„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“
Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit
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Und wieder ein Krieg auf der Grundlage politischer Zwecklügen. Neu ist das Vorgehen Wladimir Putins und seiner Armee gegen die Ukraine nicht. Ein Streifzug durch die Geschichte von Joachim Jauer. Der Autor ist am 29. Juli 2022 im Alter von 82 Jahren verstorben.
Dieser Satz des Dichters Bert Brecht ist aktuell wie nie zuvor, denn das Verbrechen Lüge hat in der Welt heute wie kaum in früheren Zeiten Konjunktur. Aktuelle Beispiele sind hinlänglich bekannt. Zwei Jahre lang verbreiteten Coronaleugner weltweit zum Teil hanebüchene „Wahrheiten“ über das Virus, das gar keins sei und schon gar nicht gefährlich. Und seit dem 24. Februar 2022 will uns Wladimir Putin weismachen, dass sein fataler Krieg gegen die Ukraine gar keiner ist - und keinesfalls Krieg genannt werden darf. Allabendlich wird die „Spezialoperation“ im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen mit Sätzen gerechtfertigt, wie „aufopferungsvoll kämpfen russische Soldaten für die Freiheit aller Russen um die Ukraine vom Faschismus und Radikalismus zu befreien“, die Ukraine werde brutal unterstützt von „geschichtsvergessenen Westeuropäern“ als „Vasallen Washingtons“.
Die Lügen unserer Zeit kommen mal rücksichtslos und plump, aber auch elegant und geschmeidig daher, weltweit angeboten und im Nu viral verbreitet via Internet. Dabei berufen sich deren Verbreiter und Verbreiterinnen ständig auf die Presse- und Meinungsfreiheit. Lügen leben vom Vorurteil des Stammtischs, von populistischen Parolen und mittlerweile auch vom raffinierten Einsatz bezahlter „Trolle“ im Netz oder sogar Lügen-Robotern. Sie bieten gezielt Hass und Hetze feil, treten als getrickste Statistik oder manipulierte Videos auf und agitieren offen gegen die Wahrheit, erzeugen Wutbürger und Wutbürgerinnen und säen Zweifel, indem sie Tatsachen zu Fake-News und Falschmeldungen zu Tatsachen erklären. Sie bereiten die Bevölkerung auf Krieg vor, rechtfertigen Gewalt und potenzieren Feindbilder.
Zwei besonders perfide politische Lügen haben sich in die deutsche Geschichte eingebrannt. Am 1. September 1939 rechtfertigte Adolf Hitler im Berliner Reichstag Deutschlands Überfall auf Polen mit einem angeblichen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz in Schlesien, dabei hatte dies die deutsche SS inszeniert. "Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen" log Hitler dreist und warf seinerseits den Polen lügend Lügen vor.
22 Jahre später log DDR-Staatschef Walter Ulbricht offen auf einer Pressekonferenz am 5. Juni 1961 „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Zwei Monate danach wurde die Mauer gebaut.
Lügentradition in Diktaturen
Die Lüge in der NS-Diktatur war verordnete nationalsozialistische Parteiräson, gestützt durch den NSDAP-Propagandaapparat und die Geheimpolizei Gestapo, die Lüge in den kommunistischen Diktaturen setzten ebenfalls die parteilichen Propagandisten und allmächtigen Geheimpolizeien durch, wie die Staatssicherheit in der DDR oder der KGB in der Sowjetunion.
Für den, der den Fortschrittsschwindel der politischen Propaganda mit dem elenden Alltag sozialistischer Errungenschaften verglich, war die Lüge von der ewigen Planübererfüllung und der paradiesischen Zukunft leicht zu durchschauen. Obwohl die „Alles-geht-vorwärts-Lüge“ meist simpel daherkam, zwang sie die Menschen, ihre Hände zu ohnmächtiger Einstimmigkeit zu heben.
Was ist Wahrheit?
Als Jesus von Nazareth im Verhör des römischen Prokurators bekannte: „Ich bin dazu in die Welt gekommen, um von der Wahrheit Zeugnis abzulegen“, antwortete Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ Niemand weiß, ob das zynisch, abfällig oder nur gelangweilt gemeint war.
Doch die ehrliche Frage nach der Wahrheit trieb Menschen aller Jahrhunderte um. So begann auch die schleichende Auszehrung der kommunistischen Lügenideologie mit der Forderung nach Wahrheit. Mutige Autoren, wegen ihrer Schriften verfemt, des Landes verwiesen oder zu langer Kerkerhaft verurteilt, haben für Wahrheit Zeugnis abgelegt. Einige Beispiele:
• Der ukrainische Schriftsteller Wassili Grossman war zunächst „Kriegsheld“ als linientreuer sowjetischer Reporter im „Großen Vaterländischen Krieg“, später Dissident und Unperson, weil er als erster Augenzeuge die „Wahrheit über die Nazi-Verbrechen in Treblinka und Maidanek“ schrieb, aber auch ukrainische Helfershelfer (damals Sowjetbürger) der SS-Verbrecher anklagte.
• Der jugoslawische Dissident und Kritiker der kommunistischen „Neuen Klasse“ Milovan Djilas hoffte: „Die Wahrheit bricht durch, mögen auch diejenigen, die für sie kämpfen, dabei untergehen." Er kam unter Diktator Josip Broz Tito neun Jahre in Haft.
• Der russische Schriftsteller Aleksander Solschenizyn erkannte: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt“. Weil er als hochdekorierter Offizier in Briefen kritische Wahrheiten über Stalin geschrieben hatte, wurde er ohne ein Gerichtsurteil zu acht Jahren Zwangsarbeit in ein Straflager (Gulag) verbannt. 1974 wurde er wegen „Vaterlandsverrats“ aus seiner Heimat ausgewiesen. • Der Schriftsteller Warlam Schalamow litt lange Jahre seines Lebens in stalinistischen Lagern, überstand die berüchtigte Strafkolonie Kolyma in arktischer Kälte. Ihm blieb, in seinen Schriften die „unerträgliche Wahrheit über den Menschen“ auszusprechen.
• Der tschechische Dichter-Dissident und spätere Staatspräsident Václav Havel kämpfte engagiert für die Einhaltung der Menschenrechte. Er wollte „in der Wahrheit leben“ und musste dafür fünf Jahre lang ins Gefängnis.
• Der polnische Papst Johannes Paul II. („Woytila“) ging 1979 auf Pilgerfahrt in seine kommunistisch beherrschte Heimat und machte den Menschen Mut: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“. Ein Jahr später formierte sich nach wochenlangen Streiks die erste freie Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich. Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow verlangte Anfang 1986 mit seinem Reformprogramm „Perestroika“, das heißt Reform, einen radikalen Umbau der Wirtschaft. Voraussetzung dafür war sein zweiter Reformvorschlag „Glasnost“. Das bedeutete Offenheit, Kritik und Wahrheit über den miserablen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft. Und das war der Bruch mit nahezu 70 Jahren parteilich verordneter Verlogenheiten. Er gab den Menschen die Freiheit, endlich öffentlich über eigene und fremde Opfer der Diktatoren Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin zu weinen. Auf der 19. All-Unionsparteikonferenz der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 28. Juni 1988 in Moskau wurde Pressfreiheit mit unabhängigen, nicht parteihörigen Medien deutlich definiert. Damals habe ich aus Moskau berichtet, was der Delegierte Uljanow, ein Schauspieler in der Debatte erklärte und wie Gorbatschow ihn bestärkte: Uljanow:
„Die Presse ist eine selbständige und ernsthafte Kraft, nicht das Dienstmädchen einiger Genossen, die gewöhnt sind, ohne Kontrolle zu leben und zu leiten.“
Dazu Gorbatschow, der Generalsekretär:
„Wenn wir darauf verzichten, Glasnost, also Kritik und Selbstkritik, zusammen mit Demokratie weiter zu entwickeln, dann ist es aus mit der Perestroika. Wir müssen den Weg der Glasnost entschlossen weiter gehen. Das Volk muss an der Gestaltung der Politik mitwirken, seinen Standpunkt und seine Meinung äußern und Funktionäre und Mängel kritisieren.“
Uljanow:
„Habe ich Sie richtig verstanden, dass die Rolle der Presse gestärkt werden muss, auch, wenn wir einmal danebenhauen und Fehler machen?“
Gorbatschow:
„Die wichtigste Lehre, die wir aus der Vergangenheit ziehen, ist die, dass das Volk aus allen Entscheidungen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen war. Also müssen wir das Volk durch lebendige Demokratie und vor allem durch die Presse wieder einbeziehen. Wir dürfen die Medien nicht wieder einer bestimmten Machtgruppe überlassen.“
Welch ein Kontrast zu Wladimir Putin.
Damals wagten die Menschen langsam über ihre bedrückende und partiell grausame Vergangenheit zu sprechen. In nahezu jeder Familie wurden nun offen die Opfer Lenins und Stalins, aber auch noch die von Chruschtschow und Breschnew beklagt. Das erzwungene Schweigen über Terrorurteile und Jahre lange Gulag-Haft kam einer Lüge gleich, weil die überlebenden Opfer und ihre Familien so tun mussten, als sein nichts oder nur „etwas für das Vaterland“ geschehen.
Sehr schnell galten ab der Wahl Wladimir Putins im Jahr 2000 dann wieder die Regeln und Praktiken des KGB, heute FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit). Der diente vor allem dafür, die neuen Lügen des Regimes gegenüber kritischen Bürgerinnen und Bürgern zu „schützen“. Unabhängiger Presse wurde die Berichterstattung mehr und mehr erschwert, kritische Journalistinnen und Journalisten verloren ihr Leben oder flohen ins Ausland.
Prominentestes Opfer war die Journalistin Anna Politkowskaja. Sie wurde am Samstag, 7. Oktober 2006 gegen 16:03 Uhr im Aufzug ihres Wohnhauses durch mehrere Schüsse quasi hingerichtet. Die Journalistin hatte über den Krieg Putins gegen die „abtrünnigen“ Tschetschenen berichtet, von Folter, Mord und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, von einem Alltag, in dem Hinrichtungen, Plünderungen und Entführungen an der Tagesordnung waren. Sie starb, weil sie „die Wahrheit über den Krieg“ geschrieben hatte.
Am 27. Februar 2015 wurde der oppositionelle Politiker Boris Nemzow auf der Moskwa-Brücke ganz in der Nähe zu Putins Amtssitz im Moskauer Kreml erschossen. Sein „Vergehen“: Er hatte die Wahrheit über die Unterstützung sogenannter Separatisten durch russisches Militär und Waffen im ukrainischen Donbass öffentlich gemacht. Nemzow hatte dem Kreml, also Putin, systematische Lügen und Verbrechen gegen das Nachbarland vorgeworfen.
Im Frühjahr 2022 gab unter massivem Druck Russlands der letzte freie Fernsehsender auf, und russlandweit wurden Internetzugänge gesperrt. Seitdem sind Informationen aus dem Ausland nur noch mühsam zu erhalten. Russlands Bürgerinnen und Bürger sind wieder restlos staatlicher Propaganda ausgesetzt.
Am 2. Februar 2021 wurde Putins derzeit schärfster Kritiker, der oppositionelle Alexei Nawalny zu einer dreieinhalbjährigen Arbeitslagerhaft verurteilt, im Jahr zuvor hatte er mit Hilfe deutscher Ärzte einen Giftanschlag des russischen Geheimdienstes überlebt. Am 23. März 2022, einen Monat nach Beginn des verlogen „Spezial-Operation“ genannten Krieges gegen die Ukraine durch die von Putin befehligte russische Armee wurde sein Strafmaß auf neun Jahren verschärftem Straflager erhöht. „Putin hat Angst vor der Wahrheit“, ließ Nawalny nach dem Urteil erklären.
Der Kampf gegen die Zensur und für die Wahrheit, sei auch weiterhin sein Hauptziel bekräftigte er, aber der prominente Oppositionelle hat kaum noch Möglichkeiten, seine Positionen öffentlich zu machen. Nur sechsmal im Jahr darf er noch Besuche erhalten. Gerade eben erst, am 24. Mai 2022 wies das Stadtgericht Moskau die Berufung gegen dieses Urteil ab.
Die Lüge als Waffe, auch der Kirche
Zur Ausrüstung einer Militärmaschine gehört heute neben Bomben und Raketen, Minen und Drohnen, Panzer und Haubitzen vor allem auch die taktische Verbreitung von Unwahrheiten. Über das Internet lassen sich Lügen gezielt wie eine Infektionskrankheit über alle Grenzen hinweg verbreiten. Die Täter operieren wie andere Kriminelle versteckt.
Öffentlich unterstützen besonders zwei politische Helfershelfer Putins Propaganda. Für das Ausland lügt Außenminister Sergej Lawrow Gesprächspartnern dreist ins Gesicht. Das ist in Staaten mit freier Presse einfach zu durchschauen. Weniger leicht ist seine hybride Kriegsführung zu bekämpfen, weil er es versteht, Millionen von Russinnen und Russen auch bizarrste Märchen zu präsentieren. Rückendeckung kommt ausgerechnet von der russischen Kirche.
Im Inland pervertiert der orthodoxe Patriarch Kyrill die christliche Friedensbotschaft, zeigt sich zu hohen Festen mit einem frömmelnden Putin an seiner Seite und erteilt dessen Kriegsverbrechen seinen Segen. Kyrill und Putin gelten als „Brüder im Geiste“ zumal der Werdegang beider im Leningrader KGB begann.
Kyrills Werdegang macht deutlich, weshalb die Stasi so bemüht war, durch Perspektiv-IMs die Kirche in der DDR in den Griff zu bekommen, die Pfarrer Reinhard Eppelmann einmal treffend definierte als "Loch im Fahrradschlauch DDR". Weil sie ein Modell war, wie Demokratie in einer demokratiefeindlichen Umgebung praktiziert werden kann, allein schon durch die geheimen Wahlen von Gemeindekirchenräten und auf Synoden - und vor allem in den offenen Debatten und Foren dort.
Nicht so bei Kyrill: Mitte Mai 2022, im dritten Monat des Überfalls auf die Ukraine, versicherte der geheimdienstgeschulte Patriarch, der wie ein Papst der Orthodoxie auftritt, seinen Gläubigen: „Russland hat noch nie jemanden angegriffen und beabsichtigt auch nicht, gegen jemanden zu kämpfen.“
Dies zu einem Zeitpunkt, als selbst das Regime einräumen musste, dass zahlreiche junge Russen im Krieg gegen die Ukraine gefallen waren. Schlimmer als solche Lügen, als seine persönliche Sünde, ist die Verwirrung, die der Patriarch unter seinen Gläubigen anrichtet, weil ihm, dem geweihten Oberhaupt, bislang kaum ein russisch-orthodoxer Theologe zu widersprechen wagte. Aber nach Kriegsbeginn hat sich eine bemerkenswerte Zahl russisch-orthodoxer Gemeinden in der Ukraine von Kyrills Kurs abgewandt und vom Moskauer Patriarchat und dessen Unwahrheiten losgesagt. Infolge hat sich der gesamte Teil der ukrainischen Kirche, der seit Jahrhunderten dem Moskauer Patriarchat unterstand, für unabhängig erklärt.
Die Mär von „Objektiven Wahrheiten“
Die Wahrheit, meist „objektive Wahrheit“ genannt, war seit Lenin ein Glaubenssatz aller Kommunisten. In der Sowjetunion hatten sie jahrzehntelang das Monopol der Macht. Putin, der den Zusammenbruch des Sowjetreiches als „größte Tragödie“ der Geschichte bezeichnet, knüpft an die rote Diktatur an. Die Lügen des Regimes in der Parteizeitung Prawda (übersetzt: Wahrheit), galten als „objektive Wahrheit“. Hohe Funktionäre wurden während Stalins „großem Terror“ in den 1930er-Jahren solange gefoltert, bis sie die „objektive Wahrheit“ gestanden und sich schuldlos der Spionage, Sabotage und des Vaterlandsverrats bezichtigten. Lügen aus Liebe zur Partei.
Während der Jahrzehnte des Marxismus-Leninismus-Stalinismus gab es immer wieder vergebliche Reformversuche. Doch auch diese Bemühungen um eine wirkliche Verbesserung des Alltags benötigten die „Es-geht-immer-nur-Vorwärts-Lüge“, wie eine Legende belegt, die sich kritische Kommunisten in kleiner Runde leise erzählten. In der DDR hat sie mir einmal ein LDPD-Vertreter erzählt, das war die liberaldemokratische Partei in der DDR:
„Als alle Tiere Kommunisten waren und alle Kommunisten Tiere, tagte wieder einmal das Zentralkomitee der Partei. Der Vollversammlung der Tiere wurde ein Beschluss verkündet: ‚Zwei mal zwei ist sechs.‘ Die Vorsitzende Ratte fragte, ob sich jemand dazu äußern möge. Niemand meldete sich, nur der Hase rief laut: ‚Zwei mal zwei ist nicht sechs, zwei mal zwei ist vier!‘ Sofort traten zwei Wölfe links und rechts neben den Hasen und führten ihn ab. Wie man im Kreis der Tiere vermutete, war der Hase im ‚Bau‘ verschwunden, fernab von seinem gemütlichen Schlafplatz unterm Busch. Jahre später lud das Zentralkomitee zur nächsten Vollversammlung ein. Der Hase, etwas abgemagert, war wieder dabei, denn das ZK hatte eine Amnestie erlassen. Nun sollte es Reformen, Fortschritt geben. Wieder wurde ein Beschluss der Partei verkündet: ‚Zwei mal zwei ist fünf!‘ Und wieder meldete sich nur der Hase lautstark zu Wort: ‚Zwei mal zwei ist nicht fünf, zwei mal zwei ist vier‘.
Die beiden Wölfe waren sofort zur Stelle, führten den Hasen ab, diesmal jedoch nicht in den ‚Bau‘ sondern in eine Gaststätte, denn wegen der Reformen hatten sich die Methoden der Sicherheit verfeinert. Zu dritt nahm man an der Theke Platz, der Hase in der Mitte. Wolf Nr.1 brüllte den Hasen an: ‚Was soll denn dein alberner Widerstand, Genosse Hase? Willst du zurück in den Bau?‘ Der Hase zuckte zusammen. Wolf Nr.2 sagte ruhig: ‚Genosse Hase, einmal den Mund halten kostet dich doch nichts. Zwei mal zwei ist fünf, das ist ein Beschluss unserer Partei. Du weißt als Genosse, dass die Partei immer recht hat.‘ ‚Nein, nein‘, sagte der Hase, ‚zwei mal zwei ist vier.‘ Und während Wolf Nr.1 die Faust drohend hob, bat Wolf Nr.2: ‚Genosse Hase, bitte stimme zu! Gib deinen Widerstand auf! Willst du Rückschritt statt Fortschritt? Soll es wieder heißen: ‚Zwei mal zwei ist sechs?‘'
"Diskretion ist Wahrheit gezügelt durch Weisheit"
Oppositionellen Querdenkern in der DDR riet der systemkritische Schriftsteller Stefan Heym 1972 in seinem Parabelbuch „Der König David Bericht“ indirekt dazu, lieber zu schweigen, den Mund zu halten, genauer gesagt zur Diskretion, um in der Diktatur überleben zu können: Diskretion sei "Wahrheit gezügelt durch Weisheit.“
Doch eine wachsende, wenn auch kaum organisierte DDR-Opposition machte sich von derart weiser Diskretion frei. 1989 gingen hunderttausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit der Parole „Gegen Wahrheitsmonopol der SED“ auf die Straße. Zuvor waren im Mai 1989 systematische Wahlfälschungen nachgewiesen worden.
Wie im Dominoeffekt wurde die Lüge als Herrschaftssystem auch bei den – verlogen Bruderstaaten genannten – Nachbarn im gesamten kommunistischen Machtbereich besiegt. Doch inzwischen hat sich die Lüge - völlig ungeniert – als offizielle Botschaft in einigen Ländern von ihrer Niederlage vor 30 Jahren wieder erholt. Dem diabolisch-genialen Trick, alle Art von unliebsamer Kritik zu "Fake-News" zu erklären, ist mit Argumenten schwer beizukommen.
Viele Menschen erliegen der Verlockung politischer Wunschkonzerte und Verschwörungstheorien. Auch eine deutsche Partei agitiert immer wieder mit halb-wahren Parolen, widerwärtigen Verharmlosungen der Nazi-Diktatur, und sagt Kritikern: „Das wurde falsch verstanden, war nicht so gemeint.“
Doch die Lüge, die in der halben Wahrheit steckt, wirkt wie ein Virus weiter. Dagegen steht heute immerhin die an der Realität orientierte Gegenöffentlichkeit, doch sie wird – auch von jener Partei – dreist als "Lügenpresse" beschimpft, noch vor einigen Jahren hatte hauptsächlich nur die NPD dieses Schimpfwort in ihrer Propagandasprache benutzt.
Kriegszwecklüge 2003
Auch die Vereinigten Staaten von Amerika, machtvolles Leitbild und Schutzpatron westlich geprägter Demokratien, haben sich vor rund 19 Jahren einer Kriegslüge schuldig gemacht. Im Februar 2003, beschuldigte der amerikanische Außenminister Colin Powell im Auftrag seines Präsidenten George W. Bush den irakischen Machthaber Saddam Hussein, Massenvernichtungswaffen zu besitzen.
Das war eine bewusste, taktische Lüge, die der US-Geheimdienst seinem Präsidenten als Tatsache präsentiert hatte. „Meine Kolleginnen und Kollegen, jede Aussage, die ich heute mache, ist durch Quellen untermauert, durch solide Quellen.“, hatte Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesagt. Mehr als zwei Jahre später sah sich Powell vom US-Geheimdienst getäuscht und bekannte: „Es gab Leute beim Geheimdienst, die zu der Zeit wussten, dass einige der Quellen nicht verlässlich waren.“
Doch niemand wird gezwungen, politischen Lügnern, Sprücheklopfern und Hasspredigern, Verschwörungsrednern und Kriegstreibern zu folgen. Jede/r sollte darauf achten, dass er „in der Wahrheit leben“ kann, wie es Václav Havel formulierte. Damals, 1989, konnte Wahrheit Grenzen sprengen. Wird sie auch einmal Putins Lügengebäude zum Einsturz bringen?
Die Frage ist, ob die Wahrheit dann genügend Menschen hören wollen, die die Lüge allzu leichtgläubig glaubten.
Zitierweise: Joachim Jauer, "Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit", in: Deutschland Archiv, 3.6.2022, aktualisiert am 3.8.2022, www.bpb.de/509007. Der Text setzt Gedanken des Autors aus einem älteren Beitrag von Joachim Jauer, der 2019 in "Christ in der Gegenwart" erschien, aktuell fort. Zu einem weiteren Beitrag des Autors, der am 29. Juli 2022 Verstarb, im Deutschlandachiv über die Geschichte des "Kennzeichen D": Externer Link: D wie Dolmetscher
Wladimir Putin mit Pinocchio-Lügen-Nase. Protestschild auf einer Demonstration in Berlin vor der Botschaft Russlands Unter den Linden am 13. März 2022. (© bpb / Kulick)
Zu allen weiteren Texten in der Rubrik Externer Link: "Zeitenwende? Stimmen zum Ukrainekrieg und seinen Folgen". Darunter sind:
Bernd Greiner, Externer Link: Was lief schief seit dem Ende des Kalten Kriegs? Deutschland Archiv vom 2.4.2022
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow: Externer Link: "Sie haben die Zukunft zerbrochen", Deutschland Archiv 30.4.2021
Andreas Reckwitz, Externer Link: Der erschütterte Fortschritts-Optimismus, Deutschland-Archiv 11.4.2022
Uwe Hassbecker: Externer Link: "Putin meint uns", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolfgang Templin, Externer Link: "Wurzeln einer unabhängigen Ukraine", Deutschland Archiv vom 23.3.2022
Gerd Koenen, Externer Link: "Die russische Tragödie, die auch die unsere ist", Deutschland Archiv 26.3.2022
Cedric Rehman, "Externer Link: Vertreibung ist auch eine Waffe", Deutschland Archiv 27.3.2022
Eva Corino, "Externer Link: Mehr Willkommenklassen!", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolf Biermann, Externer Link: Am ersten Tag des Dritten Weltkriegs, Deutschland Archiv vom 25.2.2022
Ekkehard Maas, Externer Link: Russlands Rückfall in finsterste Zeiten, Deutschland Archiv vom 28.2.2022
Wladimir Kaminer, Externer Link: "Putin verursacht nur Scheiße", Deutschland Archiv vom 2.3.2022
Jörg Baberowski, Externer Link: Das Verhängnis des Imperiums in den Köpfen, Deutschland Archiv 3.3.2022
Tobias Debiel, Externer Link: Kalter und heißer Krieg. Wie beenden? Deutschland Archiv 4.3.2022
Joachim Jauer, Externer Link: "Ihr Völker der Welt", Deutschland Archiv 5.3.2022
Lana Lux, "Externer Link: Hat Putin Kinder?" fragt meine Tochter, Deutschland Archiv vom 10.3.2022
Micha Brumlik, Externer Link: Der Philosoph hinter Putin, Deutschland Archiv 11.3.2022
Anna Schor-Tschudnowskaja, Externer Link: Krieg der Lügner, Deutschland Archiv vom 12.3.2022
Weitere Inhalte
Joachim Jauer war ZDF-Korrespondent in der DDR. Er war Jahre lang verantwortlich für das Magazin Kennzeichen D. 1989 berichtete er über den Fall des Eisernen Vorhangs, die DDR-Fluchtbewegung und wurde Chronist der Revolutionen in Osteuropa. Er ist Autor der Bücher "Urbi et Gorbi" und "Kennzeichen D - Friedliche Umwege zur deutschen Einheit".
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