Die be(un)ruhigende Alltäglichkeit des Totalitären
Anna Schor-Tschudnowskaja
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Warum folgten im Kommunismus und Sozialismus so viele Menschen gefügsam dem Kurs ihrer Diktatoren? Warum ist dies im Russland Putins nun erneut der Fall, obwohl das Land einen erschütternden Angriffskrieg führt? Eine Betrachtung der Psychologin und Soziologin Anna Schor-Tschudnowskaja aus Wien.
In den vergangenen 22 Jahren wurde in Russland immer wieder darüber gestritten, welche Art des politischen Regimes unter Wladimir Putin etabliert worden ist. Die anfängliche Bezeichnung „postsowjetisch“ wie auch die Hoffnung auf eine „Transformation“ oder gar „Demokratisierung“ wichen spätestens seit 2004 terminologischen Versuchen wie „gelenkte Demokratie“ und „Imitationsdemokratie“. Dann folgten Bezeichnungen wie „autoritäre Kleptokratie“ und schließlich „autoritäre Willkür“ und „das Regime der uneingeschränkten persönlichen Macht von Putin“, was nichts anderes als „Diktatur“ bedeutet.
Diese terminologischen Auseinandersetzungen erscheinen jedoch seit dem 24. Februar 2022 in einem neuen Licht: Wie konnte es passieren, dass das Gewaltpotenzial dieses Regimes, welches immer wieder aufs Neue definiert wurde, so massiv unterschätzt worden ist?
Der inzwischen 70-jährige russländische Oppositionelle Grigorij Jawlinskij wurde in einem Mitte April 2022 auf YouTube veröffentlichten Interview auf die schockierende Plötzlichkeit von Putins Krieg gegen die Ukraine angesprochen. Der Journalist Nikolaj Solodnikow schildert seine Beobachtungen: „Also, wenn ich jetzt mit Menschen rede, haben alle nur einen Gedanken im Kopf: dass jetzt etwas passieren wird, dass irgendjemand auf eine Stopp-Taste drückt, und alles wird wieder so, wie es war, als ob es alles [das heißt: den Krieg] nie gegeben hätte.“ Doch Jawlinskij entgegnet mit voller Überzeugung, „dass das Vorkriegsleben nicht mehr zurückkehren wird“.
Dieses Gespräch ist charakteristisch. Das dominierende Gefühl unter russländischen Intellektuellen, die gegen diesen Krieg sind, ist Staunen, dass er überhaupt möglich wurde. Sie leiden stark moralisch und psychisch und sehnen sich in Form einer tragischen Nostalgie nach dem Leben vor dem 24. Februar zurück. Es ruft aber bei vielen Intellektuellen eine starke Abwehrhaltung hervor, dass genau dieses Leben den Krieg erst ermöglichte, ja, ihn systematisch Schritt für Schritt vorbereitet hat.
Die renommierte Politikexpertin Ekaterina Schulman, die mittlerweile aus Russland ausgereist ist, hält jetzt rückblickend fest: „Wir haben 20 Jahre lang unter den Bedingungen eines dämlichen und doch furchteinflößenden, aber ziemlich effektiven Staates gelebt.“ Sie vergleicht Putins Krieg gegen die Ukraine mit einer „großen Betonplatte“, die nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf künftige Generationen gefallen sei, sie erdrücken und ihrer Zukunft berauben würde. So ist auch für Schulman der 24. Februar eine unfassbare Zäsur und Katastrophe, die kaum jemand kommen sah, weil sie nicht für möglich gehalten wurde.
Schockiert, ja fassungslos zeigen sich in Russland vor allem jene gebildeten Schichten, die die aktuellen Ereignisse reflektieren und auch vor dem 24. Februar nicht „blind“ gelebt haben, sondern an Diskussionen teilnahmen und aktiv in der Öffentlichkeit wahrnehmbare zeitkritische Position vertraten. Jetzt stellen sich für sie vor allem zwei dringende Fragen:
Ist der großflächige Angriffskrieg auf die Ukraine ein Schockereignis, das niemand erwarten und sich so vorstellen konnte (oder wollte)? Oder ist es ein Ereignis, das sich folgerichtig aus vielen Äußerungen und Schritten Putins wie auch anderer Akteure in seinem Machtapparat in den Jahren zuvor logisch ableiten lässt, also durchaus zu erwarten war und somit auch keinen Schock hervorrufen sollte?
Wer trägt die Verantwortung für diesen Krieg? Ist es eine kleine Vasallen-Clique um Putin, eine anachronistische, von den Interessen der Bevölkerung weitgehend abgekoppelte Gruppe, die illegitime Entscheidungen trifft und entsprechend handelt („Putin ist an allem schuld“, „Putin ist durchgedreht“)? Oder ist es eine breite Schicht in der Staatsbürokratie und unter den wirtschaftlichen Akteuren – und damit ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russlands –, die diesen Krieg durchaus billigt oder gar unterstützt – und die Hoffnung auf einen baldigen Kriegsabbruch so vergeblich macht?
Beide Fragekomplexe sind durchaus miteinander verzahnt: Sollte es sich bei diesem Krieg um eine gezielte Strategie oder verrückte Laune von Putin handeln, lastet auf der Gesellschaft Russlands so gut wie keine Verantwortung. Und so sind im Rückblick auf die vielen „unschuldigen“ MitläuferInnen und SystemträgerInnen im Dritten Reich auf einmal auch wieder die Analysen und Reflexionen deutscher Denker wie Thomas Mann, Karl Jaspers oder Hannah Arendt mit ihren Fragen aktuell, was denn persönliche Verantwortung in einer Diktatur bedeutet, aber auch, ob es eine persönliche Verantwortung dafür geben kann, dass eine Diktatur übersehen oder zumindest viel zu lange verharmlost worden ist. Und dann stellt sich wieder einmal die Frage: Wie ist das möglich, dass eine Gewaltordnung nicht als eine solche rechtzeitig erkannt wird?
Drei Strömungen von Totalitarismus
Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführte Totalitarismuskonzept versuchte von Anfang an, vor allem drei politische Ordnungen zu beschreiben: den italienischen Faschismus, den Stalinismus und den deutschen Nationalsozialismus. Im Zentrum dieser Konzeption standen mit großer Faszinationskraft ausgestattete Ideologien, umfassende, wenn nicht totale staatliche Kontrolle und politische Massenbewegungen. Die Rolle des Terrors, der Gewalt und der Zerstörung rückte erst später ins Zentrum der Betrachtung, für Nazideutschland insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, für die Sowjetunion sogar noch später.
Die totalitären Ordnungen wurden zunehmend mit dem Phänomen des Lagers und des Staatsterrors identifiziert. Die Rolle der Täter und das Schicksal der Opfer prägten von nun an sehr stark das Verständnis des Totalitären.
Womöglich blendete gerade dieser Fokus der Aufmerksamkeit auf Opfer und Täter eine, wie es mir scheint, sehr wichtige Eigenschaft der totalitären politischen Ordnungen aus: ihre verführerische Alltäglichkeit, ihre durchaus einladende Normalität für jene, die sich weder als Täter noch als Opfer wiederfinden und daher gar nicht vermuten, dass sie unter totalitären Bedingungen leben.
Im Falle der stalinistischen Sowjetunion wird dieses Phänomen sogar noch durch den bemerkenswerten Umstand betont, dass selbst unter Verhafteten und ins Lager gesteckten „Volksfeinden“ durchaus die Überzeugung verbreitet war, dass es sich dabei doch nur um einen Irrtum handle und dass die politische Ordnung, in der sie lebten (und ins Lager gekommen sind), eine richtige sei.
Eine besondere Faszination der kommunistischen Ideen und Ideale sorgte in den Reihen mancher Opfer für bemerkenswert ambivalente Haltungen den eigenen Schicksalen gegenüber. So blieben die bekannten sowjetischen Autoren Jewgenija Ginsburg und Warlam Schalamow – stellvertretend für viele andere Gulag-Häftlinge – sogar nach den Jahren in Gefängnissen und Lagern, in denen sie immer wieder dem Tod nur knapp entrinnen konnten, mehr oder weniger überzeugte Anhänger des kommunistischen beziehungsweise sowjetischen Gesellschaftsmodells. Dieses eigenartige Phänomen der tiefen utopischen Treue von Opfern und Überlebenden (von deren Verwandten ganz abgesehen) zu genau dem Regime, das für ihre Erniedrigung und Entmenschlichung verantwortlich war, ist dagegen im Falle der Shoah schwer vorstellbar.
Am Ende ihrer großen Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ hielt Hannah Arendt fest: „Die Originalität totalitärer Herrschaft, deren Taten in der uns bekannten Geschichte und deren Organisationsform unter den von der klassischen politischen Theorie definierten Staatsformen ohne Parallele dastehen, zeigte sich vorerst in dem, was man gemeinhin als die Verbrechen dieser Systeme bezeichnet.“
So sehr wir mit dem Begriff des „Totalitären“ wie auch des „Autoritären“ vor allem Schrecken des Staatsterrors oder grundsätzlich vermehrten Gewalteinsatz assoziieren, so sehr sollte man bei der „Originalität“ dieser Ordnung berücksichtigen, dass sie lange Zeit gar nicht als „originell“ grausam oder entsetzlich auffällt, dass das Leben in den totalitären Gesellschaften für viele Menschen vor allem normal war und ist. Auch solche Gesellschaften haben ihren monotonen oder auch abwechslungsreichen Arbeitsalltag, in dem glückliche Beziehungen gelebt, Karrieren gemacht, Theaterpremieren besucht und Lebensträume erfüllt werden. Auch in jeder Diktatur „scheint die Sonne“, hat Roland Jahn einmal argumentiert, "aber nicht für jeden":
Der vor Kurzem aus Russland ausgereiste Journalist und Politikexperte Sergej Medwedew erklärte gerade diese Normalität des Alltags im heutigen Moskau für unerträglich: „Ich habe vor allem deswegen Moskau verlassen, ich konnte es körperlich nicht mehr ertragen, in Russland zu sein, auf diesen Straßen laufen zu müssen, zu sehen, wie Menschen zur Arbeit fahren, ins Theater gehen, zu sehen, wie Kinos und Restaurants geöffnet sind, wie das Leben weiter geht vor dem Hintergrund jener Hölle, jenes Abgrundes, der sich in der Ukraine aufgetan hat.“ Medwedew spricht von „einer anthropologischen Katastrophe“, einer „zugefrorenen, vollkommen atomisierten, teilweise gleichgültigen, teilweise den Krieg unterstützenden Bevölkerung [Russlands], die so tut, als ob nichts passiere“.
Zum Verständnis von unfreien und gewaltsamen politischen Ordnungen tragen also bei weitem nicht nur George Orwell oder Jewgenij Zamjatin bei, sondern auch jene Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die diese Ordnungen gerade nicht als antiutopisch, sondern als ganz unauffällig beschrieben, als Terrorregime, in denen der Staatsterror nicht offensichtlich, sondern verschleiert oder gar unsichtbar ist, selbst für Diktatur-Opfer und ihre Angehörigen!
Mit anderen Worten: Den Gulag sollte man nicht nur an den Zeugnissen von Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow studieren, sondern ebenfalls an den Zeugnissen der Menschen, die den Gulag nicht bemerkt oder an ihn nicht geglaubt haben. In der sowjetischen Literatur wären dies unter anderem Lydija Tschukowskaja, Weniamin Kawerin, Jurij Dombrowskij, Lydija Ginsburg: In unterschiedlichen Genres widmeten sie sich dem Studium der verblüffenden Normalität des Alltags unter den Bedingungen des Staatsterrors.
Schließlich sollten auch in der Fachliteratur zu allen mehr oder weniger anerkannten Indikatoren einer totalitären oder auch nur autoritären Ordnung ebenfalls dieses breite Staunen über oder das Nicht-glauben-Wollen an die Gewalt des eigenen Staates hinzugefügt werden.
Wie auch das Gefühl, dass man mit der eigenen Panikmache nicht übertreiben sollte, dass die einzelnen Gewaltanwendungen eher ein Zufall und kein System seien, dass die Entwicklungsrichtung des Systems richtig und das Ergebnis dieser Entwicklung immer noch erfreulicherweise völlig offen sei. Denn das Verkennen des Gewaltpotenzials des aktuellen politischen Regimes hat mittlerweile eine lange Tradition und kann systematisch erforscht werden.
Eine unfehlbare Ideologie mit Religionscharakter
In seinem Buch „Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution“ studiert der Philosoph Michail Ryklin die starke Faszination, die das sowjetische Russland und ab 1922 die Sowjetunion bis zum Zweiten Weltkrieg auf europäische Denker und Künstler ausübte. Er attestiert der kommunistischen Ideologie einen Religionscharakter und versucht damit, die politische und moralische Blindheit der in die Sowjetunion gereisten Intellektuellen zu erklären.
Lydija Tschukowskaja schuf dagegen mit ihrer in den späteren 1930er-Jahren verfassten Novelle „Sofia Petrovna“ ein Denkmal der Blindheit vieler Sowjetbürger und -bürgerinnen. Selbst die Ehefrau eines unter Stalin erschossenen Physikers, Matwej Bronstein, legte Tschukowskaja ein Zeugnis über ihre Wut und Verzweiflung ab, von der sie immer nach den Gesprächen mit anderen Verwandten der Verhafteten ergriffen wurde: Sie alle wollten nicht glauben, dass etwas mit dem Regime nicht stimmt; sie waren der Überzeugung, dass die Verhaftung des Ehemannes oder des Sohnes ein tragischer, mit anderen Worten: nicht erklärbarer Irrtum sei.
Tschukowskaja gab später zu, dass auch sie selbst geneigt war, zu zweifeln: „Der Staat wird sich doch nicht einfach so Tausende von Menschen schnappen? […] Wozu denn? Doch auf diese Frage hatten weder die Klugen noch die Dummen eine Antwort.“ Und an anderer Stelle: „Warum in der Tat soll man einen Menschen verhaften, der sicher unschuldig ist, und dann ihn so lange schlagen, bis er […] gesteht? […] Und wieso gab es plötzlich so viele Menschen, die fähig waren, Unschuldige zu schlagen? […] Und – wozu das alles?“ .
Diese Zeilen sind in den 1980er-Jahren geschrieben worden. Sie bezeugen einerseits, dass Tschukowskaja auch fünfzig Jahre nach dem stalinistischen Terror keine Antworten auf diese Fragen gefunden hat, und andererseits, wie sehr die Alltagsrealität unter Stalin keine Anhaltspunkte für die Wahrnehmung und Erklärung des Staatsterrors bot.
Der bekannte sowjetische Pädagoge Simon Solowejtschik studierte in seinen Tagebüchern, rückblickend auf die Zeit des Großen Terrors, das eigene Gefühl der berauschenden Freiheit, das er und seine Umgebung in dieser Zeit hatten: „Die Freiheit ist ein ganz seltsames Ding; der Mensch braucht ja eigentlich gar keine Freiheit (eine grenzenlose Freiheit gibt es auch nicht), sondern ein Gefühl, frei zu sein. [...] Wenn man Hunger hat, kann man ihn nicht durch eine Illusion der Sättigung stillen, aber mit der Freiheit geht ein solcher Trick durch – und daran hielt auch die kommunistische Ideologie fest: Auf eine trickreiche Art und Weise vermittelte sie dem ganzen Volk die Illusion der Freiheit. Viele Menschen fühlen sich heute weniger frei als damals. […] Eine Illusion ist mehr wert als die Realität.“
Der sowjetisch-jüdische Schriftsteller Boris Balter brachte sehr pointiert sein durchaus heiteres Lebensgefühl als Kind und junger Mensch in der stalinistischen Sowjetunion zum Ausdruck: „Die vernünftige, die einzige Welt, die des Menschen würdig ist, war verwirklicht in jenem Land, in dem ich geboren wurde und lebte. Der ganze übrige Planet wartete auf die Befreiung von menschlichem Leid. Ich glaubte, dass die Befreiungsmission auf meinen und auf den Schultern der mir Gleichaltrigen liegen wird. Ich bereitete mich darauf vor und wartete, bis meine Stunde schlägt.“
Die renommierte Literaturkritikerin Lidija Ginzburg, um ein letztes Beispiel anzuführen, wollte in ihren noch unter Stalin verfassten Notizen diese „Erfahrung der eigenen Gebanntheit“ (opyt zavorožennosti) verstehen. Auch sie war geneigt, von Magie und sakraler Deutung der Geschichte zu sprechen, weniger von konkreten Personen und ihrer Verantwortung für die „Orgie der Massenvernichtung“, so Ginsburg.
War es allerdings damals eine utopische Vision und eine mit humanistisch anmutenden Idealen ausgestattete Ideologie, die Menschen in den 1930er-Jahren faszinierte und verblendete, was ist es heute? Außer Fassaden eines „effektiven Staates“ und einer „Machtvertikale“, was kann Russland unter Putin bieten? Die Ober- und Mittelschicht der Großstädte sind vor allem auf Konsum, digitale Technologien und Lebenskomfort eingestellt, und viele Menschen haben sich mit der flächendeckenden Korruption und Käuflichkeit arrangiert, die auf allen Ebenen der Staatsbürokratie wuchert, verknüpft mit einer ebenfalls verbreiteten, ja fast totalen Verantwortungslosigkeit derselben Staatsbürokratie, die Staatsspitze eingeschlossen.
Wirkt dieses „politische Modell“ so überzeugend und attraktiv? Ist es das Recht des Stärkeren und die Unfehlbarkeit (Willkür) der Staatsgewalt, die als feste Bestandteile der politischen Kultur in Russland eine interessante politische Alternative darstellen?
Ein „Totalitarismus reverse“?
Lev Gudkov, einer der besten russländischen Soziologen, machte bereits 2013 ein tief verwurzeltes autoritäres Prinzip der Machtverhältnisse und nicht rationalisierte, archaische Vorstellungen von der Rolle politischer Herrschaft als solcher für das Scheitern der Demokratisierung in Russland verantwortlich. Teilweise wird dieses Prinzip als Erbe der Sowjetunion angesehen, teilweise als eine Tradition, die noch weiter in die Vergangenheit Russlands zurückreicht.
Die älteren Texte von Gudkov, der wie kein anderer die Nuancen der politischen Kultur im gegenwärtigen Russland analysierte, lesen sich heute wie eine bittere, aber sehr genaue Prognose. Anfang 2022, unmittelbar vor dem Beginn des Krieges ist sein neues Buch erschienen, in dem er seine auf das gegenwärtige Russland bezogene Totalitarismuskonzeption systematisch darlegt: Er spricht von einem eigenartigen „Rückkehrtotalitarismus“ oder auch „Totalitarismus reverse“ – einer politischen Ordnung, die aus den Versuchen, die zuvor bestandene totalitäre Ordnung wiederherzustellen, ohne dass sie dabei dem historischen Vorgänger identisch werden kann, resultiert. Nach Gudkov formierte sich der „Totalitarismus reverse“ über Jahre, schleichend, aber konsequent. Er trägt durchaus auch paradoxe Züge. So ist er zutiefst anachronistisch und resultiert eher aus der Ohnmacht, eine neue politische Agenda bieten zu können, ist zutiefst konservativ und antimodernistisch, auch antihumanistisch.
In einem Punkt stimmen sie fast überein, die totalitäre Ordnung unter Stalin und der Putinismus: der Sakralisierung der Staatsmacht (die nicht ohne Hilfe von zahlreichen Strukturen der Geheimdienste und der massiven Propaganda aufrecht erhalten werden könnte), womit die Person, die an der Spitze des Staatsapparates steht, mit „Russland“ und seinem „Schicksal“, auch seiner „historischen Mission“ gleichgesetzt wird – und daher als unantastbar und unfehlbar gilt, denn Kritik an der Staatsmacht und ihren Fehlern werden als Bedrohung für die Stabilität der politischen und sozialen Ordnung an sich verstanden.
Tatsächlich ist heute kaum noch zu übersehen, dass die eigentliche Konfrontation, die das Regime von Putin mit welchem auch immer gearteten „Westen“ führt, die Konfrontation zwischen dem Gebot der absoluten Unfehlbarkeit der Staatsmacht und der Kritik daran beziehungsweise sogar dem Gebot ihrer Kritik und Selbstkritik ist. Aus dem Gebot der Unfehlbarkeit kann dagegen nur eine Fiktion resultieren.
Heute ist das Regime von Putin bereit, mit brutaler Gewalt der Waffen wie auch mit den Mitteln der Zersetzung und Manipulation – das heißt, durch die Verohnmachtung der Sprache und die Entsinnlichung der Öffentlichkeit und der Politik – für dieses Gebot der Unfehlbarkeit der Staatsmacht zu kämpfen.
Die beruhigende Normalität des Alltages „als ob nichts geschehen wäre“ ist ein Teil dieser Strategie, die beständig auf das Lügen angewiesen ist: je mehr Theaterpremieren und je voller die Shoppingcenter, während ukrainische Städte bombardiert und „befreit“ werden, desto besser. Die Entscheidungen werden innerhalb eines Relevanzsystems getroffen, das nach jahrelanger systematischer Propagandaarbeit und Verdrehung historischer Tatsachen für argumentative Auseinandersetzungen kaum noch zugänglich ist. Mit Arendt sei daran erinnert, dass, „wenn die totale Herrschaft danach trachtet, ihr Territorium zu erweitern und immer neue Gebiete sich einzuverleiben, bis schließlich die Herrschaft über die Erde erreicht ist, so […] um auf der gesamten Erde die fiktive totalitäre Welt zu errichten, deren Stimmigkeit durch keine Tatsächlichkeit mehr gestört werden kann“.
Damit lässt sich vermuten, dass die Gewaltpotenziale der autoritären und der zu totalitären Verhältnissen tendierenden Regime unter anderem (!) deswegen übersehen werden, weil diese politische Ordnungen lange und erfolgreich vorgeben, sich mit tatsächlichen Belangen zu beschäftigen und konstruktiv zu sein.
Es ist jene gefährliche Schwelle, die lügende und sich und Anderen eine fiktive Welt erschaffende Diktatoren so leicht, fast unbemerkbar passieren und die immer wieder übersehen wird. „Je größer die Zahl derjenigen ist, die der Lügner überzeugt hat“, schrieb Arendt im Jahr 1964, „desto geringer ist die Chance, daß er selbst noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann.“ Seine fiktive Welt wird dann mehr oder weniger plötzlich zum Verhängnis für seine überraschten Opfer. Hoffnungsvoll hielt aber Arendt als Philosophin der Freiheit auch fest, dass die Macht „sehr viel vergänglicher als Tatsachen“ ist. Der Putinismus will bereits seit 22 Jahren das Gegenteil beweisen. Derzeit hartnäckiger denn je.
Die Autorin ist Psychologin und Soziologin, geboren in Kiew (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig (mit Stand Mai 2022) ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, "Die be(un)ruhigende Alltäglichkeit des Totalitären", in: Deutschland Archiv, 3.5.2022, www.bpb.de/507957.
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, Diplom-Psychologin und Soziologin, geboren in Kyiv (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und 2022 Externer Link: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345507/der-friedensnobelpreis-2022-fuer-memorial/.
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