In diesen Tagen in einem Tagungslokal am Stadtrand Berlins. Aus Sicherheitsgründen nur kurz besucht Achmed Sakajew, Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung in London, die Feier zum 25-jährigen Jubliläum der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft, die seit 1997 Kulturbrücken in den Kaukasus baut und zahlreiche Exiltschetschenen in ihrem Berliner Alltag betreut. Angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine Fragen an Achmed Sakajew von Ekkehard Maaß.
Ekkehard Maaß: Herr Sakajew, Sie leben im Londoner Exil. Was hat Sie jetzt nach Berlin geführt?
Achmed Sakajew: Es gibt drei Anlässe: Erstens hatte ich einige wichtige Gespräche mit Politikern über den Krieg in der Ukraine. Zweitens wollte ich die Jahresversammlung der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft besuchen, auf der ihr 25-jähriges Jubiläum gewürdigt wurde. Meine Zusammenarbeit mit ihr reicht ins Jahr 1997 zurück, als ich Minister für Kultur und Medien der Tschetschenischen Republik Itschkeria war. Uns verbinden kulturelle und politische Projekte, unter anderem Gastspiele des Großen Dramatischen Theaters Grosny und des Kindertanzensembles Daimohk in Berlin, ein parlamentarischer Austausch mit tschetschenischen Politikern und – nach dem ersten Tschetschenienkrieg – die Ausbildung tschetschenischer Minenräumer.
Seit zwei Jahrzehnten unterstützt die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft tschetschenische Geflüchtete in ihren Asylverfahren und bei der sozialen Integration, nicht wenigen wurde mit der Asylanerkennung das Leben gerettet.
Wir sehen seit mehr als acht Wochen die Zerstörungs-Bilder aus Charkiw, Mariupol, Kiew. Erinnern Sie diese Bilder an die Zerstörung Grosnys und an die beiden russischen Tschetschenienkriege?
Unbedingt erinnert das an alles, was in unserer Republik vor sich ging. Leider hat damals die Weltöffentlichkeit nicht adäquat auf den russischen Angriffskrieg in Tschetschenien reagiert. Das begann vor 28 Jahren. Heute benutzt Russland dieselben Methoden, die in Tschetschenien ausprobiert wurden. Wenn die zivilisierte Welt damals versucht hätte, Putin zu stoppen, wenn sie begriffen hätte, dass 1999 hinter den Kriegsvorwänden, den Sprengstoffanschlägen in Moskau und Wolgadonsk, offenkundig bezahlte Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB standen, hätte sie schon damals sehen können, wer dieser Wladimir Putin ist.
QuellentextDie Tschetschenienkriege I und II. Ein Überblick.
Auszüge aus dem Buch "Fluchtzeiten" von Ekkehard Maaß, Berlin 2022:
Der Erste Tschetschenienkrieg 1994–1996
»Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr vertragen könnt…« (Boris Jelzin)
Mit den Lockerungen der Perestroika unter Gorbatschow entstanden in Tschetschenien, ähnlich wie im Baltikum und im Südkaukasus, neue Parteien und Bewegungen, die alle in einem Ziel übereinstimmten: der Befreiung von der russischen Kolonialherrschaft. Die damals einflussreichste Partei war die Grüne Bewegung Tschetscheniens mit ihrem Vorsitzenden Ramsan Goitemirow. Im November 1990 und am 8. Juni 1991 wurde auf zwei tschetschenischen Nationalkongressen von mehr als tausend in allen Regionen gewählten Delegierten die Unabhängigkeit Tschetscheniens beschlossen. Der General der sowjetischen Luftstreitkräfte, Dschochar Dudajew, der sich in Estland geweigert hatte, gegen Demonstranten vorzugehen, wurde zum Vorsitzenden des Nationalkongresses gewählt. Er löste am 1. September den Obersten Sowjet Tschetscheniens auf und ließ alle Schlüsselstellen der Macht von der Nationalgarde besetzen.
Am 27. Oktober 1991 wählte das tschetschenische Volk ein neues Parlament und bestimmte mit großer Mehrheit Dschochar Dudajew zu seinem Präsidenten. Am 8. November 1991 erklärte er erneut die Souveränität und Unabhängigkeit Tschetscheniens. Da er 1992 den Föderationsvertrag mit Russland nicht unterschrieb, gehörte Tschetschenien völkerrechtlich nicht mehr zu Russland. Am 12. März 1992 trat die mit Hilfe von Juristen aus dem Baltikum erarbeitete erste tschetschenische Verfassung in Kraft, die Grundlage für einen modernen, demokratischen Staat.
Alle Versuche Moskaus, mit militärischer Unterstützung der kommunistischen Opposition und mit einer Wirtschaftsblockade sowie der Sperrung aller Verbindungswege den Präsidenten Dudajew zu stürzen, misslangen. Mit Hetzkampagnen in den russischen Medien wurde ein Krieg vorbereitet, der am 11. Dezember 1994 begann.
Eine der modernsten Armeen der Welt beschoss und bombardierte die tschetschenischen Dörfer und die Stadt Grosny. Mehr als 460.000 Menschen flohen in die angrenzenden Republiken, vor allem nach Inguschetien und Dagestan. Traurige Höhepunkte waren die Massaker von Samaschki mit der Folterung und Ermordung von 94 Zivilisten und die Eroberung von Bamut1, bei der Mehrfachraketenwerfer das gesamte Dorf zerstörten. Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wurden die Bergdörfer im Süden Tschetscheniens bombardiert, international geächtete Waffen wie Vakuumbomben, Splitterbomben und Entlaubungsgifte eingesetzt.
Die Luftangriffe wurden gestoppt durch zwei terroristische Akte: Die Geiselnahmen in Budjunnowsk im Juni 1995 und in Perwomaiskoe im Januar 1996. Die Waffenstillstandsverhandlungen, die es seit 1995 gab, wurden immer wieder von Jelzin torpediert, der entgegen den Vereinbarungen mit Dudajew den ehemaligen 1. Sekretär der Kommunistischen Partei, Doku Sawgajew, als Gegenpräsidenten in Tschetschenien einsetzte, Pseudowahlen durchführen ließ und ein Abkommen über den Status Tschetscheniens innerhalb der Russischen Föderation schloss.
Am 21. April 1996 wurde Präsident Dschochar Dudajew von einer gezielten Rakete getötet und der tschetschenische Dichter Selimchan Jandarbijew zu seinem Nachfolger bestimmt. Während Jandarbijew und der damalige russische Ministerpräsident Tschernomyrdin im Kreml ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten, flog Jelzin nach Grosny, verkündete den Sieg über die tschetschenischen Rebellen und kündigte Parlamentswahlen an.
Doch den Pseudoparlamentswahlen der Marionettenregierung folgte im August 1996 eine tschetschenische Großoffensive, vor allem auf Grosny, wo tausend russische Soldaten eingeschlossen wurden. Die Bombardierung und Beschießung Grosnys führte noch einmal zur Flucht tausender Zivilisten. Doch der vor demarsch der Tschetschenen war nicht mehr aufzuhalten. Der zum Tschetschenienbeauftragten ernannte General Lebed verhinderte die totale Niederlage der russischen Armee und unterzeichnete am 31. August 1996 in Chassaw-Jurt (Dagestan) ein Abkommen über die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik, die einer friedlichen Lösung aller politischer Probleme besteht. Die russischen Truppen zogen ab. Trotz Sabotageakten wie der Ermordung von sechs Mitarbeitern des Internationalen Roten Kreuzes in Nowye Atagi, fanden am 27. Januar 1997 unter der Ägide der OSZE Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Unter der Aufsicht von 72 internationalen Wahlbeobachtern und 200 Journalisten wurde Aslan Maschadow mit 59,3% der Stimmen in das Präsidentenamt gewählt. Jelzin gratulierte per Telefon.
Am 12. Mai 1997 wurde in Moskau von den Präsidenten Aslan Maschadow und Boris Jelzin ein Friedensvertrag unterzeichnet und damit indirekt die Souveränität Tschetscheniens anerkannt.
Doch das Land war vollständig zerstört, die Bevölkerung entwurzelt. Durch die Kampfhandlungen starben ca. 100.000 Zivilisten. Der Krieg ließ Tausende Verwundete, Witwen und Waisen zurück. Der im Friedensvertrag vereinbarte Wiederaufbau Tschetscheniens erfolgte nicht, ebenso wurden über siebzig weitere mit Russland abgeschlossene Verträge nicht erfüllt. Der Krieg wurde mit Diversionsakten des russischen Geheimdienstes als kalter Krieg weitergeführt. Maschadow war mit der Nachkriegssituation überfordert, verlor an Ansehen und war nach kurzer Zeit mit einer politisch-religiösen Opposition konfrontiert, die trotz ihres terroristischen Potentials angeblich von Moskau unterstützt wurde. Ohne Hilfe von Russland und der Weltgemeinschaft war Präsident Maschadow zum Scheitern verurteilt, ein zweiter Tschetschenienkrieg vorprogrammiert. (Aus: Tschetschenien – Krieg und Geschichte, E. Maaß/Bettina Kubanek, Berlin 2003):
Der erste Tschetschenienkrieg war wie ein mittelalterlicher Raubkrieg. Russland lag wirtschaftlich am Boden. Die Rückführung der sowjetischen Armeeverbände aus den Ländern des sozialistischen Lagers war für sie eine soziale Katastrophe. Die gemeinen Soldaten konnte man nach Hause schicken, aber wohin mit den zehntausenden Offizieren, die Anspruch erhoben auf Wehrsold, Wohnung, Beförderungen? Die Machtministerien brauchten einen Krieg, da kam ihnen die unabhängige Tschetschenische Republik Itschkeria gelegen.
Zwar war Tschetschenien gemäß der Verfassung rechtmäßig aus der Sowjetunion ausgetreten und der Russischen Föderation nie beigetreten und war also völkerrechtlich kein Bestandteil Russlands, aber was spielt das für eine Rolle in einem Land, in dem es Recht und Gesetz nur gab, wenn man es für seine Ziele brauchen konnte. Trotz der ungeheuren russischen Kriegsverbrechen gab es keine angemessene Reaktion, weder von Europa, noch von den USA. Das ökonomische und politische Interesse an Russland war zu groß.
Der für Kriegsverbrechen und Korruption verantwortliche russische Präsident Boris Jelzin wurde mit massiver Unterstützung besonders Deutschlands und den USA 1996 in eine zweite Amtszeit gewählt. Russland in den Europarat aufgenommen. Das war das Ende der russischen Demokratieentwicklung. Ich hätte mir gewünscht, dass zu Beginn des Krieges Bundeskanzler Kohl seinen Saunafreund Boris Jelzin angerufen hätte: »Lieber Boris, ich bin der Bundeskanzler Deutschlands und kann Dich nicht weiter unterstützen, wenn Du Deine Zivilbevölkerung bombardierst und die russische Armee Kriegsverbrechen verübt. Lass uns gemeinsam eine andere Lösung finden!«
Der Zweite Tschetschenienkrieg 1999–2007
»Man muss sie (die Tschetschenen) wie Ungeziefer vernichten!« »Wir werden sie in allen Ecken der Welt verfolgen und sie in den Toiletten ersäufen!« (Wladimir Putin)
Nach Aussagen des damaligen russischen Ministerpräsidenten Stepaschin wurde der zweite russische Krieg in Tschetschenien seit März 1999 geplant und vorbereitet. Er hatte vier Gründe. Er war erstens eine Reaktion auf die Bombardements der NATO in Jugoslawien. Zweitens war er Revanche für die schmachvolle Niederlage der russischen Armee 1996. Drittens war nach Aussagen Putins, die von vielen russischen Generälen wiederholt wurde, dieser Krieg die Wiedergeburt der russischen Armee und der russischen Nation und der Versuch, das russische Nationalgefühl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu stärken. Viertens und nicht zuletzt wurde der KGB/FSB-Mitarbeiter Wladimir Putin durch diesen Krieg Präsident von Russland.
Der Einmarsch des tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Bassajew in Dagestan, mit oder ohne Hilfe des FSB, war willkommener Anlass für den Beginn der militärischen Operationen. Für die Beteiligung des FSB an den Bombenanschlägen auf Moskau und Wolgadonsk gibt es keine Beweise aber viele Indizien, die der russische Regisseur Andrej Nekrassow in seinem Film »Disbelief« aufzeigt.
Zunächst wurde aus der Luft gebombt und ganz Tschetschenien aus sicherem Abstand unter Artilleriebeschuss genommen – ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Am 10. Oktober 1999 flogen drei Boden-Boden-Raketen auf Grosny: die eine traf den belebten Markt, es gab 167 Tote und unzählige Verletzte; die zweite traf die einzige Geburtsstation von Grosny: 27 Tote; die dritte landete in einem Vorort und traf mehrere bewohnte Häuser. Hundertausende Geflüchtete strömten, von Hubschraubern beschossen, in die Nachbarrepubliken Inguschetien, Dagestan und über das Gebirge nach Georgien. Dann wurde die tschetschenische Ebene mit Panzern überrollt. Die tschetschenische Regierung wählte einen Verteidigungsrat und zog sich im Februar 2000 mit fast allen Kämpfern in die Berge zurück. Beim Überqueren eines Minenfeldes kamen Hunderte ums Leben. Die ohnehin seit dem ersten Krieg nur aus Ruinen bestehende Stadt Grosny wurde restlos zerstört, ebenso weitere fünfzehn größere Dörfer. Der Kampf wurde vor allem aus der Luft geführt und traf Alte, Kranke und Arme, die keine Möglichkeiten zur Flucht hatten.
Im Unterschied zum ersten Krieg nahmen die Bombardements keine Rücksicht auf die Industrieanlagen. Hochgiftige Chemikalien sickerten über das Grundwasser in die Sunscha, einem Nebenfluss des Terek. Ölanlagen brannten und erzeugten einen beißenden Rauch. Ein weiterer Unterschied zum ersten Krieg war die weitgehende Abschirmung von Journalisten und Beobachtern. Die Propagandamaschine hatte dafür gesorgt, dass fast alle russischen Bürger für den Krieg gegen die Tschetschenen waren.
Nach einer Reihe von Kämpfen, wie im März 2000 in Goitschu (Komsomolskoe), wo das gesamte Dorf von ehemals 6.000 Einwohnern restlos zerstört und 1100 tschetschenische Kämpfer getötet wurden, beschloss der tschetschenische Verteidigungsrat den Partisanenkampf.
Das besetzte Tschetschenien glich einem riesigen Konzentrationslager. An Ortsausgängen und Wegkreuzungen wegelagerten Militärposten, die willkürlich Menschen schikanierten, aber vor allem verdienen wollten. An manchen Posten stand ein Schild: Wir haben es satt, euch zu töten, die Passage kostet 50 Rubel. Die russische Armee war mit mehr als 100.000 Mann im Land, kontrollierte aber wegen ihrer Bestechlichkeit nichts, wie die erfolgreichen Anschläge der tschetschenischen Armee zeigten.
Die Bevölkerung lebte in ständiger Angst vor den Säuberungen, mit denen sie systematisch dezimiert wurde. Bei jeder Säuberung wurden bis zu 100 Personen mitgenommen, grausam geschlagen und verhört. Fünfzehn bis zwanzig verschwanden in den berüchtigten Filtrationslagern und konnten, wenn das Dorf das Geld sammelte, freigekauft werden. Viele wurden in den nächsten Tagen verstümmelt und mit grausamen Folterspuren irgendwo verscharrt aufgefunden. Manche Dörfer erlebten bis zu vierzig Säuberungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen, denen offiziell der Zutritt nach Tschetschenien verwehrt wurde, konnten dennoch grausamste Verbrechen dokumentierten. Unter Kontrolle der Menschenrechtsorganisation Memorial wurde ein Massengrab bei dem Militärstützpunkt Chankala in der Nähe des Flugplatzes exhumiert. Es wurden die Leichen von 48 ermordeten Tschetschenen gefunden, unter ihnen drei Frauen. Fast alle waren Zivilisten. Die Leichen wiesen schwerste Folterspuren auf: Brandwunden, abgeschnittene Ohren, abgezogene Haut. Ähnliche Funde gab es in den Kellern russischer Polizeiposten.
Obwohl die Kämpfe zwischen den russischen Truppen und den tschetschenischen Kämpfern unvermindert weiter gingen, sprach die Putinsche Regierung von Normalisierung und kündigte im Oktober Wahlen an. Der Westen hoffte auf ein Versickern des Konflikts, um Freundschaft und Handel mit dem Partner Russland anzukurbeln. Die Partisanen zeigten mit erfolgreichen Angriffen auf russische Militäreinrichtungen, dass es ohne Verhandlungen mit Ihnen keinen Frieden geben wird. Gegen alle tschetschenischen Traditionen entwickelten sich immer mehr islamistische Terrorgruppen, wie die Diversionsgruppe Riadus Silichin, die mit Selbstmordanschlägen auch zivile Ziele in Russland bedrohten, wie die Geiselnahme am 23. Oktober 2002 in einem Moskauer Musical-Theater zeigte.
Die gefälschten Wahlergebnisse des Zwangsreferendums 2003 über eine neue Verfassung kommentierte Wladimir Putin: »Jetzt gehört Tschetschenien wieder zu Russland!« Der in einer Pseudowahl zum Präsidenten ernannte Achmad Kadyrow kam ein halbes Jahr später bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben. Alu Alchanow trat seine Nachfolge an, überließ den Posten aber Achmad Kadyrows Sohn Ramsan, als der 2007 das von der Verfassung vorgeschrieben Alter von dreißig Jahren erreicht hatte. Indes ging der Krieg als Partisanenkrieg weiter.
Am 1. September 2004 erschütterte die Geiselnahme von Beslan die Welt. Bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben hunderte Geiseln, vor allem Kinder.
2005 wurde Präsident Aslan Maschadow ermordet und sein entblößter, geschändeter Leichnam im russischen Fernsehen gezeigt. Bis heute wird den Verwandten seine Bestattung verweigert. Nach seinem Tod organisierten wir auf dem Pariser Platz in Berlin eine Protestdemonstration, an der sich Hunderte beteiligten. Aslan Maschadows Nachfolger wurde verfassungsgemäß der sympathische junge Said-Chalim Sadulajew, der in seinem ersten Erlass Terroranschläge verbot. Tatsächlich gab es bis zu seinem Tod 2006 keine Anschläge mehr. Der für terroristische Aktionen berüchtigte Schamil Bassajew kam bei einer Explosion ums Leben.
Der letzte tschetschenische Untergrundpräsident Dokku Umarow erklärte sich in Verletzung des Artikels 69 der demokratischen tschetschenischen Verfassung zum Emir eines Kaukasischen Emirats. Das gab Russland die Möglichkeit, den Krieg in Tschetschenien als internationalen Kampf gegen den islamistischen Terror zu propagieren.
Das in Tschetschenien, Russland und Europa verstreute ehemalige tschetschenische Parlament wählte im November 2007 per Telefonwahl Achmed Sakajew zum Ministerpräsidenten einer Exilregierung der Tschetschenischen Republik Itschkeria.
Der zweite Tschetschenienkrieg hatte mich erschüttert, kannte ich doch inzwischen die Menschen, die Stadt Grosny, die Dörfer und das Land, das schlimmer als im ersten Krieg zerschossen und zerbombt wurde. Als ich von dem Beschuss des belebten Marktes von Grosny und der Geburtsklinik mit Boden-Boden-Raketen hörte, hatte ich monatelang Alpträume, in denen ich Babys durch die Luft fliegen sah, unter ihnen meinen gerade geborenen Sohn. Wenige Jahre später fragte ich auf einer Konferenz einen amerikanischen Nato-General, was Kriegsverbrechen seien. Er antwortete gelassen: »Alle Angriffe auf zivile Ziele sind Kriegsverbrechen.« – »Auch die Bombardierung Dresdens?« – »Aus heutiger Sicht – aber ja!«
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Was heute in der Ukraine geschieht, unterscheidet sich von den Kriegen in Tschetschenien nur in einem Punkt: In Tschetschenien wurden nach den Angaben der russischen Behörden 200.000 Menschen getötet, unter ihnen 40.000 Kinder. Der Unterschied zu den Frauen und Kindern, die Putin jetzt in der Ukraine tötet, besteht nur in einem: Damals nahm die Welt die Kriege in Tschetschenien als innere Angelegenheit Russlands hin und verschloss vor den Kriegsverbrechen die Augen. Jetzt ist die Welt gezwungen, auf den Krieg in der Ukraine und den Kampf der Ukrainer gegen die russischen Aggression zu reagieren.
Der Krieg in der Ukraine begann einen Tag nach dem 23. Februar, traditionell dem „Tag der russischen Armee“, der zugleich der Gedenktag an die Deportation des tschetschenischen Volkes ist, bei der 1944 unter Stalin 550.000 Inguschen und Tschetschenen aus ihrer angestammten Heimat nach Zentralasien deportiert wurden. Dabei kamen rund 260.000 von ihnen ums Leben.
Ich war bis zuletzt davon überzeugt, dass es zwar die ständigen Provokationen in Donezk und Luhansk gibt, aber eine offene Aggression nicht stattfinden wird. Ich hätte nicht gedacht, dass Putin einen solchen dummen Schritt unternimmt, einen Schritt, der hoffentlich das Ende seiner Amtszeit einleitet. Natürlich war er davon überzeugt, dass das ohne Folgen bleibt und dass ihn die Ukrainer mit Brot und Salz empfangen. Er hat nicht erwartet, dass die Ukrainer einen so erbitterten Widerstand leisten.
Putin spricht von den Ukrainern so abfällig wie damals von den Tschetschenen, sie seien Mücken, Wanzen, Terroristen.
Putin nannte uns Tschetschenen Ungeziefer, Insekten, Islamisten und internationale Terroristen, um uns – als minderwertige Menschen klassifiziert – gewissenloser töten lassen zu können. Dieselbe Terminologie wandte er in Bezug auf die Krim und in Donezk und Luhansk an. Im Krieg gegen die Ukraine geht er dabei noch einen Schritt weiter. Er benutzt die Terminologie des Zweiten Weltkriegs und bezeichnet die Ukrainer als Faschisten und Nazis und spricht in seinem Krieg von der Entnazifizierung, daher müsse er das ukrainische Volk von seiner Regierung und seinen Eliten befreien. Unter solchen Vorwänden ließ er damals auch die Tschetschenen von ihren gewählten Präsidenten Dschochar Dudajew und Aslan Maschadow „befreien“.
Die Weltgemeinschaft ist gezwungen, Putin zu stoppen und dafür zu sorgen, dass er sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten muss. Als Dialogpartner hat er sich disqualifiziert: Wenn der ukrainische Präsident Selenskij schwach werden sollte und sich mit Putin zu Verhandlungen trifft, wäre das aus meiner Sicht ein Sieg Putins, seine Rehabilitierung und eine Schande für die Ukrainer. Joe Biden, der Präsident der USA bezeichnete Putin bereits offen als Kriegsverbrecher,
Die Ukraine hat die Aufgabe, Putin zur Verantwortung zu ziehen, nicht nur für die Kriegsverbrechen in der Ukraine, sondern auch für die Verbrechen gegen das tschetschenische Volk und die gegen russische Bürger gerichteten Sprengstoffanschläge 1999 auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgadonsk, die, dafür sprechen viele Indizien, offenbar der russische Geheimdienst durchführte, um einen Vorwand für die Bekämpfung Tschetscheniens zu schaffen.
Die Ukraine hat jetzt die Chance, Putin für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Daran wird letztlich auch das russische Volk ein Interesse haben, wenn es aus der jetzigen Propaganda erwacht und begreift, was Putin angerichtet hat. Wie die Serben Milošević ausgeliefert haben, wird es aus der Hypnose erwachen und Putin ausliefern.