Im September 1950 begann in der Musikabteilung der Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek in Berlin (ÖWB, vormals: Preußische Staatsbibliothek, heute: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz) eine unrühmliche Phase. Nachdem der alte Leiter seinen Dienst quittiert hatte, wurde ein gewisser Joachim Krüger – auch: Krüger-Riebow – sein Nachfolger, ein Mann, der einer Zeitzeugin „unheimlich“ vorkam. „Klein, unauffällig, stets gut gekleidet und höflich in seinen Umgangsformen, sicher in seinem Auftreten war er, von hoher Intelligenz, sehr agil, aber unstet, umtriebig, nervös und unkonzentriert. Ständig hatte er Besucher, zumeist aus dem Parteiapparat, um sich.“
Doch als Krüger am Kölner Flughafen durch den Zoll ging, brach eine seiner mitgebrachten Kiste auf und die Konversationshefte kamen zum Vorschein. Es gelang ihm, die Zollbeamten davon zu überzeugen, dass er alles bei der zuständigen Stelle abliefern werde, und brachte sie und die anderen Preziosen zum Leiter des Bonner Beethoven-Hauses, Joseph Schmidt-Görg, der alle Bedenken hintanstellte und das überraschende Angebot annahm. Krüger hatte in seiner Eigenschaft als Leiter der Musikabteilung behauptet, dass die Hefte im Kriege verlagert worden und danach nicht wiederaufgetaucht seien. Schmidt-Görg setzte das Versteckspiel nun fort, indem er Anfragen von Wissenschaftlern, die gerüchteweise von ihrer Existenz im Beethoven-Haus erfahren hatten, geschickt abwehrte. „Die Staatsbibliothek hatte während des Krieges die Beethoven-Handschriften wohl zum größten Teil verlagert“, antwortete er auf eine Anfrage. „Was z. Zt. wieder in Berlin ist, wissen wir nicht.“
Die DDR macht die Konversationshefte zum Politikum
Die ÖWB, die inzwischen Deutsche Staatsbibliothek (DStB) hieß, hatte bis dahin wenig Aufhebens um den Verlust gemacht. Ihr waren im Krieg noch ganz andere Schätze abhandengekommen. Doch als Krüger 1959 festgenommen wurde und ihm vor dem Landgericht Göttingen der Prozess gemacht wurde, wo er , nach der Einschätzung der Polizei, als „größter Bücherdieb aller Zeiten“ angeklagt war, meldete sich die Kulturbürokratie der DDR zu Wort.
Die Konversationshefte wurden zum Politikum. DStB-Generaldirektor Horst Kunze forderte Schmidt-Görg unverblümt zur Rückgabe der Hefte auf. Da nun Leugnen keinen Sinn mehr hatte, verlegte sich der Angesprochene darauf, seine Entscheidung zu einer Ruhmestat für die Wissenschaft umzudeuten. „Ich kann Ihnen zusichern“, beteuerte er, „dass all diese nicht nur für die Beethovenforschung wichtigen, sondern als deutsches kulturelles Erbe bedeutenden Handschriften hier mit aller Sorgfalt feuer- und diebessicher verwahrt sind mit dem Ziel, sie der wissenschaftlichen Forschung und der Musikpflege zu erhalten und zu gegebener Zeit den gesamten Beständen, zu denen sie gehören, wieder zuzuführen.“
Der „wirkliche Eigentümer“? Schmidt-Görg schien nicht die DStB dafür zu halten. „Nach dem mir geschilderten und nach Dokumenten belegten Sachverhalt“, dozierte er, „konnte die Handlungsweise des K.-R. [gemeint ist Krüger] mir nicht als Diebstahl erscheinen, weil er sich diese Objekte nicht aneignen wollte und auch nicht angeeignet hat.“
Dem Beethoven-Haus wird Hehlerei vorgeworfen
Es kann nicht überraschen, dass Schmidt-Görgs Antwort in Ostberlin Wut und Enttäuschung auslöste. Angesichts dieses „unverschämten Schreibens“, wie ein Ostberliner Wissenschaftsfunktionär es nannte, beschloss man, „dem Beethoven-Archiv Hehlerei nachweisen [...] und die jeder Anständigkeit entbehrende Haltung des Leiters des Beethoven-Archivs in aller Öffentlichkeit zu entlarven.“
Wie ernst man die Angelegenheit in der SED nahm, hatte bereits am 25. Mai 1960 der Musikwissenschaftler Georg Knepler in einem Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin klargemacht. Er kritisierte die „reaktionären Tendenzen“ der westdeutschen Musikwissenschaft anhand mehrerer Ereignisse aus dem Musikbetrieb, zuvörderst am Fall Krüger und seiner Handhabung in der Bundesrepublik. Schmidt-Görg, den er beim Namen nannte, wollte er nicht allein die üble Rolle in „dieser düsteren Geschichte“ zuweisen. Vielmehr kritisiert er die Zunft als Ganze und im Falle Krügers diejenigen, die davon wussten, dass die Konversationshefte Beethovens im Beethoven-Haus lagerten und der Forschung entzogen waren. Die Frage, wie Schmidt-Görg so lange taktieren konnte, war nicht unberechtigt, die Antwort hing sicherlich von der Perspektive ab. Knepler jedenfalls sah es so: „Es hängt mit dem politischen Klima zusammen, das in Westdeutschland seit eineinhalb Jahrzehnten künstlich erzeugt wurde und heute in stets wachsendem Maße erzeugt wird.“ Wenn es gegen den „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR gehe, dann sei man „im Staate Adenauers“ bereit, Moral und Anstand zu vergessen und auch einen – wie er meinte – Dieb wie Krüger zu decken.
Die Bundesregierung schaltet sich ein
Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurden allerdings auf verschiedenen Ebenen auch die Fühler zur jeweils anderen Seite ausgestreckt. Die Mauer in Berlin war noch nicht gebaut; es gab zahlreiche informelle Kontakte; der innerdeutsche Leihverkehr funktionierte noch. So erklärte Schmidt-Görg seine Bereitschaft, nach Berlin zu kommen und mit Kunze zu sprechen, bot aber gleichzeitig auch ein Gespräch in Bonn an, um ihm Einsicht in das gesamte Material zu geben. Im Ton verbindlich, aber in der Botschaft schroff, schlug Kunze dieses Angebot jedoch aus. Die „gestohlenen Handschriften“ müsse er nicht sehen und auch nicht über sie reden. Es würde ihm reichen, wenn Schmidt-Görg einen Termin für die Übergabe nenne. Wenn er aber unbedingt reden wolle, könne er ihn gerne in Ostberlin aufsuchen.
Damit war erst einmal die Bahn frei für die Hardliner im Osten, wo DStB-Hauptdirektor Werner Dube und andere auf Konfrontationskurs und bereit waren, den Konflikt auf der für dieses Jahr in Dresden geplanten Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung zu thematisieren. Diese Drohung wurde von westdeutschen Musikwissenschaftlern sehr ernst genommen. Sie fürchteten, den propagandistischen Angriffen aus dem Osten ohne Gegenwehr ausgeliefert zu sein, vor allem auf der Tagung in Dresden, die am 2. Mai beginnen sollte.
Doch die rechtliche Argumentation war lediglich der Versuch, den eigentlichen Grund für die Auseinandersetzung zu rationalisieren: die ideologische Auseinandersetzung und persönliche Befindlichkeiten. Man müsse daher, wie das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen erläuterte, das Problem von drei Seiten betrachten: als menschliches – die sowjetzonalen Angriffe auf Schmidt-Görg, die angesichts der Tatsachen zurückzuweisen seien; als juristisches – die Frage der Eigentümerschaft an den Konversationsheften sei durch die komplizierte Nachkriegsgeschichte keinesfalls geklärt, selbst wenn Krüger sie widerrechtlich aus der DStB entfernt habe; als politisches – der Leihverkehr zwischen West und Ost beruhe auf einer pragmatischen Übereinkunft beider Seiten, die allerdings fragil sei. Wenn man die Konversationshefte unter Hintanstellen der juristischen Fragen zurückgeben wolle, dann müsse das Weiterfunktionieren des Leihverkehrs, der ungehinderte Zugang zu den Heften garantiert und die Ehre Schmidt-Görgs gewahrt werden.
Vermittlungsversuche aus der Wissenschaft im Westen
In dieser Lage bot sich der Komponist Wolfgang Fortner an, über seine Kontakte in der Akademie der Künste einen neuerlichen Vermittlungsversuch zu unternehmen. Er war der Meinung, dass die Konversationshefte zurückgegeben werden sollten, bevor sich eine neue, ungute und nicht mehr zu kontrollierende Dynamik ergebe, die die gesamte deutsche Musikwissenschaft international in ein schlechtes Licht rücken würde – immerhin hatte Kunze kurz vorher ihm gegenüber angekündigt, Ende April als letzten Termin zur Rückgabe zu betrachten und ansonsten im Mai rechtliche Schritte gegenüber Schmidt-Görg einzuleiten. Die Sache hielt Fortner angesichts der Umstände, wie die Hefte nach Bonn gekommen waren, für ohnehin belastet. Es müsse nur von der anderen Seite garantiert werden, dass sie an ihrem neu-alten Standort in Ostberlin auch für westdeutsche Forscher zur Verfügung stehen würden, und anerkannt werden, dass Schmidt-Görg öffentlich für die sichere Verwahrung nach der Entfernung aus Berlin gesorgt habe.
Vermittler wie Fortner standen bei ihren Verhandlungen zwischen West und Ost unter Druck. Auf der einen Seite wurde ausdrücklich mit Eskalation durch rechtliche Schritte gedroht; die Drohung mit einer neuen Propagandaoffensive war nicht ausgesprochen, aber es war mit ihr zu rechnen. Auf der anderen Seite drohte weitere Blockade mit der Berufung auf nachvollziehbare rechtliche Vorbehalte gegen eine Rückerstattung der Konversationshefte. „Aus der genauen Kenntnis der Lage aller Beteiligten bitte ich darum, die Rückgabe deswegen nicht zu verzögern und es in Dresden nicht zu Diskussionen über dieses Problem kommen zu lassen“, flehte ein weiterer Vermittler, Herbert von Buttlar, der Generalsekretär der Westberliner Akademie der Künste, den Sachbearbeiter im Bonner Innenministerium an, denn „dies würde wahrscheinlich alle unsere Bemühungen zum Scheitern verurteilen“. Es zogen indes die Vertreter beider Akademien an einem Strang. Die Gelegenheit für eine Beendigung des Konflikts war in der Tat gerade günstig, wie ein Brief Kunzes an Fortner bewies: Er sicherte ihm zu, dass die Handschriften, „wenn sie übergeben sind, dann wieder nach den Gepflogenheiten der Staatsbibliothek der internationalen Fachwelt zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen. Nach der Übergabe werde ich Herrn Professor Schmidt-Görg unverzüglich schriftlich den Empfang dankend bestätigen.“ Dube setzte wenige Tage später ein Schreiben gleichen Inhalts an Fortner ab. Der Übergabe stand von dieser Seite aus also nichts mehr entgegen.
Die Konversationshefte kehren zurück nach Ostberlin
Am 14. Mai 1961 endlich brachten zwei Mitarbeiter Schmidt-Görgs die Handschriften in den frisch gebauten Sitz der Akademie der Künste (West) am Hanseatenweg im Bezirk Tiergarten. Die DStB hatte den Leiter der Erwerbungsabteilung, Oskar Tyszko, und Dube entsandt, aus Westberlin waren Fortner und von Buttlar anwesend. Nur Schmidt-Görg war nicht erschienen. Man wechselte warme Worte und nahm gemeinsam ein Mittagessen ein. Das Fazit des Berichterstatters Dube war positiv: „Insgesamt erfolgte die gut vorbereitete Übergabe in einer sehr entgegenkommenden und aufgeschlossenen Art und Weise.“ Auch was die Bewertung des Handelns von Schmidt-Görg anging, einigte man sich im Geiste künftiger guter Zusammenarbeit: Fortner bat darum, die Rückgabe nicht propagandistisch auszuschlachten, um die Position der Vermittler bei ähnlich gelagerten Fällen nicht zu verschlechtern. Und außerdem habe Schmidt-Görg doch immer in gutem Glauben gehandelt und sich die Handschriften nie aneignen wollen. Angesichts des guten Endes wollte Dube darüber offensichtlich nicht streiten, beharrte aber darauf, dass Schmidt-Görg wenigstens naiv gewesen sei; und dass er die Handschriften der Öffentlichkeit entzogen habe, sei ein unverzeihlicher Akt gewesen.
Doch Ende 1961 schickte Dube noch einen bissigen Gruß in den Westen, ohne Schmidt-Görg persönlich anzugreifen. Wie Knepler erblickte er in der ganzen Angelegenheit nur ein Symptom, einen Ausdruck des „Bonner Systems“, das zahlreiche Bibliothekare dazu veranlasst hätte, von den Machenschaften Krügers zu schweigen, obwohl sie darüber durchaus im Bilde gewesen seien. Sie schwiegen, so Dube, weil die „herrschenden Kreise“ mit Entzug der Alimentation desjenigen Bibliothekars drohten, der das geschehene Unrecht nicht hinnehmen wolle. „Die öffentliche Meinung im Bonner Staat, d.h. die Auffassung der herrschenden Klasse, lässt jede Regung, die ihrer antikommunistischen Grundtendenz zuwiderläuft, zu einer sehr riskanten Angelegenheit werden.“ Aber glücklicherweise habe es in anderen Bereichen noch rechtschaffene Menschen gegeben, die die gerechte Forderung der DStB nach Rückgabe unterstützt hätten. Man hege daher die Hoffnung, dass jetzt auch „die Aufhebung des anderen, größeren Unrechts“ angegangen werden könne, „das den gleichen politischen Hintergrund erhalten hat wie der Fall Krüger“, nämlich die Rückkehr der Marburger und Tübinger Bestände an ihren ursprünglichen Standort.
Zitierweise: Benno Kirsch, „Einmal Beethoven-Haus und zurück - Wie Beethovens Konversationshefte aus der DDR nach Bonn gelangten und in die Berliner Staatsbibliothek zurückkehrten“, in: Deutschland Archiv, 17.5.2022, Link: www.bpb.de/508409.