Anke Gimbal: Ruth Herz, Sie haben eine lange und diverse Familiengeschichte. Ihr Vater Dr. Rudolf Pick war Rechtsanwalt am Oberlandesgericht (OLG) in Breslau.
Ruth Herz: Wir sind eine Juristenfamilie. Mein Vater erzählte, dass vor 1933, wenn die Familie sich etwa an Feiertagen zu großen Abendessen zusammenfand, um den Tisch herum unter den Familienmitgliedern 17 Juristen saßen. Es waren vor allem Rechtsanwälte und Professoren. Er selbst wurde in Liegnitz [heute: Legnica], ca. 50 km südwestlich von Breslau geboren, weil sein Vater, mein Großvater, auch ein Rechtsanwalt, dort eine Kanzlei übernommen hatte. Meine Großeltern waren sehr gesellig und lebensfroh. Sie fuhren oft nach Breslau zur Oper oder zum Theater und hatten da auch viele Verwandte wie die Schwester und Brüder meiner Großmutter. Ich habe meine Großmutter als kleines Mädchen in Tel Aviv noch erlebt.
Anke Gimbal: Er emigrierte schon 1933. Warum hat er die Entscheidung so früh getroffen?
Ruth Herz: Ich habe meinen Vater später gefragt, woher er wusste, wie schlimm es werden würde. Er sagte, er wusste es nicht. Niemand wusste es. Aber es sei unwürdig gewesen, unter diesen Umständen in Breslau zu bleiben. Er war auch Zeuge der schrecklichen Geschehnisse im Oberlandesgericht. Die Nazis verprügelten alte, angesehene jüdische Rechtsanwälte mit Eisenstangen. Er rannte nach Hause und sagte, hier könnten sie nicht bleiben. Hier sei kein Platz mehr für sie. Sie – also auch seine Eltern – müssten weg. Mein Vater war damals knapp 28. Er wusste gar nicht wohin. Er war kein Zionist, sah sich zunächst in Prag um, kam zurück, weil das nicht das Richtige war, und ging dann nach Palästina. Ein Jahr später holte er seine Eltern nach. Seine Schwester, die mit einem Arzt verheiratet war, kam erst zwei bis drei Jahre später. Auch andere Familienmitglieder emigrierten rechtzeitig –nach Palästina, Südamerika oder Nordamerika.
Anke Gimbal: Sind Sie Deutsche oder Israelin?
Ruth Herz: Aufgrund meiner Familiengeschichte kann man sagen, dass ich Deutsche bin – auch. Die andere Seite: Ich bin in Israel, damals noch Palästina, geboren. Die Familie meiner Mutter kam 1910 aus Russland nach Palästina. Mein Großvater, Chaim Berkus, hat Tel Aviv mitbegründet. Er war der erste Direktor des ersten hebräischen Gymnasiums in Tel Aviv, hat Grammatikbücher geschrieben und Bücher ins Hebräische übersetzt. Es war eher unüblich, dass Emigranten aus Deutschland bereits in Palästina Geborene geheiratet haben. Einwanderer aus Europa, aus Deutschland, heirateten unter sich. Die sogenannten Sabre – in Israel geborene Juden – ebenfalls. Aber meine Mutter und mein Vater haben sich kennengelernt, verliebt und geheiratet. Das ist meine Herkunft.
Anke Gimbal: Ihre Mutter, Eva Berkus, war Akademikerin. Sie hat 1930 in Brüssel Bakteriologie studiert. War das etwas Besonderes?
Ruth Herz: Ja, studierende Frauen waren nicht üblich, aber von den acht Kindern meiner Großeltern haben sechs im Ausland studiert. Meine Mutter hat nach ihrem Studium viele Jahre im staatlichen Laboratorium in Tel Aviv gearbeitet. Von ihren älteren Schwestern wurde eine Zoologin, eine andere Medizinerin und auch sie haben ihren Beruf in Israel ausgeübt. Ich weiß noch, dass in den 68ern alle sagten, Frauen müssten einen Beruf erlernen und ausüben. Ich dachte mir, ja, guten Morgen, das weiß ich schon lange.
Anke Gimbal: Ihr Vater hat im Düsseldorfer Majdanek-Verfahren die Nebenklage vertreten?
Ruth Herz: Die Majdanek-Prozesse waren eine Reihe von Prozessen gegen ehemalige SS-Angehörige des Lagerpersonals des Konzentrationslagers Majdanek. Der dritte Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf dauerte von 1975 bis 1981. Mein Vater hat, beauftragt vom Zentralrat der Juden, die Nebenklage vertreten. Es gibt einen beeindruckenden Film über das Verfahren, „Der Prozess“ von Eberhard Fechner, für den er Gespräche mit den Angeklagten, deren Verteidigern, Prozessbeobachtern und Zeugen geführt hatte.
Anke Gimbal: Bald nach Kriegsende kehrte Ihr Vater mit der Familie nach Deutschland zurück.
Ruth Herz: Wir waren keine Rückkehrer im eigentlichen Sinne. Mein Vater ging nach Deutschland als Mitglied der britischen Besatzungsarmee und nahm seine Frau und uns zwei Kinder mit. Die Briten kannten ihn wegen seiner Arbeit in britischen Organisationen in Palästina. Sie suchten einen jüdischen Juristen für die Leitung des Büros der Jewish Trust Corporation (JTC), die die Rückübertragung jüdischer Grundstücke regelte, die von Nazis illegal übernommen oder für symbolische Beträge abgekauft worden waren und zu denen es keine Erben gab. 1956 lief das aus. Dann hat er entschieden, dass wir bleiben, denn er hatte in Israel wegen des anderen Rechtssystems keine Möglichkeit, als Jurist zu arbeiten.
Mein Bruder und ich besuchten zuerst die britische Armeeschule und anschließend ein internationales Internat in Holland. Dort haben wir beide ein englisches Abitur gemacht. Meine Eltern wollten nicht, dass wir eine deutsche Schule besuchen, denn unter den Lehrern und den Eltern der Mitschülerinnen und Mitschüler wären sehr wahrscheinlich Nazis gewesen. Wir fühlten uns unter anderem auch deswegen nicht so, als ob wir in Deutschland lebten.
Anke Gimbal: Was hielt Ihre Mutter vom Leben in Deutschland?
Ruth Herz: Ihre erste Reaktion, als mein Vater ihr von dem Angebot in Deutschland
erzählte, war, „da gehe ich nicht mit, ich lasse mich scheiden“. Sie wollte überhaupt nicht und ist dann doch mitgegangen. Aber sie hat gelitten und fühlte sich unwohl damit, in Deutschland zu sein. Sie sah auch die Diskrepanz: In Israel gab es damals, nach dem Unabhängigkeitskrieg, fast nichts zu essen und kein Wasser, besonders nicht in Jerusalem, wo wir lebten. Die Stadt war umzingelt und niemand konnte rein oder raus. Wir kamen nach Deutschland, wenige Jahre nach dem Krieg, und die Geschäfte und Schaufenster waren übervoll. In Deutschland, nach allem, was geschehen war. Für meine Mutter war das für viele Jahre sehr, sehr schwer.
Anke Gimbal: Haben Sie in der Familie beziehungsweise mit Ihrem Vater Deutsch gesprochen?
Ruth Herz: Wir haben zu Hause drei Sprachen gesprochen. Mein Bruder und ich Englisch untereinander, weil die Lehrerin der Grundschule sagte, dass wir beide Englisch sprechen müssten, damit wir die Sprache schneller lernen. Das ist bis heute geblieben. Mit meiner Mutter habe ich Hebräisch und mit meinem Vater Deutsch gesprochen. Wenn wir alle zusammen waren, war die Familiensprache Deutsch.
Anke Gimbal: Haben Sie Erinnerungen an Ihren Geburtsort Jerusalem?
Ruth Herz: Wir wohnten in einem wunderschönen arabischen Haus, dessen Eigentümer in Beirut lebte. Ich weiß noch, wie mein Vater den Mandelbaum schüttelte und wir die Mandeln aufsammelten, wenn es soweit war. Ich erinnere mich an unser Leben und die wildwachsenden Anemonen. Meine Freunde aus dem Kindergarten und aus der Schule habe ich zum Teil noch (oder wieder). Als ich in Deutschland in die eher formelle englische Schule kam, hatte ich Heimweh nach Jerusalem. Dort nannte man die Lehrer beim Vornamen, ging nachmittags zur Lehrerin und spielte auch bei ihr. An den Krieg sind die Erinnerungen nicht so deutlich. Mein jetziger Mann ist Israeli, auch in Jerusalem aufgewachsen, und er erinnert sich viel besser als ich. Ich weiß noch, dass man in den Keller rannte, nachts, und wenn bombardiert wurde.
Anke Gimbal: Sie haben keine deutsche Schulbildung absolviert, wie und wann sind Sie zum Jura-Studium in Deutschland gekommen?
Ruth Herz: Mein Vater hat vorausgesehen, dass die Zulassung zum Studium in Deutschland mit einem ausländischen Abiturzeugnis problematisch werden könnte. Ich habe also auch noch ein deutsches Abitur gemacht. In Genf habe ich mit 17 Jahren ein Dolmetscherstudium begonnen. Das ergab sich, weil ich schon einige Sprachen konnte.
Während des Dolmetscherstudiums musste man weitere Fächer belegen, um etwas darüber zu lernen, was man übersetzt. Ich bin also zur Einführung in die Rechtswissenschaft gegangen. Das hat mich begeistert und davon überzeugt, dass es dies ist, was ich wirklich studieren will. Ich fand faszinierend, wie Gesellschaften sich Ordnungen geben und wie sie damit umgehen. Mein Vater sagte dazu, ich solle erstmal beenden, was ich angefangen habe. Danach könne ich Jura studieren. Also habe ich beides teilweise gleichzeitig gemacht. In Genf konnte man deutsches Recht studieren, zwei Jahre wurden mir angerechnet. Als ich fertig war mit dem Dolmetscherstudium habe ich zunächst in München Jura studiert und bin dann nach Köln gegangen für den Studienabschluss. Ich war es leid, in irgendwelchen miesen Zimmern zu wohnen und wollte nach Hause, zurück zu den Eltern.
Anke Gimbal: Hatten Sie Kommilitoninnen in den 60er-Jahren?
Ruth Herz: Ich hatte relativ wenige Mitstudentinnen. Und sehr wenige, die dann wie ich nach dem Studium weitergemacht haben und Richterin oder Rechtsanwältin geworden sind. Zu Beginn meiner Tätigkeit als Richterin hatten wir zehn Prozent Frauen bei Gericht. Und heute ist etwa die Hälfte der Richterschaft weiblich auch in den ganz hohen Positionen– zum Beispiel als Bundesjustizministerinnen.
Dennoch sind die meisten Richterinnen weiterhin in der unteren Stufe zu finden. Männer machen Karriere. Ich selbst habe allerdings das Angebot abgelehnt, mich für eine höhere Position zu qualifizieren. Ich wollte lieber im Jugendgericht bleiben und daneben andere Sachen machen. Es geht in der ersten Instanz sehr direkt zu. Man hat immer die Parteien mit ihrer Vertretung vor sich und ich konnte – abgesehen vom Schöffengericht – alleine entscheiden. Das war mir wichtiger.
Anke Gimbal: Waren die Nazis unter den Juristen während Ihres Studiums für Sie ein Thema?
Ruth Herz: Das ist jetzt viel sichtbarer und bekannter als zu meiner Zeit als Studentin, Referendarin und Richterin. Man sprach nicht darüber. Wobei zwei Lehrbücher im Jugendstrafrecht von so einem geschrieben worden waren. Das war mir bewusst, und es hat nicht nur mich genervt.
Anke Gimbal: Sie haben promoviert. Wann haben Sie sich fürs Strafrecht entschieden?
Ruth Herz: Mein Vater hat mir sehr zur Promotion geraten beziehungsweise 1965 sogar gesagt: „Du musst einen Doktor machen, sonst setzen sie dich hinter eine Schreibmaschine.“ Also habe ich mir den Strafrechtler Prof. Dr. Ulrich Klug als Doktorvater ausgesucht. Er hatte einen Lehrstuhl für Strafrecht, Zivil- und Strafprozessrecht sowie für Rechtsphilosophie an der Universität Köln.
Anke Gimbal: Warum wollten Sie Richterin werden und nicht wie Ihr Vater Anwältin?
Ruth Herz: Ich habe bei meinem Vater erlebt, wie das Leben eines Rechtsanwalts aussieht – Arbeit bis tief in die Nacht, wenn man auch noch Mandanten empfängt, und das jeden Tag. Man kann seinen Tagesablauf nicht immer planen. Als Richterin kann man das hingegen viel besser, wie ich während des Referendariats gesehen habe. Man kann die Verhandlungen planen und nachmittags zu Hause weiterarbeiten. Verheiratet und mit zwei kleinen Kindern erschien mir das als der beste Weg, Familie und Beruf zu vereinbaren. Auch wenn ich gerne Rechtsanwältin geworden wäre, weil das ja ein viel dynamischerer Beruf ist. Richterin wurde dann aber zu meinem Traumberuf. Ich habe mich sehr engagiert und das sehr gerne gemacht.
Anke Gimbal: Wie wurden Sie zur Richterin am Jugendgericht?
Ruth Herz: Ich war erst im Zivilrecht tätig. In Erinnerung habe ich, dass die erste Zeit als Richterin für mich sehr schwer war. Die Verantwortung lastete wahnsinnig auf mir. Jede Entscheidung ändert das Leben der beteiligten Personen. Auch Scheidungen gehörten zu meiner Arbeit, da es Familiengerichte erst 1977 gab. Ich war 30, sah jünger aus und habe immer gedacht: Was denken die Parteien, wenn ich ihnen irgendwelche Beziehungsratschläge gebe?
Ich habe mir angewöhnt, einen Ehering zu tragen, was ich bis dahin nicht getan hatte, denn ich wollte nicht den Status als Frau von jemandem zugeschrieben bekommen. Als Richterin dachte ich, ein Ehering gibt den Parteien Vertrauen. Es kamen Leute an die Tür, klopften, sagten „Guten Tag, Frolleinchen“ und suchten den Richter. Eine Richterin war nicht üblich. Für meine Kinder war es hingegen normal. Wir haben das zusammen wundervoll hingekriegt. Und wenn ich mittags arbeiten musste, habe ich einen Babysitter besorgt.
Eines Tages kam der Vizepräsident des Gerichts in mein Büro und sagte, Sie werden jetzt ins Jugenddezernat wechseln. Erst wollte ich nicht. Aber er meinte, dass ich das sehr mögen würde. Also wurde ich Jugendschöffenrichterin. Das war dann auch mein Leben. Ich habe mich sehr reingekniet, habe zum Beispiel ein Lehrbuch geschrieben.
Am Gericht war ich dann mehr als 20 Jahre. In dieser Zeit waren wir mehrfach im Ausland, weil mein Mann verschiedene Gastprofessuren innehatte, unter anderem in Houston/Texas. Dort habe ich festgestellt, dass ich auch andere Dinge kann, wie zum Beispiel Vorlesungen halten. Man hat mich eingeladen, über meine Arbeit als Richterin in Deutschland zu berichten.
Das hat mich motiviert, und ich habe die Zeit genutzt, mir in den USA – in Washington, in Kalifornien, in Boston, Cambridge – Projekte zu dem anzusehen, was man jetzt Täter-Opfer-Ausgleich nennt, eine Restitution innerhalb des Strafverfahrens für Jugendliche. Als Jugendrichterin hatte ich erkannt, dass Sanktionen wie Arrest und Jugendstrafe an den Jugendlichen vorbeigehen. Nach unserer Rückkehr habe ich in Köln selbst ein solches Projekt auf die Beine gestellt. Das war nicht einfach, ich musste Geld beschaffen und insbesondere meine Kollegen davon überzeugen, dass Wiedergutmachung sinnvoller als Strafe ist. Der Täter-Opfer-Ausgleich wurde in den Sanktionenkatalog des Jugendgerichtsgesetzes
Anke Gimbal: Sie hatten eine volle Richterstelle, zwei Kinder, einen Ehemann. Wie haben Sie das geschafft?
Ruth Herz: Und ein Familienleben, Mode, die immer meine Schwäche war, und ein Leben mit Freunden. Es geht, wenn man es gut organisiert und wenn auch der Mann dazu steht und mitmacht. Er war an der Uni und konnte teilweise zu Hause arbeiten. Mittags waren wir vollzählig am Tisch. Es war uns sehr wichtig, dass wir die Kinder nach der Schule auffangen und sie uns alles erzählen konnten. Ich habe es nicht als schwer empfunden. Ich war sehr jung, bin mit 22 Mutter geworden, da hat man vielleicht mehr Kraft. Ich musste zu Hause auch keine Kämpfe ausfechten.
Anke Gimbal: War Gleichstellung für Sie ein Thema?
Ruth Herz: In meiner Zeit gab es diese Frauensolidarität nicht. Vielleicht ist das alles auch an mir vorbeigegangen und es lag an mir, weil ich nach der Sitzung fürs Mittagessen mit der Familie sofort nach Hause gegangen bin. Von den Kollegen bekam ich oft dumme Bemerkungen zu hören wie „Ach, Sie kommen jetzt erst ins Gericht?“ (so gegen 11 Uhr). Wahrscheinlich hatte ich bis dahin zu Hause Urteile diktiert. Sie wussten genau, dass Richter keine Bürozeiten einhalten, sondern nur zu den Sitzungen anwesend sein müssen. Alles andere machen sie, wie es gerade richtig und wichtig ist. Mir wurde vorgeworfen, dass ich zu milde bin, weil ich gegen Jugendstrafen und Jugendarrest war.
Die Juristin und Autorin Ruth Herz präsentiert auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse ihr Buch "Recht persönlich", aufgenommen am 6.10.2006. (© picture-alliance/dpa)
Die Juristin und Autorin Ruth Herz präsentiert auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse ihr Buch "Recht persönlich", aufgenommen am 6.10.2006. (© picture-alliance/dpa)
Anke Gimbal: Wurden Sie denn als Juristin wahrgenommen?
Ruth Herz: Ich bin sicher, dass ich oft als Sekretärin wahrgenommen wurde. Ein Beispiel: Um das Jahr 2000 herum besuchten wir, acht Kölner Jugendrichter – ich war damals die einzige Jugendrichterin und im Übrigen auch die einzige mit Doktortitel – in Remscheid die Jugendarrestanstalt. Wir wollten sehen, wo wir unsere Jugendlichen hinschicken. Wir kamen da an, und der Anstaltsleiter, ein jugendlicher Typ mit Jeans und Tweedjacket um die 50, begrüßte uns mit den Worten: „Ach wie nett, dass Sie auch Ihre Sekretärin mitgebracht haben.“
Anke Gimbal: Wie haben Sie reagiert?
Ruth Herz: Meine Kollegen haben das natürlich richtiggestellt, ich sei nicht ihre Geschäftsstellenbeamtin, sondern die Kollegin, Frau Dr. Herz. Der Besuch war ein Spießrutenlauf für ihn. Aber es ist unglaublich, dass ein ungefähr gleichaltriger Mann um die 50 noch nicht verstanden hatte, dass Frauen gleichberechtigt sind. Das war für mich die Spitze meiner Erfahrungen zu Frauen in der Justiz.
Anke Gimbal: Sind Ihre Kinder auf ein öffentliches Gymnasium gegangen?
Ruth Herz: Ja, Kindergarten, Grundschule, Gymnasium hier in Köln, sie haben dort Abitur gemacht und dann studiert. Ich bin so besonders aufgewachsen, dass ich dachte, das ist vielleicht nicht der richtige Weg für meine Kinder. Wir wollten für sie eine Schule, wo alle hingehen. Nur der Religionsunterricht fand außerhalb der Schule statt. Für mich ist das Jüdischsein aber die Familientradition – was ich von zu Hause mitbekommen habe, von Generation zu Generation. Die spielt für mich eine große Rolle, weniger der Glauben oder die Religion.
Anke Gimbal: Sie wurden Fernsehjuristin. Haben Sie sich beworben?
Ruth Herz: Aus heiterem Himmel bekam ich 2001 das Angebot, die Richterin in einer geplanten Fernsehserie „Das Jugendgericht“ darzustellen. Nach 20 bis 25 Jahren am Gericht hatte ich das Bedürfnis, etwas anderes zu machen. Ich habe nach längerem Nachdenken zugesagt und wurde beurlaubt. Mein Justizminister meinte, kommen die Medien (Kameras) nicht in die Gerichtssäle, bringen wir das Gericht zu den Kameras (ins Fernsehen). Es kam Persönliches hinzu. Mein erster Mann starb mit Mitte 50 an Krebs. Die Kinder waren schon groß und mein Haus war leer. Deswegen hatte ich mich beim DAAD für eine Gastprofessur in Toronto/Kanada beworben, wo ich niemanden kannte und niemand mich kannte. Diese Zeit hat mich wieder zurück ins Leben gebracht. Ein Jahr später habe ich mich nochmal beworben für eine Gastprofessur in Jerusalem. Dort habe ich fünf Tage vor der Abreise nach Hause meinen zweiten Mann, Professor an der Universität Tel Aviv und Israeli, kennengelernt.
Direkt nach meiner Rückkehr aus Israel wurde ich – durch eine Freundin vermittelt – von einer Produzentin gefragt, ob ich Fernsehrichterin werden möchte. Am Anfang war ich sehr einverstanden mit dem Format. Aber die Sendungen haben sich mit der Zeit als etwas ganz anderes entpuppt, es wurde immer schlimmer und es gab Kämpfe mit der Produktion. Die Sendungen unterminieren letztlich die Autorität der Justiz mit diesem Geschrei und dem Druck von außen, nehmen den Richterinnen und Richtern die Würde, dadurch auch die Glaubwürdigkeit.
Aber die Zeit hat mir natürlich auch viel gegeben. Ich wurde bekannt, eingeladen, hielt viele Vorträge und habe angefangen, mich damit wissenschaftlich zu beschäftigen und darüber zu schreiben. Bis mir nach ein paar Jahren die Hutschnur geplatzt ist und ich gesagt habe, das mache ich nicht mehr.
Anke Gimbal: Und wie ging es weiter?
Ruth Herz: Ich wurde krank und habe ein Jahr nicht gearbeitet. Ins Leben habe ich mich zurückgekämpft, indem ich ein Buch über mein Leben, meinen Beruf und meine Fernseherfahrung geschrieben habe. Dann erhielt mein Mann – ein Historiker – für mehrere Jahre eine Gastprofessur in Oxford. Ich habe ihn begleitet und das Angebot einer Associate Professur an einem der Colleges der Universität London bekommen, die ich nun schon zehn Jahre innehabe. In Oxford habe ich eine Sammlung von Zeichnungen und Gemälden eines Richters entdeckt, der während der Gerichtsverhandlungen zeichnete. Das hat mir eine neue Welt über Kunst und Justiz eröffnet. Die Stifte hatte er im Ärmel seiner Robe, und er zeichnete die Szenen, die sich vor ihm abspielten. Zu Hause malte er weitere Bilder mit Ölfarben. Die Bilder lassen erkennen, was Richter denken, was sie sehen und was sie nicht sehen. Darüber habe ich ein Buch geschrieben „The Art of Justice: the Judge‘s Perspective” mit vielen wunderschönen Zeichnungen.
Anke Gimbal: Kennen oder kannten Sie andere jüdische Richterinnen?
Ruth Herz: Damals gab es außer mir niemand. Jetzt kenne ich eine weitere Kollegin beim Landgericht Frankfurt am Main. Es gibt Anwältinnen und Anwälte, aber keine Richterinnen und Richter, wobei das für die Tätigkeit als solche ja auch nicht relevant ist. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begegnung Anfang der 80er-Jahre.
Es rief mich jemand an vom Institut für Kriminologie und Jugendstrafrecht der Uni München. Er fragte mich nach meinem Lehrbuch zum Jugendstrafrecht, „sie“ hätten sich sehr darüber gewundert. Ich habe zurückgefragt, ob man denn Professor und über 50 und männlich sein müsse, um ein Buch schreiben zu dürfen. Er wollte dann vor allem, dass ich ihn zu einer Tagung mitnehme. Als wir dorthin dann später unterwegs waren, meinte er, sie hätten sich über mich erkundigt und man habe ihnen erzählt, ich sei eine engagierte Jugendrichterin und (vielleicht sagte er auch „aber“) Jüdin.
Ich war schockiert, denn mein Lehrbuch zur Examensvorbereitung hat nichts mit meiner Herkunft zu tun. Darin steht nichts Persönliches, und es ist doch egal, ob ich Weihnachten feiere oder nicht.
Anke Gimbal: Woraus besteht Ihre jüdische Familientradition - feiern Sie die jüdischen Feiertage?
Ruth Herz: Zu den Feiertagen geht man zu den Eltern zum Abendessen. In Amerika ist Religion wichtig. In Deutschland spielt Religion grundsätzlich keine so große Rolle. Gerade jetzt, wo 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werden, werden Juden interviewt, die dann sagen: „Ja natürlich, Freitagabend kommt die Familie zusammen, wir backen unser Brot für Shabbat und wir sagen unsere Gebete und dann essen wir alle zusammen.“ Das passiert in Deutschland wahrscheinlich in einer kleinen Anzahl jüdischer Familien. Diese Ethnisierung gefällt mir überhaupt nicht und ärgert mich. Wenn Juden in Deutschland leben, sind sie deutsche Bürger und Bürgerinnen und nicht Mitbürgerinnen und Mitbürger, was immer nach ein bisschen weniger klingt. Der WDR hat mich mal – etwa 2003 – an einem Sonntagvormittag zur jüdischen Kulturwoche in eine Sendung eingeladen. Ruth Klüger war da und zwei weitere Juden.
Auf dem Tisch war Frühstück aufgebaut, es gab Musik und es gab Publikum dazwischen. Das erste, was ich sah, waren die Shrimps
Ich entgegnete also, wenn überhaupt, dann könnten wir über Mendelssohn reden. Ich habe sie dann auch noch gefragt, wie jüdische Kultur in dieser Sendung definiert wird – mein Sohn ist Architekt und hat eine aufsehenerregende Synagoge in Mainz gebaut, kürzlich auch die symbolische Synagoge „zum Aufklappen“ in Babyn Yar, Kiew. Ist etwas jüdische Kultur, wenn es ein Jude hergestellt hat oder dann, wenn es zu einem jüdischen Zweck benutzt wird?
Wir werden abgestempelt als Randgruppe, die seltsame Musik hört und den Freitagabend feiert – wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist, nur machen mein Mann und ich es nicht. Für mich ist Jüdischsein wo ich herkomme, meine Tradition, die ich meinen Kindern und Enkelkindern weitergebe. Drei meiner Enkelkinder leben derzeit in Israel, mein Sohn mit Familie in Basel. Sein kleiner Sohn besucht dort den jüdischen Kindergarten, aber er ist nicht religiös, sondern er möchte, dass sein Sohn weiß, wovon er ein Teil ist.
Ich möchte nicht zur Exotin gemacht werden. Wir sind Steuerberater, Rechtsanwälte, Kaufleute und vieles mehr. Juden sollten in ihren Berufen als Teil der Gesellschaft gezeigt werden. Wir stehen nicht außerhalb, nur weil wir statt am Sonntag am Samstag den heiligen Tag haben und Bar oder Bat Mitzwa haben statt Konfirmation.
Alles andere ist bei allem guten Willen kontraproduktiv. Wir sollten nicht vergessen, dass Juden in Deutschland vor 1933 zumeist assimiliert waren und einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Kultur, Kunst und mehr leisteten.
Anke Gimbal: Hatten Sie eine Bat Mitzwa?
Ruth Herz: Ich habe ein goldenes Armband bekommen, das ich inzwischen meiner Enkeltochter geschenkt habe. Mein Bruder war der erste Bar Mitzwa in der Düsseldorfer neuen Synagoge und auch mein Sohn hatte Bar Mitzwa, meine Tochter nicht. Das war der damaligen Zeit geschuldet. Die moderne Version des Judentums hat nun auch Rabbinerinnen. Darunter auch Elisa Klapheck, heute Rabbinerin in Frankfurt am Main und Tochter des berühmten Malers Konrad Klapheck, mit dem wir befreundet sind.
Anke Gimbal: Haben Sie antisemitische Erfahrungen gemacht?
Ruth Herz: Natürlich gibt es solche Erfahrungen, blöde Aussagen wie „ich mag keine Juden, aber du bist toll“. Meine Kinder haben die hier und da auch gemacht. Dann ist mein Mann in die Schule gegangen und hat das geklärt. Ich möchte diese Ereignisse nicht überbewerten.
Eher interessant finde ich die indirekten Dinge, die ich schon erwähnt habe – wo man exotisch gemacht und zum Außenseiter stilisiert wird. Das ist subtiler und es ist nicht direkt antisemitisch. Das wollen die Betreffenden ja auch gar nicht sein, im Gegenteil. Aber es wirkt sich so aus. Zum Beispiel wurde ich 1966 für die „Brigitte“ interviewt. Sie wollten „ein heißes Eisen anpacken“ und eine in Deutschland lebende Jüdin interviewen.
Damals habe ich ein paar solcher antisemitischer Erfahrungen erzählt, die sich wie im Vergrößerungsglas im Interview wiederfanden. Das ist ungut. Zumal Deutschland das Land ist, das sich sehr um die Aufarbeitung der Nazizeit bemüht hat und es immer noch tut.
Was mir aber Sorgen bereitet ist, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung es für richtig hält, zwei Wochen vor dem Gedenktag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar einen ganzseitigen Artikel eines emeritierten Geschichtsprofessors abzudrucken, der für die Relativierung und das Vergessen plädiert.
Anke Gimbal: Was empfinden Sie, wenn heute Personen aus dem Querdenker-Milieu Corona-Maßnahmen mit der NS-Diktatur gleichsetzen?
Ruth Herz: Das macht mich wütend. Es steht in keinem Zusammenhang, und ich habe dafür überhaupt keine Geduld. Das sind Dummköpfe, die keine Ahnung haben und dadurch gefährlich sind.
Zitierweise: „Ruth Herz: „Für mich ist Jüdischsein meine Tradition“", Interview von Anke Gimbal mit Ruth Herz, in: Deutschland Archiv, 12.2.23. Erstveröffentlichung am 7.4.2022, Link: www.bpb.de/507069