Fällt der Name Myra Warhaftig, geht es zumeist um Frauenrechte, Architektur und Geschichte. Auf ihre Verdienste verweist eine Gedenktafel an der Fassade an dem von ihr im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984/87 in Berlin entworfenen und von 1993 bis 2008 bewohnten Mietshaus an der Dessauer Straße 38-40, nahe des Potsdamer Platzes. Es steht für das von ihr entwickelte emanzipatorische Wohnkonzept und einen deutschlandweiten Aufbruch von Frauenbauprojekten.
Zeitgenoss*innen beschrieben Myra Warhaftig als eine „schmale Frau mit (…) stark israelischem Akzent, eine starke Frau offenkundig, eine, die gerne stritt, auch gut stritt, die kampfeslustig war“.
Gegen die Unterdrückung der Frau durch die Wohnung
Ihre erste Veröffentlichung zur Beziehung von Architektur und Frauenemanzipation aus dem Jahr 1971 zeichnet sie nicht nur als Pionierin auf dem Gebiet aus. Die Titelwahl des Fachartikels „Unterdrückung der Frau durch ihre Wohnung“ kündigt auch die tiefe Überzeugung an, mit der Warhaftig für die Verbesserung des Alltags vieler Frauen in der Bundesrepublik eintrat.
Baugeschichte zwischen Deutschland und Israel
Als man Mitte der 1980er-Jahre in den drei großen Städten Haifa, Tel Aviv und Jerusalem die Architektur der 1930er-Jahre zu entdecken begann, hatte Warhaftig bereits ihre Recherchen zu den nach Palästina emigrierten Architekt*innen und ihren Werken aufgenommen: „Die Idee, den Spuren der Lebenswege und Werke jüdischer Architekten nachzugehen, die vor 1933 in Deutschland gewirkt hatten, kam mir (…) Anfang 1980. (...) Die damaligen Westberliner Fachkollegen wussten nur einen jüdischen Architekten zu zitieren: Erich Mendelsohn.“
Spurensuche gegen das Vergessen
Myra Warhaftig stammte selbst aus Israel, dem ehemaligen britischen Völkerbundmandat für Palästina. 1930 als Miriam Warhaftig im Küstenort Haifa geboren, besuchte sie die dortige Reali-Schule des aus dem Deutschen Reich eingewanderten Zionisten Arthur Biram (1878-1967). Kurz nach dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg legte sie 1949 ihr Abitur ab und absolvierte daraufhin den obligatorischen Militärdienst, in dem sie als Hebräischlehrerin für neu Eingewanderte arbeitete. Die menschlichen Begegnungen und die persönlichen Lebenslagen mögen Warhaftigs später so wichtig werdenden Blick auf die mögliche Beziehung zwischen Architektur, Politik, Kunst und biografischer Erfahrung bereits an dieser Stelle geschärft haben. Schließlich griff sie nach einem langen Arbeitsleben (?) 1996 mit ihrem Buch „Sie legten den Grundstein. Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina 1918-1948“ die unterschiedlichen Motive – Zionismus und Verfolgung – der ins Land Kommenden auf.
Typisch für jüdische Architekt*innen, die sich mit dem „Neuen Wohnen“ und moderner Formgebung befassten, wuchs Warhaftig in einem bürgerlich-liberalen Elternhaus auf. Über ihre persönliche Haltung und Heranführung zum praktizierten jüdischen Glauben ist nur wenig bekannt. Während Vater Noah und Großvater Shimon, ein angesehener Rabbiner, großen Wert auf die Ausübung jüdischer Bräuche legten, hielt sich ihre Mutter Shifra (geb. Rosen) religiösen Geboten gegenüber zurück . Warhaftigs Eltern waren wahrscheinlich mit der vierten Einwanderungswelle (Alija) zwischen 1924 und 1928 infolge des wirtschaftlichen Existenzverlusts vieler polnischer und osteuropäischer Juden aus Polen nach Palästina gekommen.
Gebäude der Druckerei Noah Warhaftig in Haifa des Kasseler Architekten Max Loeb, 1937 (© Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Gebäude der Druckerei Noah Warhaftig in Haifa des Kasseler Architekten Max Loeb, 1937 (© Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
„Das dreistöckige Haus wurde im Bereich des New Business Center dicht am Hafen errichtet. Im Erdgeschoß fanden verschiedene Druckmaschinen Platz, die mein Vater aus Heidelberg kommen ließ, während die Setzer ihren Arbeitsraum im ersten Obergeschoß neben dem Büro meiner Eltern hatten. Im zweiten Obergeschoß hatte Max Loeb unsere Privatwohnung vorgesehen. Obwohl meine Eltern von seiner klaren Architektur sehr angetan waren und seinen Entwurf in allen Einzelheiten schätzten, hinderte sie doch die nicht gerade friedfertige Situation in dem von Juden und Arabern bewohnten Stadtteil daran, die Idee des Wohngeschosses aufzugreifen. Infolgedessen wurden auch im zweiten Stockwerk Büroräume eingerichtet.“
Die Druckmaschinen in der Druckerei Noah Warhaftig in Haifa - das Gebäude ist vom Kasseler Architekten Max Loeb, 1937 (© Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Die Druckmaschinen in der Druckerei Noah Warhaftig in Haifa - das Gebäude ist vom Kasseler Architekten Max Loeb, 1937 (© Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Über das Schicksal weiterer, größtenteils von den Nationalsozialisten verfolgter Vorfahren konnte Myra Warhaftig trotz ihrer intensiven Nachforschungen nur wenig in Erfahrung bringen. Ihren verschollenen Angehörigen und „den vergessenen, verfolgten und ermordeten deutschen jüdischen Architekten“ widmete sie ihr Opus Magnum „Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933 – Das Lexikon“ von 2005. Zahlreiche Spuren hatten sich infolge der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach 1933 verloren, und Warhaftig gelang es, für dieses Buch die Schicksale von knapp 500 Architekt*innen zu ermitteln. Hierfür konnte sie unter anderem auf ein wichtiges Dokument zurückgreifen: die sogenannte „Judenliste“. Wegen des Reichskulturkammergesetzes von 1933 waren jüdische Künstler*innen grundsätzlich nicht in die Kulturkammer aufgenommen worden, was praktisch einem Berufsverbot gleichkam. Auf Anweisung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda wurde 1938 eine Liste der aus der Reichskulturkammer ausgeschlossenen jüdischen Architekt*innen erstellt. Sie enthielt Namen, Berufsstand, Religionszugehörigkeit und Anschrift der Betroffenen – die traurige Ausgangsbasis für Warhaftigs akribische Spurensuche. Die Wurzeln ihrer eigenen Familie lagen nicht in Deutschland, sondern in Polen. So lagen auch ihre persönlichen Motive bei der Suche in der Erinnerung „an (...) Großvater Pinhas Rosen, geboren 1880 in Szcuczyn, 1941 verschollen sowie (...) Onkel Isaak , geboren 1887 in Augustow, an seine Frau Hadasa, geboren 1892, und an die Zwillinge Miriam und Moshe, geboren 1929, seit Juni 1941 verschollen.“
Immer gegen den Strom
Nordostansicht des Technion in Haifa von 1924 des Berliner Architekten Alexander Baerwald, 1984 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Nordostansicht des Technion in Haifa von 1924 des Berliner Architekten Alexander Baerwald, 1984 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Beide Eltern förderten die technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildungen ihrer drei Töchter. Daher konnte Myra Warhaftig 1950 das Architekturstudium aufnehmen und im Mai 1955 im Alter von fünfundzwanzig Jahren mit sehr gutem Ergebnis am Technion – Israel Institute of Technology abschließen. „Meine Mutter war eine der drei ersten Frauen, die dort Architektur studierten. Damals wurde klar, dass sie eine war, die immer gegen den Strom schwamm“, erinnert sich Tochter Orly an Warhaftigs Lebensweg.
Eingangshalle des Technion mit Belüftungsloch in Form eines Davidsterns, 1984 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Eingangshalle des Technion mit Belüftungsloch in Form eines Davidsterns, 1984 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Rückblickend erinnerte sich Warhaftig, dass ihre Lehrer*innen am Technion insgesamt die Schwerpunkte auf lokale Bedingungen wie das Klima, die Landschaft, die Baumaterialien und die Wirtschaft Israels und die Notwendigkeit neuer Gebäudetypen in den Kibbuzim unter Berücksichtigung ihrer sozial-politischen Struktur legten.
Emanzipatorisches Wohnen
Ein weiterer Ortswechsel erfolgte 1963, als Warhaftig nach Westberlin ging. Ein Jahr nach ihrem Umzug wurde sie zum ersten Mal Mutter, und damit wandelte sich die Perspektive auf den Wohnungsgrundriss und damit auch ihr Entwurfsgedanke. Die individuellen Bedürfnisse von Bewohner*innen in den Wohnungsgrundriss einzubeziehen, war grundsätzlich nicht neu. Erklärtermaßen verfolgte Warhaftig mit ihrer Arbeit jedoch auch eine sozialpolitische Zielsetzung, nämlich die „Aufhebung der Arbeitsteilung der Geschlechter und eine Gleichheit im Wohnverhalten der Kleinfamilie.“
Grundrisszeichnung der emanzipatorischen Wohnung mit Wohn-Raum-Küche und Individualräumen ohne Nutzungszuweisung von Myra Warhaftig, 1986 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Grundrisszeichnung der emanzipatorischen Wohnung mit Wohn-Raum-Küche und Individualräumen ohne Nutzungszuweisung von Myra Warhaftig, 1986 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Trotz aller höheren gesellschaftlichen Gestaltungs- und Reformbekundungen verlief auch dieser berufliche Schritt nicht ohne biografische Motivation: „Es bereitet mir Schwierigkeiten Arbeit zu leisten, ohne dazu einen Bezug zu haben“, erklärte sie 1981 als Delegierte des Deutschen Werkbunds vor Fachkolleg*innen. „Ein Versuch, meine Rolle als Mutter von zwei Kindern, die inzwischen ein jugendliches Alter erreicht haben, und meine Berufstätigkeit zu verbinden, stößt auf eine lange Reihe von Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten (...) befinden sich im Privatbereich, d. h. in der Wohnung.“
Mögliche Sichtachsen und Ganglinien in einer herkömmlichen „familiengerechten“ Dreizimmerwohnung des sozialen Wohnungsbau aus der Perspektive einer Mutter, gezeichnet von Myra Warhaftig, 1978 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Mögliche Sichtachsen und Ganglinien in einer herkömmlichen „familiengerechten“ Dreizimmerwohnung des sozialen Wohnungsbau aus der Perspektive einer Mutter, gezeichnet von Myra Warhaftig, 1978 (© Myra Warhaftig/Tomari Ruccius und Orly Fatal Warhaftig)
Die Alltagsprobleme in einer Dreizimmerwohnung im sozialen Wohnungsbau, auf den Warhaftig nun angewiesen war, kannte sie nur zu gut. Die vorgesehenen Arbeitsküchen und Kinderzimmer waren für Spiel und Bewegung, Aufsicht der Kinder und gleichzeitige Kommunikation untereinander zu klein. Im Verhältnis zu ihrer täglichen Nutzung zu groß hingegen waren das Elternschlafzimmer und das Wohnzimmer. Die Frage, welche der beiden Töchter das kleinste Zimmer bewohnen solle, wurde „in friedlicher Weise (...) nicht gelöst“ und auch ihr Einbezug in die Arbeit in der Küche war für die Alleinerziehende aus Platzgründen nicht möglich gewesen.
Neuorganisation von Individual- und Gemeinschaftsflächen
Zusammen mit Stefanie Zwirn (1896-?), Ella Briggs (1880-1977), Marie Frommer (1890-1976), Dora Gad (1912-2003), Elsa Gidoni-Mandelstam (1899-1978) und Judith Stolzer-Segall (1904-1990) gehörte Lotte Cohn nicht nur zu den wenigen deutschsprachigen jüdischen Architektinnen, deren Leben und Werk Warhaftig dokumentierte. Cohn hatte auch als eine der ersten Frauen an der Technischen Universität Berlin (TUB) studiert und war 1921 als überzeugte Zionistin nach Palästina gegangen. Auch Warhaftig ging rund 50 Jahre später regelmäßig durch die Gänge der TUB. Den Schwerpunkt ihrer Lehre am Institut für Wohnungsbau und Stadtteilforschung bildeten Seminare zu neuen „familiengerechten“ Wohnformen. Der Architekt und Architekturhistoriker Julius Posener (1904-1996) betreute sie zwischen 1974und 1978 in ihrer Dissertation „Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnung und die Möglichkeit zur Überwindung“, die 1982 erschien und deren Schwerpunkt auf dem Wohnungsbau in Deutschland lag. Hiermit hatte sie einen Nerv getroffen. Die Schrift war schon kurz nach Veröffentlichung vergriffen.
Hierin entwickelte sie einen Neuvorschlag für den „familiengerechten“ Wohnungstyp, die emanzipatorische Wohnung, in der idealerweise bei der Hausarbeit eine Benachteiligung unter den Geschlechtern überhaupt erst gar nicht aufkäme. Folgte das Konzept der frühen „familiengerechten“ Wohnung noch dem Leitbild der Hausfrauenehe, setzte Warhaftig an den Bedürfnissen der mehrfachbelasteten alleinerziehenden und berufstätigen Mutter an – eine Planungsvoraussetzung, die mit der Reform des Ehe- und Familienrechts 1977 und der fortan gesetzlich verankerten Erwerbsarbeit von Frauen zusammenfiel und daher hoch aktuell war. Warhaftigs selbstgewählte und im Sinne der Frauenemanzipation verdienstvolle Aufgabe bezog sich unter anderem auf die Neuorganisation von Individual- und Gemeinschaftsflächen in der Wohnung. Das Modell basierte auf der Idee funktionsunabhängiger Räume mit variabler Nutzungsmöglichkeit, die baulich leicht verändert, unterteilt oder abgetrennt werden konnten, eine großzügige Mehrzweckfläche, beispielsweise durch einen erweiterten Essplatz, und einen etwa gleich großen Individualbereich für jedes Familienmitglied. Zum Herzstück ihres Wohnkonzepts erklärte sie eine zentral angelegte, multifunktionale Wohn-Raum-Küche, die als Gemeinschaftsbereich jedem Familienmitglied zugänglich ist. Eine ausgewogene Arbeitsteilung und eine optimale visuelle und akustische Kommunikationschancen unter allen Familienmitgliedern bildeten den Kern der Idee. Eine besondere Neuerung aber war der Einbezug der Perspektive von Kindern unterschiedlicher Altersstufen und ihrer Wohnansprüche und Lebensvorgänge.
Zitierweise: Anna Krüger, „Myra Warhaftig: Architektin, Frauenrechtlerin, Chronistin deutschsprachiger jüdischer Architekt*innen im Exil “, in: Deutschland Archiv, 26.6.2022, Link: www.bpb.de/509803