Sharon Adler: Du bist zweisprachig, mit Deutsch und Französisch, aber auch mit osteuropäischen Spracheinflüssen aufgewachsen. Heute arbeitest du als staatlich geprüfte Übersetzerin und überträgst Texte ins Deutsche und ins Französische. Auch Deine Eltern haben beide Sprachen unterrichtet. Inwieweit ist Sprache für dich ein identitätsstiftendes Moment?
Julia Walter: Ich navigiere zwischen beiden Sprachen. Ein bisschen wie die Brücke, von der ich erzählt habe. Es ist identitätsstiftend, wobei für mich die Sprachen eher Kommunikationsmittel sind. Das sind zwei Welten, in die ich mich immer wieder hineinbegebe, ohne mich jetzt wirklich ganz und gar deutsch oder ganz und gar französisch zu fühlen. Natürlich mehr deutsch, weil ich auch hier lebe, hier aufgewachsen bin und deutsche Freunde habe. Das macht mich irgendwo auch aus. Es ist schwer greifbar, was meine Identität ist, ich spreche auch noch andere Sprachen und bin gerne in Sprachen unterwegs. Ansonsten fühle ich eine Verbindung zu Osteuropa, zur österreichischen Kultur über meine Großmutter. Auf der väterlichen Seite habe ich ja elsässische Vorfahren. Ich fühle mich im südwestdeutschen Raum mit den verschiedenen Dialekten auch heimisch.
Das jüdische Karlsruhe – vor und nach 1945
Sharon Adler: Seit 2006 leitest Du für die Jüdische Gemeinde Karlsruhe regelmäßig die öffentliche historische Führung „Auf den Spuren jüdischen Lebens in Karlsruhe“. Wie kam es dazu?
Julia Walter: Den Anstoß gab der Europäische Tag der Jüdischen Kultur, an dem sich die Jüdische Gemeinde 2006 erstmalig beteiligte. Damals habe ich mit dem Vorsitzenden der Gemeinde einen Text über die Karlsruher Geschichte der Juden verfasst. Bei der Planung zum Tag der offenen Tür in der Gemeinde kam mir spontan die Idee, einen Stadtrundgang anzubieten. Dazu gab es bereits viel Literatur, denn das Stadtarchiv in Karlsruhe hatte 1988 zwei Publikationen herausgegeben und umfassende Forschungen geleistet. Die beiden Bände „Juden in Karlsruhe“ und „Judenstern und Hakenkreuz“ sind bis heute die Basis meiner Stadtführungen. Interner Link: Stadtrundgang zum Thema „Geschichte der Jüdinnen und Juden in Karlsruhe“
Sharon Adler: Deine Tour startet an der ehemaligen Synagoge der liberalen Israelitischen Religionsgemeinschaft in der Kronenstraße 15.
Julia Walter: Dieser Ort war einmal das Zentrum des jüdischen Lebens in Karlsruhe.
Heute ist er ein Informationspunkt für Besucher:innen und ein Gedenkort für das frühere jüdische Leben in Karlsruhe. Dies ist der einzige Gedenkort in Karlsruhe, der die Zerstörungen der Pogromnacht thematisiert. An anderen Stellen findet man auch vereinzelt Gedenktafeln, die die NS-Zeit erwähnen, aber diese hier ist die einzige, die einen von Weitem sichtbaren Text und die Abbildung der Fassade der Synagoge vor und nach der Zerstörung aufweist. Diese Gedenktafel befindet sich auf dem ehemaligen Grundstück der Synagoge, das unbebaut geblieben ist. So bekommt man einen Eindruck dieses Verlusts.
Sharon Adler: Wer sind die Besucher:innen deiner Führung? Sind darunter auch Menschen, die einen familienbiografischen/jüdischen Bezug zu Karlsruhe haben, Menschen, die auf den Spuren von ermordeten oder emigrierten Familienangehörigen recherchieren?
Julia Walter: Das sind meistens nicht-jüdische Personen, die sehr interessiert und offen für jüdische Kultur und Geschichte sind. Die als Karlsruher:innen oder Bewohner:innen der Umgebung mehr über die jüdische Geschichte von Karlsruhe wissen möchten. Sie kommen aus Neugier und wissen vielleicht schon selber vieles. Einige sind in ihrer Gemeinde engagiert und waren vielleicht schon mal in Israel, wissen aber noch nichts über die jüdische Geschichte in Karlsruhe. Teilweise sind es Lehrer:innen oder Menschen aus dem sozialen Bereich, aber ich glaube, es ist recht bunt und nicht eingrenzbar. Es sind überwiegend Frauen oder Paare ab 50 Jahren.
Seltener sind es jüdische Menschen, die zur Stadtführung kommen. 1988 hat die Stadt initiiert durch Oberbürgermeister Gerhard Seiler,
Sharon Adler: Wie sichtbar sind die Spuren jüdischen Lebens in Karlsruhe
Julia Walter: Ich zeige zum Beispiel die zwei Standorte der ehemaligen Synagogen oder
Die Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge in der Kronenstraße 15 in Karlsruhe. Am 12. Mai 1875 wurde die 1871 abgebrannte, 1798-1806 von Friedrich Weinbrenner erbaute, nach Plänen des Architekten Josef Durm neuerbaute Synagoge der liberalen Israelitischen Religionsgemeinschaft eingeweiht. In der „Reichspogromnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie durch Angehörige der SS und der SA in Brand gesetzt und schwer beschädigt. In Folge ordneten die Nationalsozialisten auf Kosten der Jüdischen Gemeinde den Abriss an. Am 11. November 1963 wurde an der Mauer des Grundstücks eine Gedenktafel aus Bronze enthüllt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge in der Kronenstraße 15 in Karlsruhe. Am 12. Mai 1875 wurde die 1871 abgebrannte, 1798-1806 von Friedrich Weinbrenner erbaute, nach Plänen des Architekten Josef Durm neuerbaute Synagoge der liberalen Israelitischen Religionsgemeinschaft eingeweiht. In der „Reichspogromnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie durch Angehörige der SS und der SA in Brand gesetzt und schwer beschädigt. In Folge ordneten die Nationalsozialisten auf Kosten der Jüdischen Gemeinde den Abriss an. Am 11. November 1963 wurde an der Mauer des Grundstücks eine Gedenktafel aus Bronze enthüllt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Gebäude wie das ehemalige jüdische Hotel, den Nassauer Hof
Sharon Adler: Eine Station deiner Führung widmet sich den Jahren nach 1945 und der Jüdischen Gemeinde
Julia Walter: Meine Stationen sind alle in der Innenstadt, denn dort war das jüdische Leben etabliert. Die heutige Jüdische Gemeinde befindet sich außerhalb der Innenstadt. Die liberale Jüdische Gemeinde hatte vor dem Krieg ihre Geschäftsstelle, das Sekretariat, in der Herrenstraße 14. In diesem Haus wohnten früher auch jüdische Familien, unter anderem Paul Niedermann, der als Zeitzeuge bis vor wenigen Jahren aktiv war, und in den Dreißigerjahren befand sich darin die Auswanderungsstelle. Zeitweilig befand sich dort auch eine sehr große Bibliothek mit jüdischer religiöser Literatur.
Sharon Adler: Wie hat die jüdische Gemeinschaft in Karlsruhe nach 1945 trotz der Zerstörung, des Verlusts und der Auslöschung den Neuanfang realisiert? Und worauf konnte sie aufbauen?
Julia Walter: Den Neuanfang machten laut meiner Information vor allem die sogenannten Displaced Persons, die nicht wussten, wo sie hinwollten. Das waren Überlebende aus den Konzentrationslagern, von denen viele nicht aus Karlsruhe kamen oder andere, die nur eine kurze Zeit dort gelebt haben. Aber sicher auch Karlsruher:innen, die versteckt überlebt haben.
„Wenn man vom jüdischen Leben heute spricht, dann spielt es eine wichtige Rolle, Klischees und Vorstellungen bewusst zu machen, Begriffe und Sachverhalte zu erklären.“ Julia Walter, Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Stadtführerin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
„Wenn man vom jüdischen Leben heute spricht, dann spielt es eine wichtige Rolle, Klischees und Vorstellungen bewusst zu machen, Begriffe und Sachverhalte zu erklären.“ Julia Walter, Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Stadtführerin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Die Stadt lag in Trümmern, alles musste neu aufgebaut werden. Der Wille war da, eine jüdische Gemeinde aufzubauen. Der Theresienstadt-Überlebende Leopold Ransenberg war damals die treibende Kraft. Er organisierte im Dezember 1945 ein erstes Treffen im Gasthaus „Zum Weißen Berg“ (heute Pizza Hut am Ludwigsplatz). Der Betsaal der neugegründeten Jüdischen Gemeinde war die ehemalige Geschäftsstelle der früheren Jüdischen Gemeinde und wurde von einem Rabbiner der US-Militärregierung eingeweiht. 1951 wurde der Betsaal erneuert.
Die aktuelle Synagoge wurde 1971 in der Nordwest-Stadt, also außerhalb der Innenstadt, erbaut, damals für etwa 400 Mitglieder. Heute hat die Jüdische Gemeinde offiziell etwa 1 000 Mitglieder, die überwiegend russischsprachig sind. Das jüdische Leben spielt sich vor allem in der Gemeinde ab.
Sharon Adler: Welche Rolle spielt das Jüdische in Deinem Leben?
Julia Walter: Keine große, aber natürlich spielt es eine gewisse Rolle, wenn ich eine Führung auf den Spuren jüdischen Lebens anbiete - weil es ja die Verbindung zu meiner jüdischen Großmutter gibt, die mich sehr geprägt hat. Dass ich die jüdischen Stadtführungen anbiete, hat etwas damit zu tun, dass ich eine Verwurzelung in Karlsruhe spüre. Auch wenn meine Familie nicht von hier kommt. Mein Anliegen ist, ein interkulturelles Bindeglied zwischen der jüdischen und der nicht-jüdischen Gemeinschaft oder Gemeinde zu sein. Wie eine Brücke, weil ich mich auch so empfinde. Ich zeige, dass ein normales jüdisches Leben in Karlsruhe existiert hat.
Sharon Adler: Du bist 1979 in Karlsruhe geboren, der Stadt, wo am 22. und 23. Oktober 1940 die erste organisierte Massendeportation von Juden und Jüdinnen durch die Nazis erfolgte, erst in das Lager Gurs
Sharon Adler: Ist man in deiner Familie offen mit der Shoah umgegangen? Wie viel hast du in deiner Kindheit und Jugend davon mitbekommen? Wie traumatisierend war das für dich?
Julia Walter: Es wurde teilweise schon darüber gesprochen. Gerade meine Großmutter hat recht oft über ihr Leben erzählt, sie hat aber nicht unbedingt eine vollständige Erzählung gegeben. Das hat eher meine Mutter mitbekommen. Ich habe von ihrer Geschichte, ihrer Verfolgung und Flucht erfahren, als ich ungefähr 16 Jahre alt war und meine Großmutter von der Shoah-Foundation
Sharon Adler: In der wievielten Generation ist Deine Familie in Karlsruhe ansässig, woher kamen sie?
Julia Walter: Man kann sagen in der dritten Generation, denn meine Großeltern mütterlicherseits kamen in den 1960er-Jahren nach Karlsruhe. Meine Großmutter wurde 1913 in Czernowitz geboren, sie hieß Erika Ausländer, ihr Mädchenname war Deligdisch. Sie war Lehrerin für Französisch. Mein Großvater Josef Ausländer wurde 1911 in der Nähe von Czernowitz geboren und war Physiker und nach dem Krieg Universitätsprofessor. Er war der Cousin von Ninon Ausländer, der dritten Frau des Schriftstellers Hermann Hesse, und er war verwandt mit Ignaz Ausländer, dem ersten Mann der Dichterin Rose Ausländer, geborene Scherzer. Sie waren entfernte Cousins.
Sharon Adler: Du hast die Europäische Schule Karlsruhe besucht. Wie hast du deine Schulzeit erlebt? Welche Bilder vom Judentum, von jüdischem Leben, von Israel sind dir während deiner Schulzeit und später während deines Studiums der Kunstgeschichte begegnet?
In der Geschichte von Karlsruhe gab es zahlreiche Jüdinnen, die im kulturellen, im sozialen, wie im wissenschaftlichen Bereich wirkten, darunter die Ärztin, Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin Rahel Straus, geborene Goitein. „Rahel Goitein ist deswegen so spannend, weil sie als Frau und als Jüdin Emanzipationsgeschichte geschrieben hat. Das lief im 19. Jahrhundert parallel. Sie ist eine wichtige Persönlichkeit, über die ich auch sehr gerne bei der Stadtführung erzähle.“ Julia Walter, Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Stadtführerin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
In der Geschichte von Karlsruhe gab es zahlreiche Jüdinnen, die im kulturellen, im sozialen, wie im wissenschaftlichen Bereich wirkten, darunter die Ärztin, Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin Rahel Straus, geborene Goitein. „Rahel Goitein ist deswegen so spannend, weil sie als Frau und als Jüdin Emanzipationsgeschichte geschrieben hat. Das lief im 19. Jahrhundert parallel. Sie ist eine wichtige Persönlichkeit, über die ich auch sehr gerne bei der Stadtführung erzähle.“ Julia Walter, Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Stadtführerin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Julia Walter: Bilder vom Judentum sind mir eher wenige begegnet. Bis ich etwa 15 war, waren wir fast nie in der Jüdischen Gemeinde und haben auch zu Hause die jüdischen Feiertage oder jüdisches Leben nicht begangen. Wir reisten aber regelmäßig alle paar Jahre für ein, zwei Wochen nach Israel, wo meine Großmutter in Tel Aviv und in Haifa Cousinen hatte. Da war ich zwischen zehn und 16 Jahre alt.
In der Schulzeit war so gut wie nichts speziell jüdisch, aber da habe ich mich auch nicht mit dem Judentum auseinandergesetzt. An der Universität war das auch nicht besonders prägnant. Ich habe aber einen Weg für mich gefunden, indem ich für die Abschlussarbeit ein Thema über eine jüdische Künstlerin gewählt habe. Eine Künstlerin, die aus Litauen stammt und in den 1920er-Jahren über London und Paris nach Rom gekommen ist. Sie hieß Antonietta Raphaël und kam aus einer orthodoxen Familie von Rabbinern. In Rom ist sie bekannt, weil sie die Gruppe der Scuola Romana mitbegründet hat und die anderen Künstler mit avantgardistischen Strömungen aus Paris und London in Kontakt gebracht hat.
Es war leichter für mich, das Thema meiner Abschlussarbeit in Italien zu wählen, und sympathischer für mich als ein deutsch-jüdisches Thema. Vielleicht wäre das belastender oder komplizierter gewesen. Da ich mich selbst nicht sehr deutsch und jüdisch fühlte, hatte ich keine Verankerung und Identifikation mit Deutschland. Es wäre für meine spätere Qualifikation sicher gut gewesen, eine deutsch-jüdische Künstlerbiografie aufzuarbeiten, aber damals hatte ich diesen Ehrgeiz nicht.
Sharon Adler: Du hast an einer Umfrage der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg für ein Forschungsprojekt zum Thema „Jüdische Ritualpraxis“
Julia Walter: Das Forschungsprojekt läuft noch, die Ergebnisse sollen pädagogisch für
Außenansicht der ehemaligen, 1938 zerstörten Karlsruher Synagoge in der Kronenstraße (© Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS XIVc 79)
Außenansicht der ehemaligen, 1938 zerstörten Karlsruher Synagoge in der Kronenstraße (© Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS XIVc 79)
Theolog:innen und Lehrer:innen aufgearbeitet werden. Aufgrund meiner Erfahrung mit den Stadtführungen weiß ich, dass es bei nicht-jüdischen Menschen darauf ankommt, eine Brücke zum Alltag zu schlagen und eine Art Einfühlung zu schaffen, denn so entsteht ein Zugang zum jüdischen Leben und zum Schicksal der Juden. Und wenn man vom jüdischen Leben heute spricht, dann spielt es eine wichtige Rolle, Klischees und Vorstellungen bewusst zu machen, Begriffe und Sachverhalte zu erklären. Für Theolog:innen oder Pädagog:innen kann es sicher hilfreich sein, jüdische Feiertage und Bräuche zu kennen. Das Wissen über Judentum muss sich nicht auf religiöses Judentum beschränken, vielmehr scheint es mir wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen für Identitätsproblematiken, für jüdische Biografien, und ein heutiges Bild des Judentums zu zeigen.
Sharon Adler: Seit einigen Jahren richten Kulturinstitutionen den Blick verstärkt auf die Darstellung von Antisemitismus, aber auch auf mögliche Provenienzen in ihren Sammlungen, so auch das Badische Landesmuseum.
Julia Walter: Ich denke, das ist auch ein gesamtdeutscher Paradigmenwechsel, weil Museen seit einigen Jahren Gelder erhalten, um Provenienzforschung zu betreiben. Und weil es eben verschiedene Skandale wie den
Jüdinnen in/aus Karlsruhe
Sharon Adler: Es gab in der Geschichte von Karlsruhe zahlreiche Jüdinnen, die in der Stadt und darüber hinaus im kulturellen, im sozialen wie im wissenschaftlichen Bereich wirkten, darunter die Ärztin, Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin Rahel Straus, geborene Goitein,
Julia Walter: Rahel Goitein ist deswegen so spannend, weil sie als Frau und als Jüdin Emanzipationsgeschichte geschrieben hat. Das lief im 19. Jahrhundert parallel. Sie ist eine wichtige Persönlichkeit, über die ich auch sehr gerne bei der Stadtführung erzähle. Sie war Schülerin im ersten
Rahel Goitein, geboren am 21.3.1880 in Karlsruhe, wuchs in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf. Die Ärztin, Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin emigrierte 1933 nach Palästina und starb am 15.5.1963 in Jerusalem. (© Leo Baeck Institute New Yorck, Stadtarchiv Karlsruhe (8/PBS oIII 1843))
Rahel Goitein, geboren am 21.3.1880 in Karlsruhe, wuchs in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf. Die Ärztin, Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin emigrierte 1933 nach Palästina und starb am 15.5.1963 in Jerusalem. (© Leo Baeck Institute New Yorck, Stadtarchiv Karlsruhe (8/PBS oIII 1843))
Mädchengymnasium Deutschlands, das 1893 in Karlsruhe eingerichtet wurde. 1899 hat sie dort mit drei anderen Mädchen Abitur gemacht. Sie war die einzige Jüdin und die Tochter des orthodoxen Rabbiners von Karlsruhe, der kurz zuvor verstorben war. Ihre Mutter war eine unglaublich engagierte Frau, die sehr viel von Bildung und von Förderung von Mädchen und Frauen hielt.
Rahel Goitein wurde am Mädchengymnasium in dem Geist gefördert, dass ihr eine berufliche Karriere zusteht und dass sie den Zugang zur Universität einfordern muss. Zunächst konnte sie Gasthörerin an der Medizinischen Fakultät sein, dann wurden die Universitäten per Erlass der badischen Regierung im Februar 1900 aufgefordert, das Frauenstudium zuzulassen. Rahel Goitein war die erste ordentliche Studentin der Medizin in Heidelberg. Nach dem Studium und der Promotion in Heidelberg siedelte sie nach München über, hat dort mit ihrem Mann Elias Straus gelebt, eine Familie gegründet und gleichzeitig ihre Arztpraxis aufgebaut (übrigens die dritte von einer Frau geführte in München und die erste von einer in Deutschland studierten Ärztin). Sie hat es damals geschafft, die Balance zwischen Beruf und Privatleben hinzubekommen. Außerdem war sie auch politisch sehr engagiert, hat Vorträge gehalten und war im Jüdischen Frauenbund tätig. Sie hat sich schon während ihrer Zeit in Karlsruhe für den Zionismus interessiert und ist 1933 nach Palästina ausgewandert. Im Übrigen war der badische Großherzog Friedrich I. (regierte von 1856-1906) ein Unterstützer von Theodor Herzl, er empfing ihn in Mainau am Bodensee und unterstützte ihn bei seiner ersten Zionismus-Konferenz in Basel. In Karlsruhe ist eine Straße nach Rahel Straus benannt.
Sharon Adler: Woran, denkst du, liegt es, dass Jüdinnen in der Geschichtsschreibung nur marginal abgebildet sind? Warum ist das jüdische Mäzenat:innentum heute weitgehend unbekannt und unerforscht?
Julia Walter: Das ist schwierig zu beantworten. Als Frauen und als Jüdinnen waren sie doppelt marginalisiert. Aber sie waren es wiederum, die eine wichtige Rolle als Pionierinnen gespielt haben. Beispielsweise Anna Ettlinger,
Sharon Adler: Du arbeitest als freie Mitarbeiterin immer wieder projektbezogen für kulturelle Institutionen, zuletzt für die Gedok Karlsruhe, bei dem Kunstprojekt „Close – but no banana“.
Julia Walter: Der Ausschreibungstext des Projekts war bereits ein Bias und so formuliert, dass ich dachte, dass es ein Schwarz-Weiß, ein „Wir“ und ein „Ihr“ gibt. Zum Glück habe ich den Text zum Lesen bekommen, und ich sagte, dass mich der Titel sehr stört. Ich habe ihn ein wenig überarbeitet, und das wurde sehr gerne aufgegriffen. Dieses Projekt wurde von fünf nicht-jüdischen Künstlerinnen getragen, aufgrund ihrer Erkenntnis, dass sie keine jüdischen Menschen in ihrem näheren Umfeld haben. Es hat sich im Verlauf des Projekts herausgestellt, dass das Thema gar nicht so einfach umzusetzen war und der Titel für Verwirrung gesorgt hat. Das war für alle ein Lernprozess. Vielleicht muss man noch dazu sagen, dass es in Karlsruhe keine „jüdische Blase“, keine öffentliche Präsenz wie etwa eine Jüdische Volkshochschule gibt.
Sharon Adler: Ab 2015 hast du dich drei Jahre lang ehrenamtlich in der Gruppe Queeramnesty engagiert. Was war dein Motor, was wolltest Du erreichen?
Julia Walter: Ich habe Queeramnesty Karlsruhe mitgegründet, aber ich war nicht diejenige, die die Idee hatte. Ich habe die Idee mitgetragen. Für mich ging es um Sichtbarmachung und Bewusstseinsschaffung. Ich war vorher nie bei Amnesty aktiv. Dass wir so eine Gruppe einfach gegründet haben und sehr präsent in der Stadt waren, hat viel bewirkt. Und wir wurden dafür auch sehr gelobt. Für mich persönlich war das eine Auseinandersetzung mit queeren Lebensformen. Ich hatte zwar schon vorher Beziehungen mit Frauen, aber das politisch zu sehen und aktiv zu werden, bei Demos dabei zu sein, dafür war Mut notwendig. Gleichzeitig Teil einer Gemeinschaft in Karlsruhe und bundesweit zu sein, war auch schön.
Sharon Adler: Seit 2021 bist du außerdem Beraterin und Coach in Psychosynthese. Was versteht man darunter? Und was macht diese Arbeit für dich aus, was liegt dir hier besonders am Herzen?
Julia Walter: Psychosynthese ist eine ganzheitliche Herangehensweise an die Persönlichkeit und deren Entfaltung. Die seelische Dimension ist in der Psychosynthese sehr präsent und darin unterscheidet sie sich von anderen Psychologien. Manchmal wird sie auch „Psychologie mit Seele“ genannt. Der Begründer der Psychosynthese war ein jüdischer Arzt, Roberto Assagioli (1888-1974), der in Florenz ansässig war. Er war ein Vorreiter des Humanismus. Assagioli war davon überzeugt, dass wir nicht nur von unseren Trieben und unserem Unbewussten bestimmt werden, sondern dass wir auch viele kreative Seiten haben, die sozusagen der Gegenpol sind. Dass wir Eingebungen, Vorstellungskraft und Intuition haben. Alles Dinge, die wir heute erst als selbstverständlich anerkennen. Begleiten kann die Psychosynthese bei der Friedensarbeit, bei nicht-hierarchischen Gruppenprozessen, bei persönlichen Entwicklungsprozessen. Mir persönlich liegt es am Herzen, die Dimension des Spürens in meiner Arbeit den Menschen nahezubringen. Das Spüren über den Körper und das Aufrufen von inneren Bildern ermöglicht es, unbewusste Schichten der Persönlichkeit als Ressourcen zu nutzen. Das kann sehr stützend sein, besonders in Krisenzeiten.
Zitierweise: „Julia Walter: „Ich zeige, dass ein normales jüdisches Leben in Karlsruhe existierte“", Interview mit Julia Walter, in: Deutschland Archiv, 10.6.2022, Link: www.bpb.de/509251