Die Geschichte wird ständig umgeschrieben: Grund dafür ist das Auftauchen neuer Quellen, neuer Ansätze oder neuer Umstände. Die Instrumentalisierung der Vergangenheit durch politische Mächte ist weit verbreitet. Der russische Präsident Wladimir Putin hat dies gerade erst wieder bewiesen, als er das Schreckgespenst von „Faschismus“ und „Völkermord“ beschwor, um den Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen. Dabei ist die Geschichte zwar offen für pluralistische Interpretationen, aber diese müssen mit den Umständen in Beziehung gesetzt werden, unter denen sie geschrieben wurde – freilich ohne sie so umzuschreiben, dass sie zur Fälschung wird, wie im erwähnten Fall. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist der Wandel des Narrativs über das Konzentrationslager
Buchenwald nach dem Ende der DDR.
Das im Juli 1937 eingerichtete, acht Kilometer von Weimar entfernt gelegene Lager Buchenwald war eines der größten auf deutschem Boden. Die ersten Häftlinge waren die von der nationalsozialistischen Propaganda so genannten „Asozialen“. Nach ihnen kamen Vertreter der Opposition gegen den NS. Diesen mehrheitlich kommunistischen politischen Gefangenen wurden nach Auseinandersetzungen mit den gewöhnlichen „Kriminellen“, den sogenannten „Berufsverbrechern“, ab 1942 Funktionsaufgaben in der Lagerverwaltung übertragen, und dies aus mehreren Gründen: Auf der einen Seite war Buchenwald durch den Zustrom der Kriegsgefangenen völlig überfüllt, während der SS Kräfte fehlten; auf der anderen Seite begriff die Lagerleitung, dass die politischen Gefangenen für die Organisation der kriegswichtigen Zwangsarbeit, der die Gefangenen zugewiesen wurden, effizienter waren als die „Berufsverbrecher“. Die Hauptaufgabe der Funktionshäftlinge bestand darin, die von der SS angeforderten Arbeitskommandos zusammenzustellen. Sie besetzten Schlüsselposten wie den der „Arbeitsstatistik“, die Arbeitskräfte zuteilte, und den des Krankenreviers – Orte, an denen es um Leben und Tod gehen konnte.
In diesem KZ, in dem antifaschistische Widerstandskämpfer aller Länder und sowjetische Kriegsgefangene interniert waren, organisierte sich der Widerstand im Internationalen Lagerkomitee (ILK), an dessen Spitze die deutschen Kommunisten standen. Sie bereiteten einen Aufstand vor, der schließlich nicht mehr ausgeführt werden musste. Das ILK begrüßte am 11. April 1945 die US-amerikanische Armee, als diese vor Ort auftauchte. Zuvor hatten sie die letzten fliehenden SS-Mitglieder entwaffnet oder gefangen genommen, mit Waffen, die sie sich während der Bombardierung des Lagers am 24. August 1944 besorgt hatten – was es später erlaubte, von einer Selbstbefreiung des Lagers zu sprechen.
Buchenwald – ein antifaschistischer Wallfahrtsort in der DDR
Als die Alliierten das Gebiet des Deutschen Reichs unter sich aufgeteilt hatten, lag Buchenwald in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die befreiten politischen Gefangenen nahmen an der Seite künftiger kommunistischer Führungskader, der aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten „Gruppe Ulbricht“, am Aufbau der DDR teil. Von überlebenden Opfern des NS regiert, präsentierte sich die SBZ und spätere DDR als Erbin des Widerstands gegen Hitler. Die ostdeutsche Führung verband ihr sozialistisches Staatsprojekt mit einer Erinnerungspolitik, die auf dem antifaschistischen Kampf und der Verehrung seiner Helden gründete. 1958 wurde die Gedenkstätte Buchenwald eröffnet und war damit der erste Ort des Gedenkens an die KZ auf deutschem Gebiet überhaupt. Die Gedenkstätte Dachau in der Bundesrepublik wurde erst zehn Jahre später eingerichtet. Jedes Jahr im April finden sich die „Ehemaligen“ von Buchenwald aus allen Ländern zusammen, um den „Buchenwaldschwur“ zu erneuern, der im September 1945 geleistet wurde. Damals verpflichteten sie sich, den Kampf bis zur „Vernichtung des Nazismus mit seine[n] Wurzeln“ weiterzuführen und eine „neue Welt des Friedens und der Freiheit“ aufzubauen.
Ebenfalls 1958 wurde in der DDR ein Roman veröffentlicht, der auf einer wahren Begebenheit beruht: der Rettung eines polnisch-jüdischen Kindes durch deutsche Funktionshäftlinge im Lager. Der Autor von „Nackt unter Wölfen“, Bruno Apitz, war ein „Ehemaliger“ des Lagers Buchenwald. Sein Buch war ein großer Erfolg und wurde in 32 Sprachen übersetzt. Das Lagergelände von Buchenwald wurde in der DDR zu einer Art antifaschistischem Wallfahrtsort, dessen Museum die Rettung des Kindes als Symbol für die humanistische Gesinnung der Kommunisten hervorhob. Ein gleichnamiger Film des Filmemachers Frank Beyer, der auf dem Buch basierte, wurde seinerseits ein internationaler Erfolg. Mit Statisten und Schauspielern, die zum Teil ehemalige Häftlinge waren, machte Beyer einen Film unter gewissermaßen optimalen Bedingungen: Er konnte am Ort des Geschehens drehen, im Lager, dessen gemauerte Gebäude erhalten geblieben waren – wie die sogenannte Effektenkammer, in der das Kind von Funktionshäftlingen versteckt worden war. Beyers Film gewann 1963 einen Preis beim Internationalen Filmfestival in Moskau, wo er mit Fellinis „Achteinhalb“ konkurrierte.
Wie so oft – zumal niemand die Einzelheiten der Rettung des jüdischen Kindes kannte – wurde die von Apitz verfasste und von Beyer übernommene Romanversion zum Vorbild für die Szenografie der Gedenkstätte Buchenwald. Das „Buchenwaldkind“ (wie es in der ostdeutschen Erzählung hieß, obwohl es nicht das einzige Kind in Buchenwald war) wurde vom sogenannten Maskottchen der Funktionshäftlinge zu einer Art Museumsikone. Stefan J. Zweig, das „Buchenwaldkind“, ermöglichte, wie Anne Frank, eine Identifikation mit der Opferfigur schlechthin, dem Kind. Seine Geschichte wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Dauerausstellung der DDR-Gedenkstätte.
Ein Moskauer Prozess in Ostberlin
Nach dem Fall der Mauer zugänglich gewordene Archive erlaubten es, das Wissen über den Alltag in Buchenwald zu erweitern. Dokumente im SED-Parteiarchiv enthüllten, was bis dahin kaum jemand wusste: Kurz nach Kriegsende waren ehemalige Buchenwald-Gefangene, die wichtige Positionen in der Lagerführung innegehabt hatten, zu ihrer Rolle als „Kapos“, um den KZ-Ausdruck zu verwenden, befragt worden. Während die meisten Zeugenaussagen, insbesondere die entscheidende des Soziologen Eugen Kogon, eines deutschen sozialdemokratischen Oppositionellen, der sechs Jahre lang in Buchenwald interniert gewesen war, belegten, dass die kommunistischen „Kapos“ unter den gegebenen Bedingungen ihr Bestes getan hätten („[d]as Verdienst der Kommunisten um die K[onzentrations]L[ager]-Gefangenen [...] [kann, S.C.] kaum hoch genug eingeschätzt werden“
Eine Leerstelle der Geschichtsschreibung
Durch eine erstaunliche Wendung der Geschichte führte das im Archiv der SED ausgegrabene tragische Schicksal von Busse und den Opfern der stalinistischen Repression dazu, dass ihre Rolle im denunziatorischen Klima nach der Wiedervereinigung erneut in Frage gestellt wurde. So begann im Februar 1994 die Bild-Zeitung in Thüringen eine Artikelserie mit dem Titel „Wie Kommunisten den Nazis beim Töten halfen“.
Diese Interpretation ist mit Vorsicht zu betrachten. Zunächst einmal, weil sie sich auf eine unkritische Lektüre von Archivmaterial stützt: Ernst Busse hätte angeblich „gestanden“, nicht nur Todesspritzen verabreicht, sondern auch drei Mal Listen mit 150 „Todeskandidaten“ erstellt zu haben. Hier zeigt sich die Maßlosigkeit der in stalinistischen Prozessen erpressten Geständnisse. Die Interpretation offenbart außerdem Unkenntnis der „Grauzone“ (Primo Levi), deren „Labor“ Buchenwald war – eine Zone, in der Situationen zum Alltag gehörten, die jenen der für das Lager Auschwitz analysierten „choiceless choice“ (Lawrence Langer
Jorge Semprún etwa machte dies zum Thema seines Romans „Der Tote mit meinem Namen“ (2002), in dem sich zwar Fiktion und Realität mischen, der aber gleichwohl als Zeitzeugenbericht über Buchenwald gilt. In Frankreich hatte der Widerstandskämpfer Stéphane Hessel bereits im März 1946 in der Zeitschrift Les Temps modernes berichtet, wie er von deportierten Ärzten gerettet worden war und sich immerzu fragte, ob sie dem Mann, dessen Identität er annehmen sollte, nicht „zum Sterben verholfen“ hatten. So war sein eigener Name von der Liste der von der SS zum Tode Verurteilten verschwunden.
Vor allem aber ist da das Buch des Widerstandskämpfers David Rousset, „Les jours de notre mort“, das 1947 veröffentlicht und bis heute nie ins Deutsche übersetzt wurde, das aber in der Geschichtsschreibung über Buchenwald schmerzlich vermisst wird.
Das mit dem Bade ausgeschüttete Kind
Das von Niethammer herausgegebene Buch wurde zum Standardwerk und inspirierte die Neugestaltung der Ausstellung in der Gedenkstätte. Stefan J. Zweig, das von den Funktionshäftlingen/„roten Kapos“ gerettete „Buchenwaldkind“ wurde zum Kollateralopfer der zweifellos notwendigen, aber überhasteten und einseitigen Revision der Lagergeschichte.
Da das Buchenwaldkind nur mit Hilfe eines »Opfertauschs« überlebt hatte, entschied man, dass sein Name nicht ohne diese Umstände seiner Rettung genannt werden sollte. Wie der damalige Direktor der Gedenkstätte, Volkhard Knigge, 2012 in dem von Zweig vor dem Berliner Landgericht angestrengten Prozess erklärte, war dies seine Entscheidung gewesen. Zweig sagte, er empfinde es als Fehler, dass von ihm nur noch als Nutznießer eines „Opfertauschs“ die Rede sei. Dies müsse aufhören, forderte er, und das Gericht gab ihm schließlich Recht.
Diese Wahl hatte Zweig nicht. Außerdem kursierte die Liste, auf die er gesetzt und von der er dann gestrichen worden war, in zahlreichen Veröffentlichungen, die auf die „Enthüllung“ der Umstände seiner Rettung folgten. Es sei darauf hingewiesen, dass der in Yad Vashem (Jerusalem) hinterlegte Zeitzeugenbericht seines Vaters, Zacharias Zweig, der nach dessen Tod 1987 in Deutschland veröffentlicht wurde, kein Geheimnis daraus machte, unter welchen Bedingungen sein Sohn gerettet worden war.
Apitz‘ Buch „Nackt unter Wölfen“ wurde heftig kritisiert und genauestens unter die Lupe genommen, um Wahrheit und Fiktion säuberlich voneinander zu trennen, eine Übung, deren Zweck schwer zu verstehen ist – im Gegensatz zu ihrem Ziel.
Die Dekonstruktion des DDR-Narrativs über Buchenwald ist im Zusammenhang mit der Diskreditierung der Antifaschismus-Erinnerung zugunsten der Totalitarismus-These zu betrachten – die letztlich die Gleichwertigkeit von Nazi- und Sowjetregime suggeriert. In Deutschland kam die Erinnerung an den Antifaschismus in den 1990er-Jahren in Verruf, als das „Schwarzbuch des Kommunismus“
Buchenwald war nicht nur ein deutsches KZ. Es war ein Ort, an dem sich Antifaschisten, Kommunisten und Nichtkommunisten aus allen Ländern begegneten, ein Ort, der dazu anregen sollte, eine entideologisierte Forschung über den Antifaschismus zu betreiben und sie zum Element einer großen, von den nationalen Geschichten losgelösten „Ursprungserzählung“ zu machen, die sich Europa –wenn es weiterexistieren will – zulegen muss.
Zitierweise: Sonia Combe, „Buchenwald und seine Nachgeschichte“, in: Deutschland Archiv, 6.4.2022, Link: www.bpb.de/507038.