Eine Dokumentation der 19. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede, gehalten am 1. Mai 2022 in der ehemaligen Benediktinerabtei in Schloss Corvey bei Höxter von Kirchenhistoriker Hubert Wolf aus Münster.
„Die Stunde ist gekommen aufzustehen vom Schlaf“ Nachdenken über Deutschland, die Geschichte seiner Hymne, und die Fragilität liberaler Demokratien angesichts des Ukrainekriegs.
/ 28 Minuten zu lesen
Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand Blüh im Glanze dieses Glückes, Blühe, deutsches Vaterland!
Ohne Zweifel ist das der wirkmächtigste Text aus der Feder von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Einigkeit und Recht und Freiheit sind in der Tat die entscheidenden Werte, auf denen nicht nur unser deutsches Gemeinwesen, sondern auch Europa und die ganze Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg basieren. Nichts hat uns schmerzlicher vor Augen geführt, was passiert, wenn diese Werte mit Füßen getreten werden, als der unsägliche Angriffskrieg Putins und Russlands gegen die Ukraine.
Nichts hat uns aber auch nachdrücklicher gezeigt, wozu Menschen und Völker in der Lage sind, die sich diesen Werten mit Herz und Verstand verschrieben haben, wie die ukrainischen Frauen und Männer, die dem Aggressor mutig und einig widerstehen. Sie wissen, welch hohes Gut die Freiheit ist, die sie mit allem, was sie haben, verteidigen. Hoffmann von Fallersleben, der wegen seiner Sehnsucht nach Einigkeit und Recht und Freiheit verfolgt wurde und nach langen Jahren der Heimatlosigkeit hier in Corvey eine neue Heimat gefunden hat, würde den Ukrainerinnen und Ukrainern ohne Zweifel seinen höchsten Respekt zollen.
Wir sollten uns an seine Seite stellen: Einig mit den Menschen der Ukraine, die nichts anderes wollen als in Freiheit zu leben und selbst über ihre Zukunft und die ihres Gemeinwesens zu entscheiden, verbunden mit ihnen durch eine gemeinsame Überzeugung von Recht und Gerechtigkeit, bereit zu Solidarität, etwa um den Geflüchteten Heimat und Nähe zu geben oder Studierende aus der Ukraine, aber auch aus Russland, in die Lage zu versetzen, ihr Studium hier in Deutschland,zum Beispiel an meiner Universität in Münster weiterzuführen. Dafür sind Ihre Spenden und mein Preisgeld bestimmt, als ein kleines Zeichen dafür, dass diese Werte für uns nicht nur Worte sind, sondern für eine entschiedene Haltung stehen.
Deutschlands gescheiterte Suche nach einer unbelasteten Hymne
Aus dieser heutigen Erfahrung heraus verstehen wir vielleicht nicht mehr unmittelbar, warum Bundespräsident Theodor Heuss so lange zögerte, bevor er die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ 1952 schließlich doch zur Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland machte. Der Missbrauch der ersten beiden Strophen durch die Nationalsozialisten, die damit ihren furchtbaren Eroberungskrieg und die Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen – gerade auch in Polen und der Ukraine – rechtfertigten, hat dabei sicher eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.
Der Versuch von Theodor Heuss, eine neue, politisch unbelastete Hymne zu schaffen, war mit Pauken und Trompeten gescheitert. Rudolf Schröders Verse, in denen Deutschland als „Land des Glaubens“, „Land der Hoffnung“ und „Land der Liebe“ gefeiert wurde und der damit die drei theologischen Tugenden ins Zentrum der Nation gestellt hatte, „das war selbst für fromme Seelen in zerknirschten Nachkriegszeiten eine zu kühne Vorstellung“, wie Hans Maier treffend bemerkt hat. „Theos Nachtlied“, auch als „schwäbisch-protestantischer Nationalchoral“ verspottet, konnte sich gegen Haydns eingängige Musik und Hoffmann von Fallerslebens starken Text mit seinen liberalen Grundwerten nicht durchsetzen.
Allzu einfache theologische Deduktionen und schnelle kirchliche Vereinnahmungen verbieten sich von selbst beim „Nachdenken über Deutschland“, ausgehend von Hoffmann von Fallersleben und seinem „Lied der Deutschen“, das mir als katholischem Kirchenhistoriker von Ihnen heute als Thema gestellt wurde.
Zusätzlich sollte – so eine weitere Vorgabe – gerade in diesem Jahr, in dem sich die Gründung der bedeutenden Benediktinerabtei hier in Corvey zum 1.200. Mal jährt, der besondere Genius loci dieses Weltkulturerbes der UNESCO und seiner Bibliothek nicht aus dem Blick verloren werden.
Wer aber im Zusammenhang mit Hoffmann von Fallersleben Corvey sagt, der darf Herzog Victor I. von Ratibor, den Herrn von Corvey, nicht vergessen. Denn dieser liberale Katholik war es, der dem von reaktionären Preußen 1842 seines Amtes enthobenen Professor und für vogelfrei erklärten Dichter seit 1860 hier Auskommen, Heimat und eine adäquate Wirkungsstätte bot.
Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich als Ausgangspunkt meines „Nachdenkens über Deutschland“ für die Rede ein Dreieck mit folgenden Ecken:
1.) Hoffmann von Fallersleben, der Dichter und Forscher, der sich nach der Volksliedtheorie als Sprecher des deutschen Volkes und seiner Sehnsucht nach einem einheitlichen, freiheitlichen deutschen Rechtsstaat verstand. Er soll zugleich in meinen Überlegungen für den Grundwert „Recht“ stehen.
2.) Victor I. von Ratibor, der als liberaler Katholik die Erfindung eines ultramontanen Einheitskatholizismus im 19. Jahrhundert strikt ablehnte und einen heute oft vergessenen alternativen Katholizismus repräsentiert, der Kirche und Moderne, Glauben und Wissen, Religion und Aufklärung für grundsätzlich kompatibel hielt. Er soll für den Grundwert „Freiheit“ stehen.
3.) Benedikt von Nursia, der als Gründer des abendländischen Mönchtums dafür Sorge trug, dass die Abtei Corvey wie viele andere Klöster des Benediktinerordens zu einem Ort der Bewahrung und Weitergabe von Glauben und Kultur wurde, und deshalb als Patron Europas und der Werte, die gemeinhin damit verbunden werden, gilt. Er soll für den Grundwert „Einigkeit“ stehen.
1. Recht: Hoffmann von Fallersleben und die Grundlagen des modernen Verfassungsstaates
Schauen wir zunächst etwas genauer auf Hoffmann von Fallersleben und sein „Lied der Deutschen“. Zwar studierte er zunächst in Göttingen evangelische Theologie, aber rasch führte sein Weg über die Archäologie und klassische Philologie zu seinem Lebensthema der „vaterländischen Studien“. Dahinter verbarg sich im Grunde ein neues Fach: die Germanistik. In dieser Disziplin ging es nicht mehr darum, die griechische und römische Antike wiederzuentdecken, sondern vergessene Höhepunkte der deutschen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte aufzuspüren sowie entsprechende Quellen zu finden und zu edieren. Daher standen vor allem deutsche Kinder-, Volks- und Kirchenlieder im Mittelpunkt seines Interesses.
Der Germanist und Dichter Hoffmann von Fallersleben um 1870, digital nachkoloriert. (© picture-alliance/akg)
Der Germanist und Dichter Hoffmann von Fallersleben um 1870, digital nachkoloriert. (© picture-alliance/akg)
1829 wurde Hoffmann von Fallersleben zum Professor für Germanistik in Breslau ernannt. Seine Ablehnung der zunehmenden Restauration in Deutschland und seine Sehnsucht nach einem liberalen Rechtsstaat wurden immer größer. Auf die Amtsenthebung der Göttinger Sieben 1837 reagierte er ziemlich heftig mit einem Gedicht unter dem sprechenden Titel „Knüppel aus dem Sack“:
Von all den Wünschen auf der Welt
nur einer mir anjetzt gefällt
KNÜPPEL AUS DEM SACK!
Und gäbe Gott mir Wunschesmacht,
ich dächte nur bei Tag und Nacht
KNÜPPEL AUS DEM SACK!
Ich schaffte Freiheit, Recht und Ruh,
und frohes Leben noch dazu
beim: KNÜPPEL AUS DEM SACK!
...
Oh, Märchen, würdest Du doch wahr,
nur einen einzigen Tag im Jahr
KNÜPPEL AUS DEM SACK !
Ich gäbe drum, ich weiß nicht was,
und schlüge drein ohn’Unterlaß
KNÜPPEL AUS DEM SACK !
Aufs Lumpenpack! Aufs Hundepack!
Hier klingen mit Freiheit und Recht bereits entscheidende Motive an, die im „Deutschlandlied“ wiederkehren sollten. 1837 erscheint Hoffmann von Fallersleben die Situation wirklich zum „Dreinschlagen“ gegen die Willkür der Fürsten. Sie und niemand anderes sind mit dem „Lumpenpack“ und „Hundepack“ gemeint, die das Recht mit Füßen treten.
In den „Unpolitischen Liedern“ von 1840 und 1841, die dezidiert politisch gemeint sind, führt er diese Linie fort. Sie stellen „die erste energische und unermüdlich erneuerte Opposition“ gegen den obrigkeitlichen Willkürstaat „durch politische Lyrik“ dar und finden im 1842 entstandenen „Lied der Deutschen“ einen vorläufigen Höhepunkt. Im selben Jahr wird Hoffman von Fallersleben aufgrund aufrührerischer Umtriebe ohne jede finanzielle Absicherung aus dem Staatsdienst entlassen.
Aus diesem historischen Entstehungskontext ist hoffentlich klar geworden:
Auch die ersten beiden, von den Nationalsozialisten diskreditierten Strophen des „Lieds der Deutschen“ hatten ursprünglich nichts mit einem extremen Nationalismus oder gar Chauvinismus zu tun. Sie waren dezidiert nicht nach außen gegen andere Völker gerichtet. Es handelte sich vielmehr um einen Weckruf nach innen: Das ganze Deutschland, alle deutschen Frauen und Männer, die gesamte deutsche Kultur und Sprache, müssen von unten her die Nation begründen. Nicht der Wille von Fürsten oder Dynastien, nicht ein abgehobenes Gottesgnadentum konstituiert Deutschland, sondern grundlegende allgemein verbindliche Werte wie Einigkeit und Recht und Freiheit.
Doch was diese Werte im Einzelnen genau bedeuten, lässt Hoffmann von Fallersleben offen. Eine starre ontologische oder gar naturrechtliche Interpretation wäre auch nicht in seinem Sinne gewesen. Diese Werte besitzt man nicht ein für alle Mal, weder in einer geschriebenen Verfassung noch in einer Hymne. Man muss vielmehr immer wieder neu nach ihnen streben, „mit Herz und Hand“. Sie müssen im liberalen Staat, der auf dem Wert des Rechts basiert, immer neu Ereignis werden durch das Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Dabei steht nichts weniger als das Glück und Heil jedes einzelnen Menschen, aber auch das Glücken des Experiments der freiheitlichen demokratischen Ordnung als solcher zur Disposition.
Die wachsende Fragilität liberaler Demokratien
Wie fragil diese Rechtsordnung ist, zeigt nicht zuletzt die tiefe Krise, in der sich das „liberale“ Modell weltweit befindet. Totalitarismen aller Art feiern in erschreckender Weise überall fröhliche Urständ – nicht selten verbrämt durch religiös-fundamentalistische Motive.
Aber der Blick über den Atlantik auf ein Kernland der Demokratie ist nicht weniger erschreckend. Die Erstürmung des Kapitols im Anschluss an eine Rede des abgewählten Präsidenten am 6. Januar 2021 zeigt, wie auch hier Recht mit Füßen getreten wurde. Der versuchte Sturm auf das Reichstagsgebäude Ende August 2020 in Berlin zeigt, dass auch in unserem eigenen Land der Rechtsstaat sich zunehmend infrage gestellt sieht.
In einer funktionierenden Demokratie erfolgen Machtwechsel gewaltfrei. Deshalb ist es ein Alarmzeichen, als enttäuschte Anhängerinnen und Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington, D. C., stürmen, um die gesetzgebende Institution an der Bestätigung des Wahlsiegers Joe Biden zu hindern. (© The Washington Post / Kontributor)
Das über viele Jahrzehnte bewährte gemeinsame Wertefundament scheint zu zerbröckeln. Und der alte, eigentlich selbstverständliche Grundsatz, dass meine Freiheit ihre Grenze an der Freiheit der anderen findet, gilt nichts mehr in Zeiten von Verschwörungstheorien und sogenannten alternativen Wahrheiten, wie uns die Corona-Pandemie und der Umgang mit ihr in brutaler Weise zeigt.
Fünfundsiebzig Jahre Leben in einer verlässlichen Rechtsordnung, die Frieden und Freiheit in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern garantiert haben, waren nicht selbstverständlich und sind es auch heute nicht, wie wir nicht erst seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sondern bereits seit den Jugoslawienkriegen zur Kenntnis nehmen müssen.
Den Rechtsstaat stärken - aber wie?
Das führt uns zu der Frage, wie unser Rechtsstaat gestärkt werden kann und was wir – jeder und jede von uns – dafür tun können. Dabei kann uns vielleicht eine, erstmals 1964 von dem späteren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte und seitdem viel diskutierte, Hypothese helfen. Sie lautet:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Der moderne Rechtstaat, für den Hoffmann von Fallersleben sich so vehement eingesetzt hat, basiert demnach auf Voraussetzungen, die er sich selbst nicht schaffen kann.
Vor allem zwei Argumente wurden gegen die Böckenförde-Hypothese immer wieder ins Feld geführt:
Zum einen wurde prinzipiell bestritten, dass der Verfassungsstaat Werte, die dem demokratischen Konsens vorausliegen, überhaupt braucht. Vielmehr könne der liberale Staat sich diese Grundlagen selbst schaffen und immer wieder den neuen Bedürfnissen anpassen. Dann stellt sich jedoch die Frage, ob nicht sogar die entscheidende Grundlage des Rechtsstaats, nämlich die Menschenwürde und die sie garantierenden Grundrechte, jederzeit geändert oder gar aufgehoben werden könnten, wenn es für sie gerade keine Mehrheit gäbe.
Die zweite Kritik zielt in eine andere Richtung: Hier wird zwar zugegeben, dass der moderne Staat auf Werten und Überzeugungen beruhe, die er sich selbst nicht schaffen könne, dem Katholiken Böckenförde aber zumindest implizit unterstellt, er gehe selbstverständlich davon aus, die Kirchen und speziell das Lehramt der katholischen Kirche seien die natürlichen Garanten von „ewigen“ Werten und Wahrheiten, die die Grundlagen des säkularen Staates bildeten, weshalb der Staat die Kirchen und Religionsgesellschaften als Wertestifter in besonderer Weise fördern müsse.
Diesen einlinigen Zusammenhang hat Böckenförde freilich nie hergestellt. Er ging bewusst nie so weit wie etwa der Philosoph Jürgen Habermas, der in seiner Rede vom „sakralen Komplex“ den Kirchen eine unverzichtbare sozialintegrative Rolle zuschreibt und sie dafür in Anspruch nehmen will, dem Prozess einer ständigen Desintegration, der den modernen Staat mehr und mehr bedroht, durch immer neue „Solidaritätsressourcen“ entgegen zu wirken.
Kriegsherren gegen den Westen: Russlands orthodoxer Patriarch Kyrill I. und Präsident Wladimir Putin bei einer nationalen Gedenkzeremonie am 4. November 2014 auf dem Roten Platz in Moskau. (© picture-alliance/AP, Vasily Maximov)
Kriegsherren gegen den Westen: Russlands orthodoxer Patriarch Kyrill I. und Präsident Wladimir Putin bei einer nationalen Gedenkzeremonie am 4. November 2014 auf dem Roten Platz in Moskau. (© picture-alliance/AP, Vasily Maximov)
Die Gefahr eines solchen Unterfangens war dem liberalen Katholiken Böckenförde angesichts von Religionen, die wegen ihrer unbedingten, absoluten und transzendent begründeten Wahrheits- und Machtansprüche zu Hierokratie und Totalitarismus tendieren, durchaus bewusst, wie die Äußerungen des Patriarchen Kyrill zur Rechtfertigung des russischen Überfalls auf die Ukraine drastisch vor Augen führen: Ein heiliger Krieg zur Verteidigung der christlichen Werte gegen das Gift des westlichen Liberalismus. Böckenförde kannte sie aus der Geschichte seiner eigenen Kirche nur zu gut.
Das päpstliche Lehramt hatte nämlich seit der Französischen Revolution nicht nur den modernen Rechtsstaat als solchen, sondern auch all die Werte, auf denen er beruht, über fast zwei Jahrhunderte hinweg in Bausch und Bogen verdammt. Hier seien nur die wichtigsten Meilensteine des römischen „Damnatur“ genannt:
Pius VI. verurteilte am 10. März 1791 feierlich die Erklärung der Menschenrechte. Die „schrankenlos gebietende Volkssouveränität“ als Grundwert des modernen Rechtsstaates wurde entschieden verworfen, das Freiheitsprinzip als „absurdissimum“ verdammt, die Behauptung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit aller Menschen sogar als „inanis“ (sinnlos) gebrandmarkt.
In seiner Enzyklika „Mirari vos“ vom 15. August 1832 wurde Gregor XVI. noch deutlicher. Er lehnte die Forderung nach allgemeiner Gewissensfreiheit nicht nur als „erronea sententia“ (irrige Meinung) ab, sondern bezeichnete sie sogar als „diliramentum“ (Wahnsinn) und „pestillentissimus error“ (ganz verderblichen Irrtum). Als „Wegbereiter“ dieser Pestilenz sah der Papst „jene gänzliche und maßlose Meinungsfreiheit, die zum Verderben von Staat und Kirche weit verbreitet ist“, an. Eindeutiger als Gregor XVI. kann man die Grundwerte des neuzeitlichen Rechtsstaates, wie sie sich auch in Hoffmann von Fallerslebens dritter Strophe finden, kaum mehr verwerfen.
Zu einem unbestreitbaren Höhepunkt der Verdammung von bürgerlichen Freiheiten, modernem Verfassungsstaat und Moderne insgesamt durch das päpstliche Lehramt wurde aber der berühmt berüchtigte „Syllabus errorum“ Pius’ IX. von 1864, der eine Liste mit nicht weniger als achtzig modernen Irrtümer enthielt und ein einziges Klagelied über die moderne Zeit und ihren Unglauben anstimmte. Die falschen modernen Propheten verhießen Recht und Freiheit, seien aber Sklaven des Verderbens. Wohin solche Ideen führen, hatte für den Papst das „schreckliche Ungewitter“ der Revolution von 1848, welche für ihn zum Trauma wurde, eindeutig gezeigt, weil er in ihrem Verlauf zur Flucht aus dem Kirchenstaat gezwungen worden war.
Historisch stand Katholizismus versus Rechtsstatlichkeit
Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Volkssouveränität, demokratische Staatsform und Religionsfreiheit wurden im Syllabus feierlich verurteilt, Katholizismus und Moderne explizit für inkompatibel erklärt.
Katholiken konnten nicht zugleich Bürger eines modernen Rechtsstaates und Gläubige der katholischen Kirche sein. Sie mussten sich entscheiden. Diese Linie der totalen Ablehnung der modernen bürgerlichen Werte, Rechte und Freiheiten durch die Päpste lässt sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen.
Die Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit in der Erklärung „Dignitatis humanae“, die das Zweite Vatikanische Konzil am 7. Dezember 1965 verabschiedete, kam spät und stellt einen Bruch mit der bisherigen Verdammungspraxis des kirchlichen Lehramtes dar.
Alle Versuche, eine Kontinuität in der Anerkennung der Grundrechte durch die Kirche zu konstruieren, stellen die historische Wirklichkeit geradezu auf den Kopf. Insbesondere die Behauptungen kirchlicher Würdenträger, die katholische Kirche sei stets Anwältin der Menschenrechte gewesen, ist strikt zurückzuweisen. Damit fällt zumindest die Institution katholische Kirche als Lieferantin und Garantin der Voraussetzungen, auf denen der moderne Verfassungsstaat ruht, ohne sie sich selbst schaffen zu können, weitgehend aus, hat sie diese Grundlagen doch stets abgelehnt und auch heute zum Teil nur halbherzig anerkannt.
Mit Heinrich Heine möchte man ausrufen: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Aber vielleicht kann man die gegenwärtige dramatische Situation auch als Weckruf verstehen, ganz im Sinne von Römer 13,11, wo es heißt: „Die Stunde ist gekommen aufzustehen vom Schlaf.“
Wir alle sind aufgefordert, uns der Prinzipien von Einigkeit und Recht und Freiheit, an denen das Glücken des freiheitlichen Staates Bundesrepublik Deutschland und Europas insgesamt nach Hoffmann von Fallersleben genauso hängt wie unser persönliches Glück, neu zu versichern, mit Verstand, Herz und Hand. Es hängt an jedem und jeder von uns, ob diese Werte sich auflösen in Zwietracht, Unrecht, Diktatur und pseudoreligiösen Gewaltphantasien, oder ob sie in neuem Glanz erstrahlen. Wir dürfen das Feld nicht gesellschaftlichen Verschwörungstheoretikern, religiösen Fundamentalisten und politischen Radikalen überlassen.
Unser Staat braucht uns und unser Engagement als Bürgerinnen und Bürger für die ihn tragenden Werte, und als Menschen, die an mehr als sich selber glauben. Von hier öffnet sich der Blick dann doch noch einmal auf Ernst Wolfgang Böckenförde und sein Verständnis von Katholizismus.
Das Ausfallen der Amtskirche als Garantin der Werte, auf denen der moderne Rechtsstaat ruht, ohne sie sich selbst schaffen zu können, spricht nämlich keineswegs gegen die Böckenförde-Hypothese an sich. Vielmehr wird ihre Berechtigung angesichts der heutigen Situation immer deutlicher. Böckenförde hatte nämlich schon 1964 keineswegs das römische Lehramt als Wertelieferantin im Blick, wie ihm unterstellt worden ist. Stattdessen hat er dessen Verhalten mehrfach entschieden kritisiert. Er machte sich vielmehr schon damals für ein anderes Verständnis von Katholizismus stark.
Und historisch gesehen erweist sich die Annahme eines römischen Einheitskatholizismus als monolithischem Block als Fiktion und Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die insbesondere von „ultramontanen“ Autoren wiederholt propagierte, feste, mit hohen Mauern gesicherte „Kirchenburg“ hat sich – historisch gesehen – als Ammenmärchen erwiesen.
Der Satz, den Paulus den Korinthern schrieb, „es muss Parteiungen unter euch geben“ (1 Kor 11,19), sollte gerade im Gefolge der Französischen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert die katholische Kirche spalten. Sie trennte sich in Katholiken, für die moderne Werte nach Schwefel rochen, und Katholiken, die bürgerliche Freiheiten und Rechte grundsätzlich bejahten und mit dem katholischen Glauben als kompatibel erachteten.
Und damit sind wir bei der zweiten Ecke unseres Dreiecks angelangt: bei Victor I. von Ratibor und dem Grundwert der Freiheit.
2. Freiheit: Victor I. von Ratibor und der liberale Katholizismus
Für die Katholiken, die anders als das römische Lehramt und die Ultramontanen den „Katholizismus als Prinzip des Fortschritts“ und der Freiheit (Hermann Schell) betrachteten, steht bezeichnenderweise kein Geringerer als Herzog Victor I. von Ratibor, der Herr von Corvey, der nicht nur Hoffmann von Fallersleben als Bibliothekar aufnahm, sondern auch seinen Ideen Heimat bot.
Herzog Victor war ein liberaler Katholik und Bruder des freisinnigen Kardinals Gustav Adolf von Hohenlohe-Schillingsfürst, der auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 die Definition des Unfehlbarkeitsdogmas mit allem Nachdruck ablehnte, sowie Bruder des Gründers der liberalen Reichspartei, bayerischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzlers Chlodwig von Hohenlohe.
Die Hohenlohe-Schillingsfürst-Waldenburg und ihre Gleichgesinnten hielten Kirche und Moderne, die Werte des Glaubens und die Ideen des Liberalismus, das Evangelium vom Befreier und Heilands Jesus Christus und das Evangelium der Freiheit der Französischen Revolution für durchaus kompatibel. Für sie sollte Kirche – von einem geschichtlichen Denken inspiriert – stets auf der Höhe der Zeit sein, sich je und je neu in die gegenwärtige Kultur einfügen und sich dabei der Konkurrenz anderer Religions- und Deutungssysteme im pluralistischen Staat offensiv stellen.
Diese liberalen Katholiken traten selbstverständlich für Menschenrechte ein. Sie warben nicht nur für eine Freiheit der Kirche vom Staat, sondern auch für eine Freiheit der Gläubigen in der Kirche. Kindlichen Gehorsam, wie von der Hierarchie gefordert, lehnten sie ab. Argumente statt Autoritätsgläubigkeit sollten für wahre Katholiken künftig zählen. Liberale Katholiken hielten die katholische Kirche für grundsätzlich reformfähig und reformbedürftig: Abschaffung des Zwangszölibats, Aufwertung synodaler Mitverantwortung, Muttersprache in der Liturgie statt tridentinischer Messe waren nur einige ihrer Reformanliegen. Alle Wissenschaften sollten lege artis frei von kirchlicher Bevormundung betrieben werden. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie Heliozentrismus oder Evolutionstheorie sollten ernstgenommen werden. Vor allem aber sollten liberale Katholiken den modernen Staat bejahen und gegen alle lehramtlichen Verbote aktiv und produktiv in diesem mitarbeiten.
Ich nenne hier als Beispiel für einen solchen dezidiert liberalen Katholiken nur den mit den Hohenlohe-Brüdern eng verbundenen Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus. Dieser notierte zum „Syllabus errorum“ Pius’ IX. am 1. Januar 1865 traurig in sein Tagebuch:
Diese Enzyklika sei „gegen alle diejenigen gerichtet, die seit einem halben Jahrhundert die moderne Welt mit der Kirche zu versöhnen strebten, … gegen alle, die an die Möglichkeit glaubten, das Europa des 19. Jahrhunderts könne wieder sich aussöhnen mit Rom … Die Feinde der Kirche triumphieren über diese Zensur; denn sie haben nun, was sie wollten: den Beweis, dass die katholische Kirche der Todfeind der Freiheit, der Wissenschaft und des Fortschritts ist.“
„Ein liberaler Katholik, ein halber Katholik“
Diese Karikatur aus dem Jahr 1875 zeigt Bismarck und Papst Pius IX. beim Schachspiel, das den sogenannten "Kulturkampf" zwischen Berlin und Rom symbolisiert. (© picture-alliance/akg)
Diese Karikatur aus dem Jahr 1875 zeigt Bismarck und Papst Pius IX. beim Schachspiel, das den sogenannten "Kulturkampf" zwischen Berlin und Rom symbolisiert. (© picture-alliance/akg)
Dieser alternative Katholizismus wurde von Rom konsequent verfolgt. Der Papst verketzerte ihn regelmäßig als nicht mehr katholisch. Das böse Wort Pius’ IX.: „Ein liberaler Katholik, ein halber Katholik“ war nicht zuletzt auf Victor von Ratibor und seine Brüder gemünzt. Spöttisch fügte der Papst hinzu: Was könne man bei einer Familie wie den Hohenlohe mit einer protestantischen Mutter und ebensolchen Schwestern schon erwarten.
Auch in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung wurde der liberale Katholizismus entweder verteufelt oder totgeschwiegen. Die Meistererzählung vom unwandelbaren ultramontanen Einheitskatholizismus entstand. Die liberale Linie reicht aber genauso wie die ultramontane ununterbrochen in die Gegenwart hinein.
Dieser zweiten katholischen Strömung klebte man im Lauf der Kirchengeschichte seit 1789 immer wieder neue Etiketten auf die Stirn – katholische Aufklärer, Jansenisten, Episkopalisten, liberale Katholiken, Modernisten oder eben Reformkatholiken – ihr inhaltliches Anliegen einer grundsätzlichen Kompatibilität des Katholizismus mit den Werten der Freiheit blieb aber identisch und zieht sich bis heute durch.
Bezeichnenderweise wurde eine der großen Kontroversen zwischen diesen beiden Katholizismen im Kontext der sogenannten Pillenenzyklika Pauls VI. „Humanae vitae“ von 1968 auf dem Feld der Ethik geführt. Wie nicht anders zu erwarten, ging es dabei um die Frage der freien und mündigen Entscheidung der Gläubigen in Sachen Sexualmoral. Diese Freiheit wollten das Lehramt und die sogenannten Glaubensethiker den Katholiken aber nicht zugestehen. Vielmehr verlangten sie, dass diese sich an die sittlichen Normen der Heiligen Schrift, wie sie nur der unfehlbare Papst authentisch auslegen könne, zu halten hätten. Im Hintergrund stand dabei ein statisch verstandenes Naturrecht.
Den ungeheuren Anspruch der Päpste, die Freiheit der Katholiken und des Staates ganz selbstverständlich beschränken zu können, hatte Pius XI. 1931 noch einmal bekräftigt. Es falle in die alleinige Kompetenz des Lehramts, „die von Gott Uns anvertraute Hinterlage der Wahrheit und das von Gott Uns aufgetragene heilige Amt, das Sittengesetz in seinem ganzen Umfang zu verkünden, zu erklären und – ob erwünscht, ob unerwünscht – auf seine Befolgung zu drängen, unterwerfen … wie den gesellschaftlichen, so den wirtschaftlichen Bereich vorbehaltlos unserem höchstrichterlichen Urteil.“
Die Bewertung, ob ein Staat und die ihn tragenden Werte dem göttlichen Recht entsprechen und er damit lehramtlich gesehen überhaupt ein legitimer Staat ist, liegt diesem Anspruch nach allein in der Kompetenz des Papstes. Die rein immanente beziehungsweise innerweltliche Begründung von Recht wurde strikt abgelehnt. Damit war jeglicher moderner Verfassungsstaat mit den entsprechenden Grund- und Freiheitsrechten undenkbar. Aber auch das sittliche Verhalten und die persönliche Freiheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger wurden kompromisslos dem unterworfen, was die Kirche als Naturrecht definierte.
Den Gebrauch von Kontrazeptiva verwarf Paul VI. auf dieser Basis 1968 als der menschlichen Natur widersprechend, obwohl die überwältigende Mehrheit der vom Papst selbst eingesetzten römischen Kommission sich für die sittliche Erlaubtheit der Pille ausgesprochen hatte. Nur die sogenannte „natürliche Temperaturmethode“ zur Feststellung der unfruchtbaren Tage der Frau war erlaubt, was Julius Kardinal Döpfner, den „Sprecher der Mehrheit“, zu der bösen Frage an Paul VI. motiviert haben soll, ob der Papst denn einen Baum kenne, auf dem Thermometer wüchsen. Wenn ein Artefakt, sprich ein Thermometer notwendig sei, die Temperatur beim Eisprung zu messen, könne es sich um keine „natürliche“ Methode handeln. Besser kann man ein problematisches Naturrechtsverständnis kaum karikieren.
In einem pluralistischen Staat, in dem Menschen ganz unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, können Werte und Normen selbstredend nicht einfach vom Lehramt der katholischen Kirche für alle autoritativ verbindlich vorgeschrieben werden. Was sollte einen religiös nicht gebundenen Menschen oder auch einen Protestanten motivieren, solchen Vorgaben zu folgen? Doch nur plausible Argumente, die die Befolgung einer bestimmten Norm als vernünftig und nützlich für einen selber und die Gemeinschaft ausweisen.
Deshalb müssen christliche Werte in den ständigen gesellschaftlichen Normfindungsprozess aktiv eingebracht werden, um hier durch ihre Plausibilität zu überzeugen. Oder sie werden, wenn sie ohne Argumente nur autoritär behauptet werden, schlicht scheitern.
Davon war zumindest der Moraltheologe Alfons Auer überzeugt, der im Anschluss an die Ablehnung von „Humanae vitae“ durch den Großteil der deutschen Katholiken seine theologische Ethik vom Kopf auf die Füße stellte und das Konzept einer „Autonomen Moral im christlichen Kontext“ entwickelte. Er ging dabei von der grundsätzlichen Geschichtlichkeit und Entwicklung sittlicher Werte und Normen aus.
Vor allem aber war er überzeugt, dass ethische Vorgaben vernünftig begründbar sein müssten, nicht einfach autoritär behauptet werden dürften, und die freie Zustimmung verlangten. Ihre Geltung hänge nicht von einer religiösen Sanktionierung ab, die ohnehin nur für Teile der Bürger von Bedeutung sein könne. Er nahm stattdessen – gestützt auf ein positives Menschenbild – eine grundsätzliche Mündigkeit aller Rechtssubjekte und freie Zustimmung zu entscheidenden Werten an. „Kindlichen Gehorsam“, wie ihn das kirchliche Lehramt bis heute von den Gläubigen verlangt, sah er als absolut fehl am Platz an.
In weltethischer Hinsicht kommen für einen Katholiken keine neuen oder anderen „spezifisch christlichen“ Normen zu den autonom entwickelten und rational als plausibel begründeten sittlichen Weisungen hinzu.
Die tragenden Werte eines Staates, die er sich selbst nicht schaffen kann, werden also nicht von oben dekretiert, sondern müssen von unten in einem fortwährenden Prozess der Verständigung seiner Bürger immer neu begründet werden.
Christen sind dabei von ihrem Glauben her hoch motiviert, sich als gleichberechtigte Rechtssubjekte in diese Wertedebatte aktiv einzumischen. Denn der christliche Glaube bietet in inhaltlicher Hinsicht zwar keine neuen sittlichen Postulate, eröffnet aber einen ganz anderen, wesentlich umfassenderen Sinnhorizont, sich für solche Werte einzusetzen.
Dieser spezifisch christliche Sinnhorizont motivierte aus Auers Sicht Katholiken vor allem in zweifacher Hinsicht:
Erstens: Christen müssen die Normen der „autonomen Moral“ immer neu mit den christlichen Grundaussagen kritisch konfrontieren und im diskursiven Prozess gegebenenfalls auf eine Änderung von Normen hinwirken, wenn diese die Würde des Menschen, die in seiner Gottesebenbildlichkeit beruht, missachten. Sie können freilich in diesem Prozess auch unterliegen.
Zweitens: Christen müssen, was die Umsetzung der jeweils geltenden Werte angeht, stets ihre Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit im Blick behalten. Sie können deshalb denselben Normen wie alle Menschen folgen, dies aber aus der Kraft des Glaubens mit einer neuen Motivation im Hinblick auf höhere Formen menschlicher Selbstverwirklichung tun.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2000 unter Vorsitz der Gerichtspräsidentin Jutta Limbach (M), flankiert von den Richtern Ernst-Wolfgang Böckenförde (l) und Berthold Sommer (r). (© picture-alliance/dpa, Uli Deck)
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2000 unter Vorsitz der Gerichtspräsidentin Jutta Limbach (M), flankiert von den Richtern Ernst-Wolfgang Böckenförde (l) und Berthold Sommer (r). (© picture-alliance/dpa, Uli Deck)
Genau in diesem Sinne sollten wir meiner Ansicht nach die Böckenförde-Hypothese interpretieren und sie als Appell an unsere unverzichtbare Aufgabe als Christenmenschen verstehen. Er hat sie nicht umsonst 1964 zum ersten Mal formuliert, als die katholische Kirche kurz davorstand, erstmals nach zweihundert Jahren der Verdammung Gewissensfreiheit und andere Freiheiten als Grundrechte zu akzeptieren. Dies schloss jeden direkten lehramtlichen Einfluss und jede naturrechtliche Begründung von Staat und Recht in Zukunft aus.
Gerade in dieser Situation war der liberale Katholik Böckenförde überzeugt, dass der moderne Staat auf Werten beruht, die er sich selbst nicht schaffen kann. Im Jahr 2006 präzisierte er:
„Der säkularisierte Staat ist heute und in Zukunft zunehmend auf vorhandene und gelebte Kultur angewiesen, die eine relative Gemeinsamkeit vermittelt und ein die staatliche Ordnung tragendes Ethos hervorbringt. Nun hat sich diese Kultur nicht nur am Rande, sondern weithin aus bestimmten religiösen Wurzeln, aus davon geprägten Traditionen und Verhaltensweisen geformt. Diese sind ihr auch als säkularer Kultur, die sie heute ist, noch inhärent, sei es als Ablagerungen, sei es als gelebte Traditionsbestände.“
Angesichts des Auseinanderfallens unserer Gesellschaft, der zunehmenden Polarisierungen und Diskussionsverweigerungen sind wir als mündige und weltoffene Christen gefragt, diese „Traditionsbestände“ zu aktivieren und als ständige Wertetransfusion unserem Land zugänglich zu machen. Es gilt aber nur die Macht des Arguments oder des in freier Entscheidung gelebten Beispiels.
So sind, um nur ein Beispiel zu nennen, die von der katholischen Soziallehre entwickelten Prinzipien der Personalität, des Gemeinwohls und der Subsidiarität nicht deshalb überzeugend, weil sie vom Lehramt vorgetragen wurden, sondern weil sie von der Sache her plausibel sind. Christenmenschen kommt deshalb eine unverzichtbare wertebegründende und gesellschaftlich integrierende Funktion zu.
Sie können aber auch gezwungen sein, Wiederspruch anzumelden, wenn Grundwerte, auch wenn sie kein christliches Etikett mehr tragen, massiv infrage gestellt oder gar mit Füßen getreten werden. Wenn Mächtige ihre Völker unterdrücken, müssen christliche Gemeinden ihrem biblischen Auftrag als Gegengesellschaft gerecht werden:
„Ihr wisst, dass die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei Euch aber soll es nicht so sein. Wer bei Euch groß sein will, sei der Diener aller.“ (Mt 20,25-26/Mk 10,42-43).
Das gilt zuallererst innerhalb der Kirche selbst. Nur dann kann sie ihre kritische Funktion im Sinne einer „gefährlichen Erinnerung“ (Johann Baptist Metz) an die Botschaft und Praxis Jesu glaubwürdig wahrnehmen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass einzelne Christenmenschen ihre Stimme erheben, in einer Zeit, in der unser Land seine Mitte zu verlieren droht. Wir können der Polarisierungsfalle nur entkommen, wenn wir dazwischenfunken mit vernünftigen Argumenten, die durch den Sinnhorizont unseres Glaubens eine besondere Motivation erhalten. Sind wir so frei, das mit allem Nachdruck zu tun.
3. Einigkeit: Die Benediktinerabtei Corvey als Ort verbindender europäischer Werte
Aber was für Deutschland gilt, gilt in vielleicht noch größerem Maße auch für Europa und die Europäische Union. Sie befindet sich in einer tiefen Identitätskrise und droht auseinanderzufallen.
Der Brexit ist nur die Spitze des Eisbergs. Grundlegende Werte werden in einzelnen Mitgliedstaaten schlichtweg ignoriert. Die EU gleicht einem gigantischen finanziellen Verschiebebahnhof, auch wenn der Angriff Putins auf die Ukraine und die dort verübten Kriegsverbrechen manchen politisch Verantwortlichen vermeintlich aufwachen und umdenken lässt. Bleibt zu hoffen, dass diese Wende nachhaltig ist und sich nicht als Strohfeuer erweist, wenn es darum geht, den Preis dafür zu bezahlen, der auch zu persönlichem Verzicht führen kann.
Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors scheint mit seiner Prophezeiung vom 14. April 1992 leider recht behalten zu haben, als er formulierte:
„Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele, eine Spiritualität, einen Sinn zu geben, haben wir das Spiel verloren. Glauben Sie mir: Nur mit seinen juristischen Fähigkeiten und seinem wirtschaftlichen Knowhow wird Europa keinen Erfolg haben.“
Mit Formulierungen wie Sinn, Seele und Spiritualität sind wir wieder bei den Normen und Werten angelangt, die sich Europa genauso wenig wie der neuzeitliche Nationalstaat selber schaffen kann. Da Jacques Delors diese aber sehr deutlich christlich inspiriert formuliert, ist der Weg zur dritten Ecke meines eingangs beschriebenen Dreiecks frei: zum Genius loci der hiesigen Benediktinerabtei Corvey und der Idee, für die sie steht. So wie Hoffmann von Fallersleben in dieser Bibliothek Heimat und Auskommen fand, so braucht sein „Einigkeit und Recht und Freiheit“ des „Lieds der Deutschen“ keinesfalls antieuropäisch ausgelegt werden, was leider allzu oft geschieht. Vielmehr geht es in Deutschland und Europa um dieselben verbindenden Werte und ihren zunehmenden Ausfall.
Der Autor, der katholische Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf im Kaisersaal des Schlosses Corvey bei der Hoffmann-von-Fallerleben-Festrede am 1. Mai 2022. (© WWU / SMNKG - Matthias Daufratshofer)
Der Autor, der katholische Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf im Kaisersaal des Schlosses Corvey bei der Hoffmann-von-Fallerleben-Festrede am 1. Mai 2022. (© WWU / SMNKG - Matthias Daufratshofer)
Für diese Werte steht hier in Corvey dezidiert Benedikt von Nursia und das auf ihn zurückgehende benediktinische Mönchtum. Benedikt wurde am 24. Oktober 1964 von Paul VI. in einer bemerkenswerten Rede, die er aus Anlass der Wiedereinweihung der im Zweiten Weltkrieg völlig zerstörten Abtei Montecassino hielt, zum Patron Europas erhoben. Genau an diesem Ort hatte Benedikt seine berühmte Klosterregel geschrieben. Der Papst sprach dabei Benedikt fünf Ehrentitel zu, die seine Bedeutung für Europa unterstreichen: Pacis nuntius (Friedensbote), Unitatis effector (Baumeister der Einheit), Civilis cultus magister (Lehrmeister von Zivilisation und Kultur), Religionis Christianae praeco (Künder des christlichen Glaubens) und Monasticae vitae in occidente auctor (Gründer des abendländischen Mönchtums).
Es fällt auf, dass nur die letzten beiden Titel etwas mit Religion und christlichem Leben im engeren Sinn zu tun haben, während sich die ersten drei überraschenderweise auf „weltliche“ Werte beziehen. Und was für Benedikt und seinen Orden allgemein gilt, gilt speziell auch für Corvey. Die Abtei wurde 822 von Ludwig dem Frommen natürlich als Ort des mönchischen Lebens und monastischer Frömmigkeit gegründet, und natürlich sollte sie als Missionsstation für den Norden des Fränkischen Reiches dienen. Nicht umsonst sollte der heilige Ansgar von Corvey aus zum Apostel Skandinaviens werden.
Aber die Benediktiner hatten eine viel umfassendere Aufgabe. Mitten in der Krise der Völkerwanderung und des Untergangs des westlichen Imperium Romanum entstanden, wurden die Benediktinerklöster bald zu den entscheidenden Orten der Bewahrung abendländischer Kultur.
Das Christentum brauchte kulturelle Techniken wie Schrift und Kunst, aber auch Philosophie als unverzichtbare Voraussetzungen einer Schrift- und Hochreligion. Platon und Aristoteles wären genauso verloren gewesen wie medizinische Werke, wenn sie nicht in den Bibliotheken der Benediktiner aufgehoben und in ihren Skriptorien für die Weiterverbreitung in ganz Europa abgeschrieben worden wären. Hier wurden „heidnische“ Werte ganz selbstverständlich bewahrt.
Gleichzeitig trugen die Benediktiner aber maßgeblich zur Einheit des monastischen Lebens in ganz Europa bei. Denn seit den Reformen Karls des Großen und Benedikt von Anianes war es mit den unzähligen divergierenden monastischen Regeln bald vorbei. Es gab nur noch eine einzige Klosterregel: die Benedikts von Nursia, die sich durch eine besondere Ausgewogenheit und Lebbarkeit auszeichnete. Sie transportierte den Grundsatz einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen:
„Ob Sklave oder Freigeborener: In Christus sind wir alle eins und tragen unter dem einen Herrn die gleiche Last des Soldaten- und Sklavendienstes.“
Und den jüngeren Brüdern kommt bei den Entscheidungsprozessen eine entscheidende Rolle zu. Um Gottes Willen herauszufinden, soll der Abt stets auch die Jüngsten um Rat fragen, „weil der Herr oft den Jüngeren offenbart, was das Bessere ist“.
Aber die Einheit der Regel war kein starres Korsett, das die Klöster vor Ort daran gehindert hätte, auf die Eigenarten der Landschaft und ihrer Menschen Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil: Die una regula ermöglichte diversae consuetudines, die Einheit der Regel implizierte eine Vielfalt von Gebräuchen und Anwendungen. Man war sich in den Grundwerten völlig einig, konnte aber nach den Grundsätzen der Epikie die Regel den Umständen entsprechend vor Ort in ganz Europa anwenden.
Hier scheint eine mögliche europäische Lesart von Hoffmann von Fallerslebens „Einigkeit“ zumindest durch: Solange man sich in den Grundüberzeugungen einig ist, kann es im Sinne der Subsidiarität durchaus zu vielfältigen legitimen Ausgestaltungen kommen. Ein solches Konzept ist eine wesentliche Grundvoraussetzung für den Frieden und die Freiheit in Europa. Hier könnte man aus der Geschichte des bedeutendsten Ordens lernen, wenn man wollte: Einheit in Vielfalt ist möglich, wenn die gemeinsame Basis stimmt.
Natürlich geht es aber auch hier nicht darum, Europa im Sinne eines christlichen Abendlandes ein Wertefundament lehramtlich zu verordnen. Es geht vielmehr darum, für diese christlich-benediktinischen Werte zu werben und zugleich auch an die Geschichte der Europäischen Einigung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Die Europäische Union stellt tatsächlich einen „Bruch mit der europäischen Geschichte“ dar, weil es das „historisch gewachsene kulturelle Wertegehäuse“ Europas „nie vermocht“ hat, „das politische Europa der Kriege zu überwinden“ (Dieter Langewiesche).
Schumann, de Gaspen, Adenauer, Heuss: Christlicher Humanismus als tragende Kraft
Dieser „Bruch“ hat entscheidend mit den schwierigen Lernprozessen dreier katholischer Politiker zu tun, die aus den Grundüberzeugungen ihres Glaubens heraus versuchten, das Europa der Kriege zu überwinden, indem sie gemeinsame christliche Werte beschworen: Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Sie waren dabei natürlich beeinflusst von der Idee eines christlichen Abendlandes, das gerade nach 1945 in Theologie und Philosophie wiederentdeckt wurde und das heute weitgehend als Konstrukt diffamiert wird.
Sogar liberale Politiker wie Bundespräsident Theodor Heuss waren von einem christlichen Humanismus angeregt, der scheinbar unversöhnbare Pole wie Individualität und Gemeinwohl, Nationalstaat und Europa miteinander in Harmonie bringen konnte. Für Heuss gab es drei Hügel, die die Identität Deutschlands und des Abendlandes ausmachten: Golgotha, die Akropolis und das Kapitol.
Die Benediktiner in Corvey und anderswo haben dafür gesorgt, in ihren Skriptorien, ihren Bibliotheken und ihrer Liturgie, dass die Botschaft der drei Hügel und die Idee der Einheit weitergegeben wurde von Generation zu Generation. Damit steht nach wie vor ein einmaliger Wertefundus bereit, den es zu nutzen gilt, nicht auf der Basis eines irgendwie gearteten Zwangs, sondern auf der Basis des besseren Arguments.
Schluss
Die Sehnsucht Hoffmann von Fallersleben nach Recht und Gerechtigkeit in Deutschland, der Einsatz liberaler Katholiken wie Victor I. von Ratibor für Freiheit im umfassenden Sinn und die Weisheit Benedikts von Nursia, der Einigkeit als zentrales Gut erkannte: die drei Ecken des heutigen Nachdenkens über Deutschland sind damit ausreichend beschrieben.
Jetzt ist jeder von uns aufgefordert, den Mittelpunkt dieses Dreiecks zu bestimmen und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Der Krieg Russlands gegen ein Land in Europa wie die Ukraine und die Werte von Einigkeit und Recht und Freiheit, für die sie steht, machen dies dringlicher denn je.
Eine ukrainische Frau weint vor einem Wohnhaus, das im Kiewer Stadtteil Obolon durch einen russischen Luftangriff beschossen wurde. (© picture-alliance, abaca | Lafargue Raphael/ABACA)
Ich schließe mit einem Zitat eines der bedeutendsten, zeitgenössischen Schriftstellers der Ukraine, Jurij Andruchowitsch, der angesichts der Majdan-Revolution von 2013/14 formulierte:
„Wir lassen uns nicht einschüchtern. Gott sei Dank. Es fügt sich alles zu einem großen Ganzen: Die Entscheidung für Europa, die Souveränität des Landes, die Rechte und die Würde jedes Einzelnen. Es sind verschiedenen Seiten ein- und derselben Sache. Wenn wir uns für Europa einsetzen, geht es dabei auch um unsere Souveränität. Um die Menschenrechte und um die Freiheit. Das sind nicht nur schöne und naive Worte, das ist die nackte Wahrheit, die bleibt.“
Diese Sätze sind heute aktueller denn je.
Zitierweise: Hubert Wolf, „Die Stunde ist gekommen aufzustehen vom Schlaf"- Nachdenken über Deutschland und die Fragilität liberaler Demokratien. Eine Dokumentation der 19. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede, gehalten am 1. Mai 2022 in Corvey von Kirchenhistoriker Hubert Wolf", in: Deutschland Archiv, 20.05.2022, Link: www.bpb.de/508461. Der Text wurde vorab veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Fallersleben-Gesellschaft. Die Redeform wurde bewusst beibehalten und auf Fußnoten verzichtet.
Ergänzend:
- Externer Link: Zeitenwende? 35 Analysen und Essays zum Ukrainekrieg
Deutschland Archiv im Frühjahr 2022.
- Externer Link: Clemens Escher, Was wollen wir singen? Die Nachkriegs-Bundesrepublik auf der Suche nach einer Hymne
Deutschland Archiv 9.5.2017
- Externer Link: 11. August 1922: Das Lied der Deutschen wird Nationalhymne
bpb-Hintergrund-Aktuell vom 1.7.1922
- Externer Link: Wolf Biermann, Brechts Kinderhymne als Alternative?
Ein Vorschlag aus Hamburg 1986, vorgetragen in der ZDF-Sendung Kennzeichen D vom 13.8.1986 (bei Sendeminute 40'50), aus der bpb-Mediathek
Weitere Inhalte
ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. E-Mail Link: hubert.wolf@uni-muenster.de
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