„Das aggressive Vorgehen Moskaus in der Ukraine, der mörderische Militäreinsatz in Syrien und die weitgehende Absage an jede Kooperation mit den westlichen Ländern gilt als eine schockierende Zäsur, als jähe Wende in den Beziehungen.“
Putins Mimikry
/ 28 Minuten zu lesen
Hat sich die deutsche Öffentlichkeit in Wladimir Putin getäuscht? Oder täuschen lassen? Auch der Bundespräsident gesteht inzwischen Fehler ein. Eine Spurensuche des Berliner Publizisten und langjährigen Moskau-Korrespondenten Manfred Quiring (74).
Das, so könnte man meinen, ist ein höchst aktueller Kommentar zu dem Krieg, den der Kreml am 24. Februar 2022 unter Vorwänden gegen die Ukraine vom Zaune gebrochen hat. Doch weit gefehlt, es ist ein Zitat aus meinem Buch „Putins russische Welt. Wie Moskau Europa spaltet.“ Daran hatte ich nach der Okkupation der Krim und der De-facto-Besetzung von Gebieten in der Ostukraine 2014 zu arbeiten begonnen. Es erschien 2017, also schon vor fünf Jahren.
Heute erleben wir ein Déjà-vu. Wieder ist das Erstaunen groß, das habe man nicht kommen sehen, heißt es allenthalben, wie hat das nur geschehen können? Sogar der Bundespräsident räumt im SPIEGEL vom 9. April 2022 Fehler in der bisherigen deutschen Russland-Politik ein: „Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“
Der an Anekdoten reiche russische Volkshumor kleidet derlei Vorgänge in die Worte: „Oh, das ist uns ja noch nie passiert! Aber hej, da ist es schon wieder!“
Die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen in der postsowjetischen Zeit ist auf deutscher Seite reich an Missverständnissen und Zweckoptimismus, aber auch Realiätsverweigerungen, blauäugiger Naivität und träumerischer Russophilie. Natürlich spielte auch die Hoffnung auf gute Geschäfte im rohstoffreichen eurasischen Großreich mit seinen gewaltigen Absatzmöglichkeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle, bis hin zum Festhalten an der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2. Das war, so räumt Bundespräsident Steinmeier mittlerweile ein, „eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben«.
Ein erstes großes Missverständnis entstand nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Im Westen wurde das Ereignis weitgehend mit Gefühlen großer Erleichterung, Freude und Hoffnung auf künftig gedeihliche Beziehungen verbunden. Endlich, so der Stoßseufzer in den westlichen Ländern, sei die Zeit der gefährlichen Konfrontation der Supermächte vorbei.
Gleichzeitig wurde angenommen, die überwältigende Mehrheit der ehemaligen Sowjetbürger müsse das auch so sehen. Sie müssten doch beglückt sein angesichts der Tatsache, dass eine jahrzehntelange kommunistische Unterdrückung endlich ein Ende gefunden hat. Doch weit gefehlt. Zwar fühlten sich die Dissidenten aus sowjetischen Zeiten befreit, auch jene, die die Demokratie für die bessere Daseinsform hielten. Die größere Mehrheit indes bedauerte den Zusammenbruch eines Imperiums, dessen Existenz, so meinten sie jedenfalls, auch ihnen eine gewisse Bedeutung verlieh.
Man war zwar arm, dafür aber Bürger eines Landes, das sich den USA ebenbürtig zeigte. Putins Urteil über den Zerfall der UdSSR als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ ist somit nicht nur charakteristisch für die Denkweise des Mannes im Kreml, sie wird bis heute geteilt von einer Vielzahl seiner Landsleute. Diese empfanden gleichzeitig die wenigen Jahre, in denen nach dem Ende der Sowjetunion Demokratie versucht wurde, als Zeit des Chaos und der Verelendung.
Russlands Demokratie fehlten überzeugte Demokraten
Die demokratische Umgestaltung Russlands, die Putin im Westen zeitweilig überzeugend als unumkehrbar „verkauft“ hat, wurde von der russischen politischen Klasse intern ohne Enthusiasmus als Entgegenkommen gegenüber westlichen Forderungen verstanden. „Was sollen wir denn noch tun, wir machen doch schon alles, was ihr wollt!“ rief mir ein fast schon verzweifelter russischer Diplomat Anfang der 2000er Jahre zu. Er war der Meinung, das müsse doch honoriert werden. Gewollte hatte er, ebenso wie weite Teile der politischen Eliten, diese Entwicklung nie.
Geradezu höhnisch hielt Sergej Karaganow, Ehrenvorsitzender des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, dem Westen 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR seine Blauäugigkeit vor. Karaganow, der den Kreml in außenpolitischen Fragen beriet, sah zwar mehrere Faktoren, die für die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verantwortlich sind. Doch der für ihn erste und wichtigste »besteht darin, dass der Westen glaubte, er habe in den 1990er Jahren gesiegt, und dass das für immer so bleibe«.
Russland, so darf dieser Karaganow-Satz interpretiert werden, hatte nie die Absicht, den Status quo nach dem Abzug seiner Streitkräfte aus Osteuropa zu akzeptieren. Denn das hätte bedeutet, die Souveränität der osteuropäischen Staaten und der ehemaligen Sowjetrepubliken und damit deren Gleichwertigkeit anzuerkennen. Dazu konnte Moskau sich indes mit Blick auf seine Großmachtambitionen nie durchringen.
Stattdessen warteten der Kreml und seine Eliten auf einen günstigen Zeitpunkt zu einem »Roll-back«, während man sich permanent darüber beklagte, betrogen worden zu sein. Man tat ganz offensichtlich nur so, als wolle man die Integration in den Westen. Wer aller-dings in den 1990er Jahren die Gelegenheit hatte, vertraulich mit russischen Militärs oder Diplomaten zu sprechen, hörte sie schon damals von einer »peredyschka« wispern, von einer »Atempause«, die sich das Land genehmige, um dann gestärkt aufzubrechen zu neuen Taten, gen Westen versteht sich.
Propagandaauftritt mitten im Krieg, den er nach wie vor als Sonderoperation verschleiert. Wladimir Putin am 12. April 2022 beim Eintrag ins Gästebuch des Wostoschny Kosmodroms nahe der Stadt Tsiolkovsky im Osten Russlands. (© picture-alliance/AP, Evgeny Biyatov)
Die Fabel von dem in die Ecke gedrängten, erniedrigten Russland schließt auch die Mär vom Demokraten Putin ein. Doch der war nie ein Demokrat, spielte die Rolle indes zeitweilig recht überzeugend. In den 1990er Jahren in Leningrad, das dann in St. Petersburg zurückbenannt wurde, hatte er oder wohl eher seine Befehlsgeber nach seiner Rückkehr aus der gerade zusammengebrochenen DDR den richtigen Riecher. Er meldete sich beim Dekan der Universität, dem späteren Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak, bot seine Dienste an und verschwieg auch seine Herkunft nicht. Sobtschak, der von seinen Zeitgenossen als eleganter und redegewandter Juraprofessor beschrieben wurde, nahm den blass erscheinenden Typen auf, der immerhin auf ein Jurastudium verweisen konnte.
Die weit verbreitete Annahme, Putin habe sich erst nach und nach unter dem Eindruck eines aggressiven Verhaltens des Westens, insbesondere der Nato, von einem Reformer zu einem Hardliner gewandelt, hält den historischen Fakten nicht stand. Es ist zu vermuten, dass Putin schon damals, als er sich Sobtschak andiente, einen Auftrag des noch existierenden KGB ausführte. Anfang 2000 wurde nämlich bekannt, dass Putin nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Dienst weiterhin der sogenannten »aktiven Reserve« des Geheimdienstes angehörte. Das geflügelte Wort »Einmal Spion, immer Spion« hat in Russland einen besonders realistischen Klang. Die »aktive Reserve« des KGB durchzog die gesamte Gesellschaft. Dabei handelte es sich um die unzähligen und wohl auch nie gezählten KGB-Agenten, die in alle zivilen Institutionen der UdSSR eingeschleust worden waren.
Trotzdem, oder deswegen, konnten Sobtschak und Putin gut miteinander. »Die beiden teilten eine gemeinsame Abneigung gegen demokratische Abläufe, aber Anfang der neunziger Jahre war eine nach außen zur Schau getragene Treue zu demokratischen Grundsätzen der Preis für das Ergattern von staatlichen Ämtern – und damit für ein angenehmes Leben«, wie Masha Gessen in ihrem 2012 erschienenen Enthüllungsbuch »Der Mann ohne Gesicht« über Putin schildert.
Wiederbelebte sowjetische Denkweisen
Mimikry war also vonnöten in diesen Jahren, um die tiefsitzenden inneren Haltungen und Abneigungen zu überspielen. Der inzwischen verstorbene Anatoli Sobtschak, der manchmal heute noch als einstiger Reformer gehandelt wird, kommt bei Masha Gessen nicht gut weg. Er habe zwar kurz und innig mit der Demokratie geliebäugelt, dann aber einen tiefen Hass auf demokratische Grundsätze entwickelt. Die Gründe glaubt sie in der Persönlichkeitsstruktur des einstigen Hochschuldozenten gefunden zu haben. Ihm habe der politische Wettbewerb missfallen, ebenso die Möglichkeit, dass jemand eine andere Meinung vertreten und beibehalten konnte.
Zudem sei Putin unablässig bestrebt gewesen, ihm die Nachteile des demokratischen Systems vor Augen zu führen. »Putin, der zu seinem ständigen Begleiter geworden war, überredete ihn, das Amt des Bürgermeisters einzuführen, um nicht Gefahr zu laufen, von widerspenstigen Mitgliedern des Staatsrates jederzeit abgesetzt zu werden.« Demokratie? Nein danke! »Putin empfand seinerseits eine mindestens vergleichbare Abneigung gegen demokratische Reformen wie Sobtschak, aber seine gingen viel tiefer“, schrieb Gessen.
Diese Denkweise wurde erstmals 1994 aktenkundig. Zusammen mit Bürgermeister Sobtschak nahm Putin, international immer noch ein unbeschriebenes Blatt, am 101. Bergedorfer Gesprächskreis der Körber-Stiftung teil. Sein Auftritt dort rief Kopfschütteln und Verwunderung hervor. »Vergessen Sie nicht«, erklärte der 1992 zum stellvertretenden St. Petersburger Bürgermeister avancierte Putin den anwesenden Historikern, Politologen und Politikern, darunter der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe, »dass Russland im Interesse der allgemeinen Sicherheit und des Friedens in Europa freiwillig riesige Territorien an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion abgegeben hat; darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Russland gehört haben. Ich denke dabei nicht nur an die Krim oder an Nordkasachstan, sondern beispielsweise auch an das Kaliningrader Gebiet.«
Das habe zur Folge gehabt, »dass jetzt plötzlich 25 Millionen Russen im Ausland leben, und Russland kann es sich einfach nicht leisten – allein schon im Interesse der Sicherheit in Europa –, dass diese Menschen willkürlich ihrem Schicksal überlassen bleiben. […] Solange aber die Weltgemeinschaft die berechtigten Interessen des russischen Staates und des russischen Volkes als einer großen Nation nicht achtet, werden in diesem Land, in dieser Nation immer wieder solche Kräfte auftauchen, die die Stabilität in Russland bedrohen.«
Deutsche Teilnehmer reagierten irritiert und mit Unverständnis: »Herr Putin hat uns gestern mit seiner Vision einer urtümlich russischen Territorialbestimmung sicher überrascht«, bekannte die Russlandhistorikerin Ingeborg Fleischhauer. Seiner Betrachtungsweise liege »ein aus der asiatischen Tradition kommender Archetypus zugrunde, der sich so ausdrückt: Territorien, die von russischem oder von slawischem Blut getränkt sind, haben ein Recht darauf, für immer in slawischem Besitz zu bleiben. Man kann darüber streiten, inwieweit so etwas heute noch Bedeutung hat. Aber wir sehen auch in unserer Debatte, dass diese Mentalität noch wach ist.«
Offensichtlich konnte man sich nur schwer vorstellen, dass diese Denkweise eben kein Auslaufmodell war, sondern ein Grundzug im Selbstverständnis der herrschenden Eliten in Russland, besonders des Militärs und des Geheimdienstes. Der Bremer Professor Wolfgang Eichwede wandte sich gegen Putins Erklärung, die ein Spiegelbild der schon damals wieder aufflammenden Debatte über die »nationalen Interessen« Russlands war. Er warnte davor, »für das Territorium der früheren Sowjetunion so etwas wie eine russische Monroe-Doktrin zu entwerfen. Offen oder versteckt klingen bei vielen meiner russischen Kollegen solche Gedanken an. Die Muster und Gewohnheiten einer Hegemonialmacht sind nicht so einfach abzustreifen.«
Im gleichen Jahr hatte der heutige Kremlchef einen Auftritt, der eigentlich keine Zweifel an seinen Grundüberzeugungen lassen sollte, von dem aber in späteren Biografien nicht mehr die Rede war. In Hamburg kam es bei einer Veranstaltung der Europäischen Union zu einem Eklat. Lennart Meri, der erste nachsowjetische, demokratisch gewählte estnische Präsident, hielt dort eine Rede. Er war der Führer einer antisowjetischen Befreiungsbewegung gewesen, die die Okkupation des kleinen Landes durch die Sowjetunion nicht akzeptieren wollte. »In seiner Rede in Hamburg bezeichnete er nunmehr die Sowjetunion als ›Besatzer‹. An diesem Punkt stand Putin, der unter russischen Diplomaten saß, auf und verließ den Saal«, beschreibt Masha Gessen die Situation.
Es habe sehr beeindruckend gewirkt, gibt sie die Erinnerung eines Augenzeugen wie-der. »Die Veranstaltung fand im Rittersaal statt, der eine zehn Meter hohe Decke und einen Marmorfußboden hat, und in die eingetretene Grabesstille hallte jeder Schritt von der Decke wider. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, schlug die schwere guss-eiserne Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall hinter ihm zu.« Der „Demokrat“ Putin ließ grüßen.
Putin-Begeisterung im Bundestag
Nur wenige Jahre später veranlasste Putin den Deutschen Bundestag zu Begeisterungsstürmen. Sein Auftritt im Jahr 2001, kurz nachdem er im Jahr 2000 Präsident geworden war, geriet zu einem Höhepunkt der Täuschung und Selbsttäuschung. Noch immer, so mein Eindruck, bekommen deutsche »Putin-Versteher«, aber nicht nur sie, vor Rührung feuchte Augen, wenn sie sich an die Rede des Kremlchefs vor dem deutschen Parlament erinnern. Tatsächlich fielen dort Worte von gewaltiger Durchschlagskraft, die, so die Hoffnungen des Auditoriums, eine neue Ära in den deutsch-russischen Beziehungen im europäischen Kontext zu begründen geeignet waren. Präsident Putin benutzte die Sprache seiner Gastgeber und punktete damit.
»Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden«, analysierte er die Gründe für die Umwälzungen in der einstigen Sowjetunion. Niemandem fiel offenbar auf, dass Putin sich vor einer eindeutigen Verurteilung des Stalinismus herummogelte, ihm aber für die Phase vor der Informationsgesellschaft seine Existenzberechtigung zubilligte. Erst dann habe er den freiheitlichen Ideen »nicht mehr gerecht werden« können.
Historischer Moment am 25.9.2001. Zum ersten Mal redet mit Wladimir Putin ein russischer Präsident vor dem Bundestag in Berlin und entwirft Perspektiven weiterer Entspannungspoliik. Im Nachinein ist umstritten wie ernst Putin seine Rede gemeint hat. (© picture-alliance, ZB | Peer Grimm)
Historischer Moment am 25.9.2001. Zum ersten Mal redet mit Wladimir Putin ein russischer Präsident vor dem Bundestag in Berlin und entwirft Perspektiven weiterer Entspannungspoliik. Im Nachinein ist umstritten wie ernst Putin seine Rede gemeint hat. (© picture-alliance, ZB | Peer Grimm)
»Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger«, fuhr Putin fort. »Gerade die politische Entscheidung des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben. Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.«
Vor allem die Worte von der Unumkehrbarkeit der Entwicklung versetzten die deutschen Abgeordneten in helle Begeisterung. Verklärten Blicks sahen sie über die Tatsache hinweg, dass der Gast aus Moskau in bester Demagogenmanier Ursache und Wirkung vertauschte, Zeitabläufe falsch darstellte. Denn tatsächlich wurde zuerst die Mauer zwischen den Systemen von den Ostdeutschen niedergerissen, die von Putin gelobten politischen Entscheidungen Moskaus folgten danach und widerwillig. Die »Mauerspechte« in Berlin pickten im Beton, ohne dass irgendjemand eine Erlaubnis aus Moskau erhalten hätte. Im Gegenteil.
Noch im Dezember 1989, einen Monat nach dem Fall der Mauer in Deutschland, hielt der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse vor dem Politischen Ausschuss des Europaparlaments in Brüssel eine Rede, die in ihrem Ton »scharf und in ihrem Inhalt prinzipiell« gewesen sei, wie sich der letzte Botschafter der DDR in Moskau, Gerd König, erinnerte.
Die sowjetische Führung habe zu dieser Zeit keine Zweifel aufkommen lassen, »dass sie von einem Fortbestand der DDR als einem souveränen Staat im Warschauer Vertrag ausging«. Schewardnadse habe sich in dem Zusammenhang gegen »Ratschläge« und »Vorschriften« verwahrt, wie und wann »die Gesellschaftsordnung in der DDR zu ändern sei«. Schewardnadse forderte »die Beachtung der Realitäten in Europa, zu denen aus sowjetischer Sicht die unterschiedlichen politischen und militärischen Bündnisse, die Unantastbarkeit der Grenzen in Europa und das Bestehen zweier souveräner Staaten gehörten. Von der Herstellung der deutschen Einheit könne keine Rede sein …«.
Ein hilfreicher Ghostwriter
Das alles wusste Putin natürlich, aber er brauchte den PR-Auftritt. Deutsche Politiker offenbar auch. So war Bundeskanzler Kohls Berater Horst Teltschik hilfreich bei der Abfassung jener Passagen der Putin-Rede, die das russisch-deutsche Verhältnis betrafen. Er sei von einem Vertrauten des russischen Präsidenten angesprochen worden, ob er bereit sei, Putin gelegentlich zu einem Gedankenaustausch zur Verfügung zu stehen, erinnerte sich Teltschik später:
„Ich habe zugesagt. So fand eines dieser Gespräche vor seiner Bundestagsrede in Moskau statt. Daran teilgenommen haben meiner Erinnerung nach einige Minister wie zum Beispiel Gref, Kudrin und andere sowie drei Deutsche, unter anderem der ehemalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau. Ich schlug Putin unter anderem vor, aus seiner Sicht den Standort Russlands und seine Beziehung zu Europa zu erläutern. Er tat das mit der Formulierung: ´Russland sei ein freundliches europäisches Land` und mit der Aussage, ´dass wir noch Schwierigkeiten hätten, einander zu vertrauen`.“
Eine zu vertrauensvolle Zusammenarbeit? Der ehemalige Kanzler-Berater Horst Teltschik als Gastgeber der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 mit Wladimir Putin. (© picture-alliance/dpa, Dmitry_Astakhov)
Eine zu vertrauensvolle Zusammenarbeit? Der ehemalige Kanzler-Berater Horst Teltschik als Gastgeber der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 mit Wladimir Putin. (© picture-alliance/dpa, Dmitry_Astakhov)
Nach dem Gespräch sei ein Mitarbeiter Putins auf ihn zugekommen und die Bitte des Präsidenten übermittelt, ihm die Vorschläge schriftlich zu übermitteln. „Das habe ich dann auch getan“.
Das war im beiderseitigen Interesse. Beide Seiten wollten, dass der neue Herr im Kreml gut ankommt bei den deutschen Abgeordneten. Putin brauchte Deutschland als Wirtschafts- und Finanzmacht, für Deutschland war Russland als Lieferant von Energieträgern und Partner in Sicherheitsfragen unersetzbar, glaubte man damals.
Die Abgeordneten des Bundestages wiegten sich euphorisch in der Illusion, dass aus dem gefürchteten Sowjetimperium nun ein zivilisierter russischer Staat werden würde, sich willig in die europäischen Strukturen einfügend. Sie realisierten nicht, dass diese aus europäischer Sicht wünschenswerte Zukunft für Moskau den endgültigen Abschied vom Großmachtstatus bedeutet hätte.
Putin seinerseits »vergaß« ihnen zu sagen, dass sein Russland diesen Status auch innerhalb der „erweiterten Grenzen des europäischen Humanismus“ nicht aufzugeben bereit war. Doch für diese Wahrheit schien ihm die Zeit noch nicht reif. Auch andere, durchaus sinnvolle Fragen kamen den meisten der Anwesenden nicht in den Sinn. Wer wollte in diesem, wie es schien, historischen Moment an Putins Jahre im kriminellen St. Petersburg erinnern? Wer hatte überhaupt auf dem Schirm, welche Rolle der Bundestagsredner dort, in der „nördlichen Hauptstadt“, gespielt hatte? Wer wusste schon, dass sich hier ein Hardliner präsentierte, der offensichtlich »Kreide gefressen« hatte, um die Deutschen zu umgarnen?
Die so großartig beschworene »politische Entscheidung des russischen Volkes« für Demokratie und Freiheit hatte für Putin, wie die darauffolgenden Jahre zeigen sollten, letztlich nur den Wert einer Sprechblase. Er ließ sie platzen, als es ihm für die Durchsetzung der eigenen Interessen nützlich schien. Werner Schulz, der einstige DDR-Dissident und ehemalige Europa-Abgeordnete von Bündnis 90 /Die Grünen, war noch Jahre später wütend über die Vorstellung, die der Kremlchef in Berlin abgeliefert hatte. »Ich habe in ihm immer diesen skrupellosen und kaltblütigen Geheimdienstoffizier gesehen. Während seiner Rede im Bundestag 2001 bin ich rausgegangen. Viele Abgeordnete waren begeistert, weil er Deutsch gesprochen hat, und haben dennoch kaum auf seine Worte gehört. Wir haben Putin unterschätzt, diesen Gewalttäter.«
Zweckoptimistisch überhörte Warnungen
Warnungen hatte es freilich schon damals gegeben. Bereits bei Putins Amtsantritt im Jahr 2000 hatte der Ex-KGB-General Oleg Kalugin vor den Intentionen des neuen Mannes im Kreml gewarnt, der in die Sowjetära zurückkehren wolle. Viele haben das damals nicht ernst genommen. Der Zug sei abgefahren, das Ende der Sowjetunion unumkehrbar schon deshalb, weil die einstigen Unionsrepubliken da nicht mitspielen würden. Das stimmte wohl.
Verkannt aber wurde, dass Kalugin eher vom sowjetischen Geist sprach, den Putin sich anschickte aus der Flasche zu lassen, während er öffentlich von Demokratie in Russland und Integration in internationale Strukturen sprach.
Elf Jahre später brauchte der Kremlchef keinen Nebelvorhang mehr, Kalugins Einschätzung erwies sich als erschreckend richtig. Putin verkündete im Oktober 2011 eine neue Ordnung im Lande: »Die Sowjetunion – das ist Russland, nur unter einem anderen Namen.« Seitdem, so der Russlandexperte Professor Hannes Adomeit im Jahr der Krim-Annexion 2014, »haben sich die Dinge in der dritten Amtszeit des Präsidenten so rasch und dramatisch entwickelt, dass man versucht sein könnte, die umgekehrte Feststellung zu treffen: Russland – das ist die Sowjetunion, nur unter einem anderen Namen.«
Der weitsichtige Ex-General Kalugin hatte das frühzeitig erkannt. In seinem offenen Brief aus dem Jahr 2000 charakterisierte er den neuen Kremlchef als einen Mann, der dazu neige, das Recht rücksichtslos »unterzubuttern«, und beschuldigte ihn, »ein korruptes und kriminelles Russland zu gestalten«. Der ehemalige Chef der sowjetischen Spionage in den USA wörtlich: »Ich glaube nicht an das Russland von Putin, kriminell und korrupt, mit seiner lahmen Justiz.« Ein Land, in dem dank Putin »die Kräfte des Revanchismus in der Offensive« seien. In der gegebenen Situation sehe er sich genötigt, »politisches Asyl in der freien Welt zu suchen«.
Die »Kräfte des Revanchismus« waren für Kalugin diejenigen, die mit der Inthronisierung des jungen, skrupellosen Mannes aus St. Petersburg die Geschichte zurückdrehen wollten. Interessant in dem Zusammenhang: Der erfahrene einstige Spion, der die USA jahrelang in Washington studiert hatte und ihre Absichten bestens kannte, erwähnte weder die Amerikaner noch die Nato in seiner Analyse. Er wusste, dass es die Interessen der Putin-Clique waren, die die Entwicklung Russlands bestimmen würden. Weitgehend unabhängig davon, was im Ausland geschah.
Zu diesen frühen Warnungen eines einstigen KGB-Generals über den wahren Charakter des Regimes passt ein Gespräch, dass ich etwa in dieser Zeit, im März 2000, mit dem angesehenen Sicherheitsexperten Alexej Arbatow von der liberalen Jabloko-Partei geführt habe, der zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Verteidigung war. Mich interessierte vor allem, wie sich die Beziehungen zur westlichen Welt nach der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten gestalten würden.
Die Antwort des Experten für internationale Fragen verblüffte mich einigermaßen. Auch er machte dieses Verhältnis in erster Linie von der inneren Entwicklung in Russland abhängig. Im Nachhinein scheint mir, er hatte eine sehr klare Vorstellung von den Eliten seines Landes, die, mit oder ohne Putin, sehr genau wussten, was sie wollten. »Große Veränderungen wird es nicht geben. Zumindest in der ersten Zeit wird die Außenpolitik fortgesetzt, wie sie in den letzten Jahren der Jelzin-Zeit verfolgt wurde«, erklärte er mir beruhigend.
Tatsächlich herrschte damals große Unsicherheit über den weiteren außenpolitischen Kurs in Moskau. Die Verärgerung dort über das Vorgehen der USA und der Nato auf dem Balkan war noch frisch. Doch der Experte für Fragen der internationalen Sicherheit wandte sich dem Inland zu. Alles werde davon abhängen, »wie sich die Politik innerhalb Russlands gestaltet. Werden die Demokratie und die Prinzipien der Marktwirtschaft verletzt, dann werden sich langfristig die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verschärfen.«
Auch wenn das Verhalten der Nato eine Rolle spiele, die er skeptisch sah, hänge doch alles von der inneren Entwicklung ab. »Bleibt Russland auf dem Wege der demokratischen Entwicklung, sind die außenpolitischen Perspektiven gut. Wenn sich in Russland ein totalitäres Regime herausbildet, das gewaltsame Lösungen verfolgt wie jetzt in Tschetschenien, dann werden sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen unausweichlich verschlechtern, und Russland wird die Schuld daran tragen.«
Außenpolitik hinter Masken
Die Weitsicht Arbatows ist gerade aus heutiger Sicht erstaunlich. Nur, zugehört hat man ihm - ebenso wenig wie Kalugin - damals zumindest in der Bundesrepublik kaum. Dort träumte man offensichtlich den Traum von einem Russland, dass sich trotz aller Widrigkeiten auf dem richtigen, dem demokratischen Weg befinde. Putin bediente diese Hoffnungen, indem er sich das Image eines Demokraten und Reformers gab, wie die Bundestagsrede zeigte.
Die Soziologin Olga Kryschtanowskaja, die sich intensiv mit der Anatomie der russischen Eliten auseinandersetzte, hatte da weniger Illusionen. Sie hielt die Verschleierung, Verleugnung und Verfälschung für deren übliche Existenzform. Die gegenwärtigen Machthaber, so warnte die Soziologin bereits gegen Ende von Putins zweiter Amtszeit (2007), seien daran gewöhnt, »unter der Decke« zu wirken, »hinter Masken, mit denen sie ihre tatsächlichen Absichten verbergen«. In den sieben Jahren, in denen sich die »Tschekisten«, die Geheimdienstler, in Russland an der Macht befänden, »veränderten sie das politische System des Landes, ohne auch nur einen einzigen Buchstaben der Verfassung zu verändern«.
Es wird oft von der Unberechenbarkeit des russischen Präsidenten gesprochen, der zu unerwarteten Reaktionen neigt. Das ist sicher wahr. Wahr ist aber auch, dass die wichtigsten Entscheidungsträger in seiner Umgebung aus der gleichen Berufsgruppe, dem Geheimdienst, stammen und denen Desinformation, Geheimnistuerei und verdeckte Manipulationen sozusagen »in den Genen« liegen. Dieses Verhalten ist deshalb nicht nur charakteristisch für den Mann im Kreml, sondern für das gesamte System, das er in seinem Lande geschaffen hat. Der russische Autor Boris Schumatsky hat das in die wenig Optimismus verbreitende Formel gefasst: »Die wohl größte Schwierigkeit im Umgang mit Russland ist dies: Russland lügt. Diese pauschale Behauptung klingt wie ein Slogan des Kalten Krieges, und zugleich ist sie die Einzige, die der Realität gerecht wird.«
Vielerlei vergessene Nato-Optionen
Die Beziehungen zwischen Moskau und der Nato gestalteten sich zunächst als Wechselspiel zwischen Annäherung und Rückschlägen. Das entscheidende Missverständnis bestand indes in der konträren Auffassung darüber, welches Ziel die Annäherung eigentlich haben sollte. Die Nato hoffte, sie werde Moskau durch Sondervereinbarungen wie die Nato-Russland-Grundakte und den Nato-Russland-Rat davon überzeugen können, dass das nordatlantische Bündnis keine Gefahr für Russland darstellt und man künftig kooperieren könne. Selbst dann, wenn weitere osteuropäische Länder Mitglieder des Bündnisses werden sollten. Sogar eine Mitgliedschaft Russlands in der Nato wurde zeitweilig erwogen.
Doch als US-Präsident Bill Clinton seinem russischen Kollegen Boris Jelzin eine Beitrittsperspektive eröffnete, schlug der diese aus. Stattdessen brachte er die Idee einer neutralen Zone in Mitteleuropa ins Spiel, beaufsichtigt von den beiden Großmächten USA und Russland.
Jelzin, gedrängt von seinen Militärs, versuchte sich in einer Variante des alten Blockdenkens. Clinton winkte ab. Die Nato, wo nach langem Zögern und auf Drängen der Osteuropäer die Signale auf Beitritt neuer Mitglieder gestellt worden waren, versuchte weiterhin, Russland in die Prozesse einzubinden. Noch bevor das nordatlantische Bündnis Beitrittsgespräche mit mitteleuropäischen Staaten überhaupt eröffnet hatte, wurde 1997 die Nato-Russland-Akte unterzeichnet: Russland bekam, ohne Mitglied zu sein, eine Sonderrolle zugebilligt. Es erhielt Sitz und Zutritt im Nato-Hauptquartier, richtete dort einen militärischen und diplomatischen Stab ein, wurde zu allen relevanten sicherheitspolitischen Entscheidungen konsultiert.
Vor allem in der Duma, die von Angehörigen des Militärs und der Geheimdienste geprägt wurde, regte sich deutlicher Widerstand. Bereits Anfang 1997, in dem Jahr, in dem die Nato-Russland-Akte unterschrieben wurde, entstand dort die Gruppierung »AntiNATO«. Ein Jahr später gehörten ihr 300 der insgesamt 450 Abgeordneten nahezu aller Fraktionen an. Das westliche Bündnis gewann für Russland weiter an Bedeutung als »Katalysator« zur Festigung des patriotischen Konsenses.
Mit den Terroranschlägen auf die New Yorker Twin-Towers am 11. September 2001 schien sich das Verhältnis Russlands zu den USA, zum Westen und selbst zur Nato grundlegend zu verändern. Präsident Wladimir Putin rief seinen amerikanischen Amtskollegen George W. Bush als einer der Ersten an, um ihm sein Mitgefühl auszudrücken. Er beschwor dabei eine gemeinsame Antiterrorfront. Das Verhältnis zur Nato, zwei Jahre zuvor noch auf einem Tiefpunkt, erwärmte sich zusehends. Putin hatte eine scharfe Kehrtwende in den Beziehungen zum Westen vollzogen.
Er verstand angesichts der in Russland tristen Realitäten des Jahres 2001, dass die Finanzkraft des Westens gebraucht wurde, um eine leistungsfähige Wirtschaft einschließlich der Rüstungsindustrie aufzubauen. Nur so ließe sich der verlorene Einfluss wiedererlangen. »Nach der abrupten Wende sitzt Putin allerdings ziemlich allein im Kreml. Er entscheidet gegen die Stimmung im Land … Doch Putin braucht die Elite im Land, und auf sie ist kein Verlass. Ihre Vertreter wollen sich keineswegs auf die neue Außenpolitik umstellen. Sie verstellen sich lieber.«
Generalstabschef Juri Balujewski, beileibe keine »Taube«, war ein klassisches Beispiel. Noch im Amt befindlich, lobte er anlässlich der Eröffnung der Nato-Vertretung in Moskau die Bildung des neuen Zwanziger-Rates als Schlusspunkt unter eine Epoche der Konfrontation. Jetzt, so der Generaloberst, würden partnerschaftliche Beziehungen hergestellt. »Russland und die Nato befinden sich in einer Struktur.« Überraschend sanft die Töne auch zur unausweichlichen Erweiterung der Nato. Jeder Staat entscheide selbst, »welchem Bündnis er beitreten will«, sagte ein sich tolerant gebender Balujewski.
Selbst die Ankündigung der Ukraine, sich der Nato weiter anzunähern, ihr langfristig sogar beizutreten, fand plötzlich – im Jahr 2002 – Verständnis im Moskauer Generalstab. Die Ausweitung der Kontakte zwischen Kiew und Brüssel sei »logisch«, befand der russische Generaloberst.
Noch dabei mit guter Miene, heute ihr erklärter Feind. Wladimir Putin am 28. Mai 2002 mit dem damals amtierenden italienischen Ministerpräsident Silvio Berlusconi, NATO Generalsekretär George Robertson und US-Präsident George W. Bush beim Russland-NATO-Gipfel in Rom. Die Staats- und Regierungschefs der 19 NATO-Staaten und der russische Präsident Putin hatten damals einen Vertrag über eine neue Zusammenarbeit unterschrieben. Er sah eine Kooperation auf zahlreichen Gebieten wie etwa Terrorbekämpfung und Rüstungskontrolle vor. (© picture-alliance/dpa, epa ansa Schiavella)
Noch dabei mit guter Miene, heute ihr erklärter Feind. Wladimir Putin am 28. Mai 2002 mit dem damals amtierenden italienischen Ministerpräsident Silvio Berlusconi, NATO Generalsekretär George Robertson und US-Präsident George W. Bush beim Russland-NATO-Gipfel in Rom. Die Staats- und Regierungschefs der 19 NATO-Staaten und der russische Präsident Putin hatten damals einen Vertrag über eine neue Zusammenarbeit unterschrieben. Er sah eine Kooperation auf zahlreichen Gebieten wie etwa Terrorbekämpfung und Rüstungskontrolle vor. (© picture-alliance/dpa, epa ansa Schiavella)
Die weiteren Entwicklungen legen indes den Verdacht nahe, dass das Bild aus taktischen Gründen »geschönt« worden war. Schon damals grummelt es im Hintergrund weiter. Leonid Iwaschow, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung für internationale militärische Zusammenarbeit des russischen Verteidigungsministeriums und bekennender »Falke«, tönte: »Russland hat geopolitischen Selbstmord begangen.« Putins Unterstützung der Antiterrorkoalition zeige den »naiven Ehrgeiz der russischen Führung, ihr Image aufzubessern«.
Generaloberst Iwaschow, der zwanzig Jahre später den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 als grundlos und falsch geißeln und Putins Rücktritt fordern sollte, hatte auch damals einfach und direkt die Stimmung ausgedrückt, die in der Militärführung herrschte, aber weitgehend unter der Decke gehalten wurde. Putin versuchte derweil nach außen zu vermitteln, dass mit den Ost-West-Beziehungen alles zum Besten stünde. Bei einem Treffen im Kreml Anfang April 2002, zu dem er deutsche Journalisten vor einer Berlin-Visite geladen hatte, konnte ich das aus erster Hand erfahren.
Nachdrücklich bekräftigte Putin die Hinwendung zum Westen, die eine unumkehrbare Grundsatzentscheidung sei. Dies sei nicht geschehen, um ihm, dem Westen, gefallen oder etwas von ihm erhalten zu wollen. »Wir bitten niemanden um etwas, ich verfolge diese Politik nur deshalb, weil ich glaube, dass dies voll und ganz den nationalen Interessen Russlands entspricht.« Diese Politik werde von den Militärs nicht nur mitgetragen, sie drängten ihn geradezu in diese Richtung, behauptete der Kremlchef.
Kurz darauf sprach ich mit dem ehemaligen sowjetischen Verteidigungsminister Igor Rodionow über Putins Äußerungen zur Haltung des russischen Militärs. Die Reaktion des Armeegenerals a.D. war knapp und eindeutig: »Das glaubt Putin doch selbst nicht!« Rodionow war zu der Zeit Duma-Abgeordneter in der kommunistischen Fraktion und immer noch bestens vernetzt mit den militärischen Eliten. In den Kreisen hat man nie aufgehört, Russlands »besondere Interessen« zu pflegen.
Rodionow sprach vor allem von »Regionen, in die möglicherweise schon bald die Nato eindringen kann: Im Baltikum, in Kaliningrad, in der Ukraine, in allen ehemaligen Unionsrepubliken hat Russland nationale Interessen, denn dort leben unsere Landsleute, die vor Diskriminierung geschützt werden müssen.«
Klartext in München 2007
Das erinnerte mich an den »frühen« Putin Mitte der 1990er Jahre, von dem sich der heutige Kremlchef kaum unterscheidet, der vermeintliche russische Interessen inzwischen weltweit einzuklagen versucht. Fünf Jahre nach dem kurzzeitigen »Honeymoon« mit den westlichen Staaten und der Nato legte der Mann im Kreml das Kostüm des verständigungsbereiten Politikers ab. Seine Rede auf der Münchner Sicherheitstagung 2007 wurde als »Paukenschlag« empfunden.
Das aber war weder mit der EU noch mit der Nato zu machen. Die dort obwaltenden Regeln betrachtete Moskau als Beeinträchtigung seiner Souveränität, während die westlichen Organisationen kein Interesse an einem Mitglied Russland hatten, das die in langen Jahren gewachsenen Regelwerke erst einmal seinen Bedürfnissen anpassen wollte und eine Sonderrolle beanspruchte. Daran scheiterte letztlich auch Russlands ursprünglich ins Auge gefasste Beteiligung am europäischen Antiraketensystem.
Aus Moskauer Sicht ist die Nato ein geopolitischer Konkurrent und ein Faktor, der den russischen Einfluss in Europa und der Welt kraft seiner Existenz einschränkt. Es ist daher nicht wirklich entscheidend, wie sich die Allianz verhält.
Neu aufschäumender Nationalismus
2007 in München fühlte sich Kremlchef Putin stark genug, endlich Klartext reden zu können. Ein Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Russland, resultierend aus einem traumhaft hohen Ölpreis jener Jahre, war unübersehbar. Ein Gefühl der Stärke beflügelte den russischen Herrscher.
Bereits im Herbst 2006 griff in Russland ein neuer Trend um sich: Der Rubel, einst der »hölzerne« genannt, gewann an Anziehungskraft in der Bevölkerung. Russische Bekannte fragten mich, den vermeintlichen Kenner der internationalen Währungssituation, ob sie ihre Ersparnisse besser in Dollar, Euro oder Rubel anlegen sollten. Das war neu, erstmals wurden auch Rubelanlagen ernsthaft erwogen. Der Erdgas- und Ölboom, der Russland zeitweilig mit einer Flut von Dollars überschwemmte, veränderte das Land gründlich.
Das neue Verhältnis zum einst belächelten Rubel gehörte zu diesen Veränderungen, die Politiker zu hochfliegenden Träumen animierten. »Der derzeitige Zustand der Wirtschaft in den USA – Herkunftsland der weltweit einzigen Reservewährung – stimmt bedenklich«, hatte Dmitri Medwedjew, damals erster Vizepremier und einer der Anwärter auf die Putin-Nachfolge, schon im Sommer 2006 kurz vor dem G8-Gipfel in St. Petersburg doziert. In dieser Situation komme der Rubel grundsätzlich als Welt-Reservewährung infrage.
Der Autor, Manfred Quiring, 2002 bei einem Korrespondententreffen mit Wladimir Putin in Moskau. (© privat)
Der Autor, Manfred Quiring, 2002 bei einem Korrespondententreffen mit Wladimir Putin in Moskau. (© privat)
Die Moskauer, die sich einem Kaufrausch hingaben, stimmten ihm zu. »Wir sind wieder wer«, lautete die ungeschriebene Losung, die zugleich einen aufschäumenden Nationalismus nährte. »Russland den Russen« rief vorerst nur eine kleine, aber lautstarke Minderheit. Ausländische Investoren, deren Finanzkraft man nun nicht mehr brauchte, wurden systematisch aus dem Rohstoffbereich gedrängt. »Das, was beispielsweise auf Sachalin geschieht, wo BP und japanische Konzerne unter Druck stehen, hat ausschließlich innerrussische Gründe, konkurrierende Gruppen bekämpfen sich. Die außenpolitischen Folgen sind den Organisatoren egal«, sagte mir Fjodor Lukjanow, damals noch Chefredakteur der Zeitschrift Russland in der globalen Politik bei einem Gespräch 2008 in seiner Moskauer Redaktion.
Das Geld, das dem Rohstoffexport entspringt, hat seiner Meinung nach auch sehr stark auf das politische Denken gewirkt. In Russland wachse das Gefühl, »dass wir die Meinung der anderen ignorieren können«. Moskau verfolge seine eigenen pragmatischen Interessen, »die der anderen kann man berücksichtigen, wenn es nützlich ist, andernfalls lässt man es«. Das betreffe alle: die USA, Japan und in einem bestimmten Grad auch Europa. »Erstmals seit 20 Jahren fühlt Russland sich völlig unabhängig«, konstatierte Lukjanow im Jahr 2008. Unabhängig im russischen Verständnis bedeutet, dass man glaubt, auf partnerschaftliche Beziehungen mit westlichen Ländern verzichten zu können.
"Ich nenne es so: Gehirnwäsche"
Wer nach Gründen für Moskaus verändertes Verhältnis zum Ausland sucht, wird hier fündig. Der Kreml hat spätestens zwischen 2006 und 2008 aus der eigenen, innerrussischen Interessenlage der machthabenden Eliten heraus eine Wende im Verhältnis zum Westen eingeleitet. Genauer gesagt, in jenen Jahren gab er nach und nach die Verschleierungsversuche auf und begann, Klartext zu reden. Zumindest teilweise. Die Erzählung von der „Einkreisung“ durch die Nato, von Russland als „Opfer“ westlicher Umtriebe galt weiter. Sie wurde stetig ausgebaut und bis heute mit immer neuen Variationen versehen.
Die jüngste Volte in der langjährigen – ich nenne es so - Gehirnwäsche: Russland verteidigt angeblich mit dem Krieg gegen die Nazi-Ukraine, im Kreml-Sprech „heilige militärische Operation“ genannt, sein eigenes Überleben. Angeblich 80 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen der Russländischen Föderation glauben Putin laut russischen Demoskopen und wiegen den Kremlchef in seiner Haltung sicher. Auf die Frage, ob man das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstütze, sagten Ende März 2022 dem russischen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum 53 Prozent der telefonisch Befragten, sie täten dies "definitiv", 28 Prozent sagen, sie unterstützten es "eher", zusammen also 81 Prozent.
Ob ihn dagegen die mittlerweile erfolgten Einsichten führender Staats- und Außenpolitiker im Westen, dass sie auf Putins Mimikry hereingefallen sind, noch zu einer Umkehr beeinflussen können? Dazu Bundespräsident Steinmeier in seinem Spiegel-Interview Anfang April: »Ich habe noch auf einen Rest Rationalität von Wladimir Putin gehofft.«
Der Autor, Manfred Quiring (74) war Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung 1982–1987 und 1991–1995 und von 1998 bis 2010 Korrespondent für Die Welt, die Berliner Morgenpost und das Hamburger Abendblatt in Moskau. Er ist Autor mehrerer Sachbücher über Russland, Putin und den Kaukasus, zuletzt „Russland - Auferstehung einer Weltmacht?“, erschienen bei Ch. Links 2020.
Zitierweise: Manfred Quiring, "Putins Mimikry", in: Deutschland Archiv, 13.4.2022, www.bpb.de/507240.
Keine Krieg aus Putins Perspektive? Gefechtsfeld in einer Vorstadt von Kiew am 3. April 2022. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Carol Guzy)
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Manfred Quiring (74) war Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung 1982–1987 und 1991–1995 und von 1998 bis 2010 Korrespondent für Die Welt, die Berliner Morgenpost und das Hamburger Abendblatt in Moskau. Er ist Autor mehrerer Sachbücher über Russland, Putin und den Kaukasus, zuletzt „Russland - Auferstehung einer Weltmacht?“, erschienen bei Ch. Links 2020.
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