Familie: Von Deutschland in die USA und zurück
Sharon Adler: Ihr Vater ist 1940 mit einem Kindertransport von Bochum nach Mailand und von dort mit einem italienischen Schiff in die USA gekommen. Ihre Mutter überlebte im Untergrund. Anfang der 1950er-Jahre kam die Familie aus dem Exil nach Deutschland zurück – es sollte nur eine Zwischenstation sein. Wo wollten Sie ursprünglich hin? Wo haben sich Ihre Eltern kennengelernt?
Barbara Witting: Meine Eltern
Meine Eltern haben sich in Bochum kennengelernt, nachdem sie ihre Schulen wegen der Rassengesetze nicht weiter besuchen durften. Sie sind gleichaltrig und lernten vorübergehend gemeinsam in der Jüdischen Schule in Bochum, bis auch diese schließen musste. Mein Vater kam dann mit einem Kindertransport 1940 über Mailand in die USA und wurde in eine jüdische Pflegefamilie vermittelt. Meine Mutter ging mit ihren Eltern in den Untergrund.
1945 wurde mein Vater mit 18 Jahren von der US-Army eingezogen und wegen seiner Sprachkenntnisse in Deutschland stationiert. Immer noch im Ungewissen, was das Schicksal seiner Eltern anging, suchte er die wenigen ihm bekannten jüdischen Familien auf und traf auf meine Mutter. Als die Zeit meines Vaters als US-Soldat in Deutschland endete, heirateten meine Eltern, beide 21 Jahre alt, gingen anschließend zurück in die USA und lebten zunächst bei einer Schwester meiner Großmutter in Kalifornien. Die Geschwister meiner Großmutter sind alle ausgewandert, sie war die Einzige, die in Deutschland blieb. Sie blieb, gemeinsam mit meinem Opa und mit meiner Mutter, weil es auch noch ihre Mutter gab. Meine Urgroßmutter ist nach Theresienstadt gebracht worden. Sie hat nicht überlebt.
Stimmung in der Jüdischen Gemeinde und im nichtjüdischen Umfeld
Sharon Adler: Wie war es für Ihre Eltern, wieder nach Deutschland zu kommen?
Barbara Witting: Meine Eltern zogen mit meiner Großmutter nach Köln, da es dort Verwandtschaft gab. Mein Vater studierte Volkswirtschaftslehre in der benachbarten Stadt Bonn. Er war sehr misstrauisch, was die politische Situation in Deutschland anging, und verfolgte tagtäglich alle Nachrichten, die zu der Zeit zugänglich waren, internationale Zeitungen, die deutsche Zeitung. Insbesondere war er entsetzt, dass ehemalige Nazis weiter in ihren Ämtern verblieben. Das galt für Politiker, Richter, Rechtsanwälte und andere mehr.
Sharon Adler: Wie haben Sie Ihr Judentum und Ihre jüdische Identität in Deutschland als Heranwachsende gelebt?
Barbara Witting: Meine Eltern schlossen sich der Jüdischen Gemeinde zu Köln an. Sie gehörten eigentlich dem liberalen Judentum an, aber in Köln gab es zu dieser Zeit lediglich eine orthodoxe Gemeinde, eine winzige Gemeinde in der Ottostraße, in der sich die kleine Gruppe Überlebender, überwiegend aus den DP Camps, traf. Dort feierten wir die Fest- und Feiertage, und meine Eltern freundeten sich mit einigen Familien an, mit denen sie Zeit ihres Lebens verbunden blieben, und selbst meine Generation und meine Töchter halten bis auf den heutigen Tag mit ihren Kindern Kontakt.
Nachdem ich zunächst einen englischsprachigen Kindergarten und eine Schule der britischen Armee in Köln besuchte –meine Eltern waren lange unsicher, ob es die richtige Entscheidung war, in Deutschland zu bleiben –, wurde ich letztendlich in die vierte Klasse einer katholischen Volksschule eingeschult, um den Übergang ins Gymnasium zu schaffen. Es gab damals nur katholische oder evangelische Volksschulen. Zugleich nahm ich am Jüdischen Religionsunterricht der Jüdischen Gemeinde teil. Damit waren die Würfel gefallen, und wir blieben in Köln. Mein Vater übernahm die Vertretung einer amerikanischen Firma für Europa. Nach und nach hatten wir auch einen nichtjüdischen Freundeskreis, aber meine Eltern waren immer sehr vorsichtig und konnten kein volles Vertrauen aufbauen. Und in der Tat gab es auch in diesem Freundeskreis antisemitische Äußerungen, sodass meine Eltern sich aus dem Kreis zurückzogen.
Als ich ein Kind war, gab es bei der Jüdischen Gemeinde ein durch den Zentralrat der Juden in Deutschland organisiertes Sonntagstreffen der ZJD, der Zionistischen Jugend in Deutschland.
Vermittlung von Judentum, Vielfalt von Jüdischem Leben und die Darstellung in Schulbüchern an nichtjüdischen Gymnasien
Sharon Adler: Sie sind in Köln zur Schule gegangen, auf ein städtisches Gymnasium. Wie haben Sie Ihre Schulzeit erlebt? Welche Bilder vom Judentum sind Ihnen während Ihrer Schulzeit und später während Ihres Studiums begegnet?
Barbara Witting: Ein jüdisches Selbstbewusstsein habe ich in der Schulzeit überhaupt nicht entwickeln können, ich war die einzige jüdische Schülerin. Wir wurden einmal wöchentlich zum Religionsunterricht zusammengerufen, das war schon in meiner Grundschulzeit so. Als ich ins Gymnasium kam, saßen die jüdischen Kinder von der 5. bis zur 13. Klasse jeden Mittwochmorgen im Rahmen eines Bibelunterrichtes zusammen, und die anderen hatten Gottesdienst. Man behandelte das Judentum bestenfalls kurz im Religionsunterricht. Das war auch noch viele Jahre später so, als meine eigenen Kinder Schülerinnen derselben Schule waren. Auch sie waren die einzigen jüdischen Schülerinnen in ihrer Klasse und wurden auch ab und an von den Lehrern gebeten, „doch mal was zum Judentum zu sagen.“
Das Judentum war nicht Bestandteil des Unterrichts, das kann man wirklich nicht sagen. Man konnte seine jüdische Identität dort nicht herausbilden. Ich habe damals versucht, nicht über mein Jüdischsein zu sprechen. Ich habe mich nicht dafür geschämt, aber ich habe gefühlt, dass ich anders als andere bin, habe das aber nicht zum Thema gemacht. Auch später habe ich es gar nicht erst versucht, mich auszutauschen, und mich in dieser Beziehung immer sehr zurückgehalten. In der Zeit, als unter den Studenten die Liebe zur PLO aufkam, habe ich mich einfach zurückgezogen. Ich bin zum Studieren in die Universität gefahren und gleich wieder zurück nach Hause. Meine Eltern haben immer alles getan, um mich zu beschützen, und mich gewarnt, ich solle mich da raushalten.
Sharon Adler: Sie waren von 1976-2002 Studienrätin, Oberstudienrätin und Studiendirektorin in unterschiedlichen Funktionen an öffentlichen Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Wie haben Sie die Vermittlung von Judentum im Unterricht und die Darstellung in den Schulbüchern erlebt?
Barbara Witting: Wie schon in meiner Schulzeit waren auch während meiner Tätigkeit an den nichtjüdischen Schulen in NRW die Vielfalt und Geschichte jüdischen Lebens oder Israel nicht Gegenstand von Schulunterricht und Schulbüchern oder Teil des Lehrplans. Judentum wurde, wie in meiner Schulzeit, lediglich im Rahmen von Bibelkunde im Religionsunterricht vermittelt.
Sharon Adler: Als Sie 2002 die Leitung des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn
Im Jahr 1860 wurde das Schulgebäude in der Großen Hamburger Straße 27 in Berlin-Mitte errichtet. Hier befindet sich das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn auch heute. In der staatlich anerkannten Privatschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin werden insgesamt ca. 500 Schülerinnen und Schülern nach den Berliner Rahmenplänen unterrichtet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Im Jahr 1860 wurde das Schulgebäude in der Großen Hamburger Straße 27 in Berlin-Mitte errichtet. Hier befindet sich das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn auch heute. In der staatlich anerkannten Privatschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin werden insgesamt ca. 500 Schülerinnen und Schülern nach den Berliner Rahmenplänen unterrichtet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Barbara Witting: Ich glaube, inzwischen sind es sogar 500 Schüler, mehr passen auch nicht rein ins Gebäude, und ich vermute, dass insbesondere die jüdischen Eltern ihre Kinder in einem sicheren Umfeld wissen möchten. Jüdische Schulen werden bewacht; Schulfremde haben keinen Zutritt. Das würde ich erst einmal als Hauptgrund nennen, warum jüdische Eltern ihre Kinder in solch einem Umfeld wissen möchten.
Einen Beitrag zur jüdischen Identitätsstiftung leisten
Sharon Adler: Worauf liegt der Fokus des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn, und wie sieht der schulische Alltag aus? Worin bestehen die größten Unterschiede zu staatlichen Gymnasien?
Barbara Witting: Jüdische und nichtjüdische Kinder und Heranwachsende werden, zum Teil ab der 5. Klasse, gemeinsam unterrichtet. Ungeachtet des eigenen religiösen Hintergrunds nehmen alle am Unterricht in den Fächern Jüdische Religionslehre und Hebräisch teil, wobei Hebräisch als moderne Fremdsprache, Iwrit, unterrichtet wird. Der Bibelunterricht vermittelt grundlegende Kenntnisse der hebräischen Bibel und der rabbinischen Auslegungen und der ethischen Werte.
Schüler, die keine jüdische Grundschule besucht haben, erhalten zusätzlichen Unterricht in den Jüdischen Fächern und werden schnellstmöglich integriert. Es ging immer darum, jüdische und nichtjüdische Schüler zusammenzuführen und das jüdische Profil der Schule für alle verbindlich zu machen. Die Schule ist nicht nur Lernort, sondern als Ganztagsschule auch ein Ort des gemeinsamen Lebens. Neben dem gemeinsamen koscheren Mittagessen werden die zahlreichen Fest- und Feiertage im Klassenverband oder als Schulgemeinschaft begangen. Dies fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Viele unserer Schüler nehmen an den zahlreichen Arbeitsgemeinschaften teil, an der Theater-AG, an sportlichen, künstlerischen und musikalischen Aktivitäten, die zumeist mit Aufführungen verbunden sind, innerhalb sowie außerhalb der Schule. Tagesausflüge, Klassenfahrten und Exkursionen, oft unter jüdischen Aspekten, sowie die Israelreise, deren Teilnahme unabhängig von sozialer Herkunft allen Schülern ermöglicht wird, stärken das Wir-Gefühl. Es gab selbstverständlich auch viele Gedenkstättenfahrten, nach Oranienburg, Sachsenhausen und nach Auschwitz. Oder Ausflüge zu Synagogen, ins Anne-Frank-Zentrum, die Teilnahme an Veranstaltungen oder Projektwochen, wo wir eine andere Schülergruppe trafen, auch mit zahlreichen muslimischen Kindern. Da sind einige echte Freundschaften entstanden.
Barbara Witting: „Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag mir schon immer am Herzen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Barbara Witting: „Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag mir schon immer am Herzen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Dann gab es auch viele inner- und außerschulische Wettbewerbe, darunter die Teilnahme an einem Religionswettbewerb, mit einer katholischen, einer evangelischen und einer islamischen Gruppe. Hier lernen die Kinder, auch bei Diskussionsveranstaltungen ihre eigenen Positionen zu vertreten, aber auch, Menschen anderer Konfessionen zuzuhören und ihre Meinung zu tolerieren und zu akzeptieren. Auch bei solchen Veranstaltungen gab es immer wieder fremdenfeindliche oder antisemitische Konfrontationen. Unsere Lehrer und Erzieher haben die Kinder immer sehr gut auf alles vorbereitet und auch darauf, mit Stresssituationen umzugehen, um ein Leben in der Spannbreite von eigener Identität, Akzeptanz anderer und Integration zu bewältigen.
Sharon Adler: Wie wichtig war Ihnen die Vermittlung eines jüdischen Selbstbewusstseins Ihrer Schüler und Schülerinnen, wofür wollten Sie sie stark machen - was lag Ihnen besonders am Herzen?
Barbara Witting: Die Hauptaufgabe der Schule ist die Vermittlung der jüdischen Identität, aber auch die Vorbereitung auf ein Leben in einer pluralen Gesellschaft, und dazu ist es eben auch wichtig, dass die Schule die Grundgedanken anderer Religionen und Kulturen vermittelt, anderer Feiertage und unsere Schüler dann lernen konnten, darüber zu reflektieren.
Diversität
Sharon Adler: Das Verhältnis von jüdischen zu nichtjüdischen Schüler:innen lag zu Ihrer Zeit, in die auch das 20jährige Jubiläum fiel, bei etwa 60 zu 40 Prozent (60 Prozent jüdische Schüler:innen, 40 Prozent gehören anderen Konfessionen an, darunter dem Islam). Rund 20 Nationalitäten lernen an der Jüdische Oberschule (JOS). Auch die Lehrer:innen, fest angestellte und Honorarkräfte, kommen aus vielen verschiedenen Ländern: Aus Israel, der ehemaligen Sowjetunion, aus Frankreich … Wie zentral war für Sie die interkulturelle und interreligiöse Begegnung?
Barbara Witting: Ich glaube, das Wichtigste sind die Begegnungen. Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag mir schon als junge Frau am Herzen und hat in meinem Leben, auch als Schulleiterin, immer eine erhebliche Rolle gespielt. Schon meine Schule in Volkhoven/Weiler in Köln war geprägt von einem hohen Ausländeranteil, vor allem aus der Türkei. Die Integration der Schüler und Schülerinnen, die ohne deutsche Sprachkenntnisse ein Gymnasium besuchen sollten und mit anderen religiösen Vorschriften und Traditionen aufwuchsen, war teilweise recht schwierig und die Situation angespannt.
Schon damals lag mir das sehr am Herzen, dass man sich kennenlernt, denn nur wenn man sich kennenlernt, kann man einander auch verstehen und versuchen zu verstehen. Insofern ist der Dialog unglaublich wichtig, und deswegen bin ich auch auf das „House of One“ gekommen.
Sharon Adler: Seit 2014 engagieren Sie sich im Projekt House of One
Barbara Witting: Das House of One ist eine Institution, die 2016 als „Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin“ gegründet wurde. Die Idee dazu entstand 2011. Es begann damit, dass unklar war, was mit dem Grundstück auf dem Petriplatz in Berlin-Mitte passieren sollte. Pfarrer Gregor Hohberg, der heute auch Pfarrer unseres House of One ist, kam auf die Idee, man könnte das Grundstück und die zukünftige Bebauung für einen Dialog nutzen.
Seit meiner Pensionierung widme ich mich diesem Projekt, dessen Ziel die Errichtung eines Sakralbaus mit einer Kirche, Moschee und Synagoge unter einem Dach ist. Die drei Sakralräume sind durch einen zentralen, sogenannten vierten Raum miteinander verbunden, einem Raum, in dem Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Religionen oder auch ohne Religion einander begegnen, sich austauschen und kennenlernen können, der aber auch für Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen und Konzerte zur Verfügung steht. Vor allem dieser vierte Raum ermöglicht, dass Vorurteile abgebaut werden und so eine Grundlage für ein respektvolles und friedfertiges Miteinander entstehen kann. Wir haben uns zunächst auf die drei Religionen begrenzt, aber die anderen Bereiche, der vierte Raum und die Dachloggia, sind offen für die ganze Stadtgesellschaft. Ich bin als Vorstandsmitglied für den Bereich Bildung zuständig, außerdem gibt es eine große Gruppe ehrenamtlicher Mitarbeiter, die im Bildungsbereich tätig waren. Wir haben Konzepte ausgearbeitet und sind in Schulen gegangen. Das ist leider durch Corona etwas eingeschlafen, aber wir haben fest vor, das wieder zu erwecken.
Vermittlung des Judentums im Schulunterricht
Sharon Adler: Sie haben als Co-Vorsitzende der gemeinsamen AG des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Kultusministerkonferenz (KMK) an der Entwicklung von Empfehlungen zur Vermittlung des Judentums im Schulunterricht zu den Themen „Jüdische Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“ und „Umgang mit Antisemitismus in der Schule“ mitgearbeitet. Welche zentralen Punkte sind Ihnen dabei besonders wichtig?
Barbara Witting: 2018 haben der Zentralrat und die KMK eine enge Zusammenarbeit zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule vereinbart. Diese mündete in einer „Gemeinsamen Erklärung“, einer gemeinsamen Fachtagung und einer eigenen Website
Die Sammlung der Materialien ist auch noch nicht abgeschlossen, denn wenn weiteres gutes Arbeitsmaterial entwickelt wird, wird dies dazugesetzt. Als Team haben der Zentralrat und die KMK den Vorsitz für die Arbeitsgemeinschaft, ich bin von Seiten des Zentralrats wiederum als Vorsitzende benannt worden. Zusätzlich gab auch noch eine Gruppe, die sich mit den jüdischen Materialien beschäftigt hat, das ist auch mit eingeflossen.
Zurzeit bereiten wir eine weitere Fachtagung der KMK und des Zentralrats der Juden zusammen mit der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten zur „Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Schule – Implementierung der Gemeinsamen Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule“ vor. Unsere Zielgruppe sind Entscheidungsträger aus den Bildungsverwaltungen, Extremismusbeauftragte, Fortbildner und Fachreferenten, Lehrkräftebildner und Schulleitungen. Vorgesehen sind Vorträge, Workshops und Podiumsrunden. Ziel ist die verbindliche Verankerung der Themen „Antisemitismus“ und „Judentum“ im Unterricht aller Fächer.
Sharon Adler: Juden und Jüdinnen werden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft entweder als Opfer oder als Täter gesehen – das trifft auch auf den Kontext Schule zu. Wie kann es Ihrer Meinung nach gelingen, mit diesem Narrativ zu brechen und Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, im Unterricht ein lebendiges und realistisches Bild des Judentums, aber auch Israels zu vermitteln?
Barbara Witting: Ich hoffe, dass das von der anstehenden Fachtagung an viele Schulen gelangen wird und dass bereits die Studenten, die auf Lehramt studieren, damit beschäftigt werden. Wir müssen unbedingt davon weg, dass wir als Juden nur mit dem Holocaust verbunden werden. Es ist sehr wichtig, dass die Gesellschaft mehr über jüdisches Leben und seine Vielfalt erfährt. Das muss in die Schulen hineingetragen werden, und das geht nur über den Weg der Verbindlichkeit, wo alle Bundesländer mitwirken.
Sharon Adler: Bei dem Gemeindetag 2016 des Zentralrats der Juden in Deutschland waren Sie Moderatorin eines Gesprächs mit Gesa Ederberg und Sarah Serebrinski zum Thema „Zwischen jüdischer Mamme und Karrierefrau: die Rolle der Frau im Judentum“. Was war das Ergebnis der Diskussion? Wie sehen Sie persönlich diese Rollen?
Barbara Witting: Sarah Serebrinski ist Geschäftsführerin des orthodoxen Rabbinerseminars
Die beiden Frauen waren selbst das beste Beispiel dafür, dass diese Rolle nicht nur jüdische Mamme oder Karrierefrau sein kann. Beide sind Mütter, und beide haben es sehr wohl geschafft, berufstätig zu sein. Ich habe es auch geschafft – obwohl ich etwas älter bin als die beiden –, meine Kinder liebevoll aufzuziehen und gleichzeitig meinen beruflichen Weg zu gehen. Ich denke, das ist heute auch gesellschaftlich so gewollt.
Und auch die orthodoxen Frauen im Judentum arbeiten, und die liberalen sowieso. Es ist ein Klischee, dass die Frau im Judentum nichts zu sagen hat und sich nur um ihre zahlreichen Kinder kümmert.
Zitierweise: „Barbara Witting: „Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag mir schon immer am Herzen.“", Interview mit Barbara Witting, in: Deutschland Archiv, 5.5.2022, Link: www.bpb.de/508003