesprochen werden, eher von einer ideologiegeleiteten Verdrängung der Realität. Das Schicksal der auf DDR-Territorium gelegenen Burg Saaleck gibt hier ein beredtes Beispiel. Im Zuge der Bodenreform wurde der Besitzer enteignet, die Burg fiel an die nächstgelegene Kleinstadt Bad Kösen. Im Wohnturm der Burg, wo sich die Attentäter versteckt hatten, behielt die Witwe des ehemaligen Pächters Hans Wilhelm Stein, Anita Stein, bis in die fünfziger Jahre ein Wohnrecht. Von dem monumentalen Stein auf dem Friedhof der Gemeinde Saaleck wurden alle Symbole und die Inschrift entfernt. Die Überlieferung der damaligen Geschehnisse und damit auch ein Stück der Geschichte Walther Rathenaus existierte im Gedächtnis der Bewohner der Umgebung fort. Diese waren aber mehrheitlich daran interessiert, die touristische Attraktivität der benachbarten Rudelsburg, die wieder ein Restaurant beherbergte, und die lange romantische Vorgeschichte von Burg Saaleck herauszustellen, als einer belasteten Geschichte aus neuerer Zeit nachzugehen. Das drückte sich bezeichnend in den Worten eines damals bekannten Heimatforschers aus, dem sicher auch daran gelegen war, sein Werk durch die Schleusen der Zensur zu bringen: „Auch aus der Geschichte hat der Mensch gelernt: Wo Kriege Städte und Dörfer verwüsteten, wo Menschen einander ausbeuteten und unterdrückten, herrscht Gleichheit und Recht, waltet der Segen der Arbeit und die schöpferische Ruhe des Friedens.“
Was Rathenau betrifft, fällt auf, dass unter Funktionären, Schriftstellern und Historikern, die sich seiner Person widmeten, viele selbst jüdischer Abstammung waren. So der Jurist und Anwalt Friedrich Karl Kaul, der mit seinem Einsatz als Rechtsanwalt gegen Nazigrößen in der Bundesrepublik eine wichtige Arbeit leistete. Er konnte als Vertreter der Opfer des Naziregimes auftreten, weil er auch in der Bundesrepublik eine Zulassung als Rechtsanwalt hatte. Als Schriftsteller nebenbei hochproduktiv, verarbeitete Friedrich Karl Kaul in seinem Kriminalroman „Mord im Grunewald“ die Attentatsgeschichte.
Er war als kommunistischer Widerstandskämpfer und ehemaliger KZ-Insasse hochsensibel für die Gräueltaten des NS-Regimes, jedoch durfte für ihn der Stellenwert spezifisch jüdischer Verfolgung und des Holocaust nur eine Nebenrolle spielen. Konfrontiert mit dem sowjetischen Antisemitismus und den antijüdischen Verfolgungskampagnen in der DDR und konfrontiert mit der Indienstnahme von NS-Juristen in der DDR, die wie Ernst Melsheimer
In welche Loyalitäts- und Abhängigkeitsfallen sich zahlreiche jüdisch-kommunistische Intellektuelle und Schriftsteller und Schriftstellerinnen in der DDR begaben, arbeitete die französische Historikerin Sonia Combe jüngst erst heraus.
Bezogen auf Rathenau galt das in intensiver Weise auch für den kommunistisch-jüdischen Widerstandskämpfer und Schriftsteller Heinz Kamnitzer. Der schrieb im Jahre 1961 das Drehbuch zu dem in der DDR bekannt gewordenen Fernsehfilm „Mord an Rathenau“, der mit namhaften Schauspielern und Schauspielerinnen alle Schemata der DDR-Geschichtspropaganda erfüllte. Im Film geht es um den künstlerisch begabten Industriellen und Politiker, der sich im Jahre 1922 zum progressiven Helden entwickelt und den Repräsentanten der friedliebenden Sowjetunion die Freundeshand reicht.
Der großbürgerliche Habitus Rathenaus, sein Mäzenatentum und sein Wirken als Industrieller stehen im Vordergrund, kaum sichtbar werden jedoch die Tücken und Gefahren seines politischen Lavierens. In der Verständigung mit Russland erfolgt im Film die Vorwegnahme der später vielbeschworenen Formel von den Möglichkeiten der friedlichen Koexistenz. Heinz Kamnitzer machte eine steile DDR-Karriere und wurde Präsident des DDR-PEN Zentrums. Im Januar 1988 bezichtigte er die oppositionellen Teilnehmer an der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration öffentlich der „Gotteslästerung“, was dann doch einen Skandal auslöste. Solidere DDR-Historiker wie Fritz Klein,
Das galt vor allem für die Rolle, die der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth, der noch bis 1956 lebte, über die verschiedenen Jahrzehnte hinweg gespielt hatte. Wirth verkündete immer wieder, dass er sein umfangreiches Wissen zu den Hintergründen von Rapallo in einer umfassenden Arbeit präsentieren wolle. Doch an die Öffentlichkeit gelangten immer nur Bruchstücke davon. Nachdem er die Machtergreifung Hitlers zunächst begrüßt hatte, schwankte sein Urteil über die Nationalsozialisten in den Folgejahren. Noch 1940 begrüßte er den Überfall auf Polen, dem mit dem Rapallo-Vertrag der Weg geebnet worden sei. Als sich die Kriegsniederlage Hitlers abzeichnete, versuchte sich der in der Schweiz lebende Wirth als Mann des Widerstands zu profilieren. Nach dem Krieg war er in der Bundesrepublik in die Neutralitätsbestrebungen der Gegner der Westintegration eingebunden und hatte zahlreiche Kontakte in die DRR. Mit DDR-Geld unterstützt, kündigte er immer wieder die bereits erwähnte eigene Arbeit zu Rapallo an, zu der es nie kam. Noch kurz vor seinem Tod wurde er mit dem Stalin-Friedenspreis geehrt. Trotz Wirths enger und zahlreicher DDR-Kontakte in den 1950er-Jahren gibt es keine eigene Akte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu ihm, was die Vermutung nahelegt, dass er nach dem Krieg direkt an den KGB angebunden war. Auch hier könnten erst die wieder geschlossenen Moskauer Archive Auskunft geben. Fritz Klein war nicht der einzige DDR-Historiker, der sich an den Rätseln versuchte, die mit Rathenau verbunden waren. Kollegen und Kolleginnen, über die er in seinen Erinnerungen schrieb, stießen an ideologische Mauern und auf verschlossene Archive. Angesichts dessen konnte es nicht verwundern, dass es in den Lehrplänen der DDR und der Behandlung im Schulunterricht nur den bürgerlichen Friedensfreund Rathenau gab, welcher der Reaktion zum Opfer fiel. Rapallo hatte ein Meilenstein auf dem Weg zum ewigen Bündnis mit der friedliebenden Sowjetunion zu sein.
Ganz anderer Art waren die auf Rapallo und Rathenau bezogenen Ausblendungen und Verdrängungen in der frühen Bundesrepublik. Im Jahre 1970 zog der Historiker und Nestor der kritischen NS-Forschung Hermann Graml eine Bilanz über „Die Rapallo-Politik im Urteil der westdeutschen Forschung“.
Viele dabei gewonnenen Erkenntnisse helfen dabei, hundert Jahre nach dem Vertragsabschluss von Rapallo und der Ermordung von Walther Rathenau ein genaueres Bild von den Ereignissen und den beteiligten Personen zu zeichnen. Zahlreiche Fragen bleiben jedoch weiterhin offen.
Zitierweise: "Das Bild Walther Rathenaus in der DDR und der Bundesrepublik“, Wolfgang Templin, in: Deutschland Archiv, 4.7.2022, Link: www.bpb.de/510150.