Einbezug jüdischer Perspektiven in gesellschaftliche Diskursräume
Sharon Adler: Ein Eintrag im aktuellen Duden lautet: „Gelegentlich wird die Bezeichnung Jude, Jüdin wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden. In diesen Fällen werden dann meist Formulierungen wie jüdische Menschen […] oder Menschen jüdischen Glaubens gewählt.“ – So der Duden, 2022. Dein Kommentar dazu?
Laura Cazés: Ich empfinde das als symptomatisch für den Umgang mit Jüdinnen und Juden in der deutschen Gesellschaft. Die Art und Weise des Umgangs, der sich an dieser Stelle an der Sprache abbildet, legt letztlich offen, dass es ein unglaublich großes Unbehagen dazu gibt, wie Jüdinnen und Juden in der Post-Shoah verortet werden sollen. Es zeigt auch eine gewisse Form der Ignoranz der Autor:innen des Duden. Denn aus dieser Definition spricht letztlich, dass Jüdinnen und Juden in diesem Prozess überhaupt nicht mit einbezogen wurden. Es ist vor allem eine deutsche nicht-jüdische Perspektive, die davon ausgeht, dass aus einer postnationalsozialistischen Perspektive die Bezeichnung Jude, Jüdin eine Fremdmarkierung ist, die in der Zeit des Nationalsozialismus als Beleidigung angeeignet wurde. Jude, Jüdin als die Selbstbezeichnung von Jüdinnen und Juden bleibt in diesem Kontext völlig außen vor.
Sharon Adler: Im Judentum sind liberale, orthodoxe, konservative und reformerische Glaubensrichtungen vertreten. Einige Jüdinnen und Juden verstehen sich als kulturell jüdisch, andere als säkular, als progressiv, und wieder andere als traditionell jüdisch oder orthodox. Wo verortest du dich? Und gibt es darauf überhaupt eine einfache Antwort?
Laura Cazés: Die kurze Antwort auf die zweite Frage lautet: Nein. Das hat mehrere Gründe. Beispielsweise glaube ich nicht, dass die meisten Jüdinnen und Juden für sich selbst so eine einfache Kategorisierung vornehmen würden. Das hat damit zu tun, dass das Judentum nicht nur eine Religion ist.
Es geht nicht nur darum zu sagen: Ich glaube an Gott oder nicht, ich bin orthodox oder nicht, ich bin religiös oder nicht. Sondern das Judentum lässt ganz viele unterschiedliche Verortungen zu. Auch wenn jemand sich selbst nicht als gläubig oder religiös bezeichnen würde, kann es trotzdem sein, dass dieser Person Traditionen sehr wichtig sind, weil sie ein identitätsstiftendes Moment sind, oder weil sie in den Familien eine große Rolle spielen, oder weil sie einen gemeinsamen Nenner innerhalb einer Minderheiten-Community darstellen. Diese Vielschichtigkeit fällt mir persönlich bei diesen Labels zu sehr hinten runter. Und was vor allem runterfällt, ist die Möglichkeit, dass sich das ja auch im Laufe eines Lebens entwickeln kann. Es gibt ja unterschiedliche Lebensphasen, in denen man sich vielleicht eher einer bestimmten spirituellen Herangehensweise zum Judentum verbunden fühlt, beispielsweise in schwierigen Phasen.
Ich möchte mir diese Hybridität auch beibehalten. In meiner Familie haben wir immer eine gewisse Offenheit gelebt und gleichzeitig war Tradition ein gemeinsamer Nenner. Auch zwischen meiner Mutter und meinem Vater, die aus sehr unterschiedlichen jüdischen kulturellen Bezügen kommen, nämlich aus dem Externer Link: aschkenasischen und aus dem sephardischen Kontext . Dieser gemeinsame Nenner hat bei der Aufrechterhaltung dieser Unterschiedlichkeiten immer eine sehr große Rolle gespielt. Gleichzeitig empfinde ich Religiosität und Spiritualität als etwas extrem Persönliches, und deshalb finde ich es schwierig, oder gar nicht notwendig, sich dazu zu äußern, weil es in meinem Leben auch immer eine Frage der persönlichen Phase ist. Und um die Frage final zu beantworten, ich bin, auch im institutionellen Kontext, also in der Schule und durch die
Sharon Adler: Vor dem Hintergrund deiner persönlichen Biographie, in der sich sephardische und aschkenasische Anteile finden: Warum, denkst du, werden Jüdinnen und Juden in Deutschland bis heute ausschließlich als „weiß“ wahrgenommen?
Laura Cazés:
Neben ihrem hauptberuflichen Engagement bei der ZWST setzt sich Laura Cazés als Autorin und Speakerin für die Wahrnehmung diverser jüdischer Lebenswelten in Deutschland, den Einbezug jüdischer Perspektiven in gesellschaftliche Diskursräume und die Schaffung innovativer Konzepte für und mit jüdischen Communities ein. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Neben ihrem hauptberuflichen Engagement bei der ZWST setzt sich Laura Cazés als Autorin und Speakerin für die Wahrnehmung diverser jüdischer Lebenswelten in Deutschland, den Einbezug jüdischer Perspektiven in gesellschaftliche Diskursräume und die Schaffung innovativer Konzepte für und mit jüdischen Communities ein. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Das ist eine total interessante Frage. Erst einmal würde ich dem widersprechen. Ich glaube nämlich nicht, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland ausschließlich als weiß wahrgenommen werden, das kommt aber auch total auf die Situation an. Beispielsweise ist die Lebensrealität von 99 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland die, dass sie per definitionem einen Migrationshintergrund haben. Entweder, weil sie in den letzten 30 Jahren aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind, oder weil sie von Überlebenden aus Osteuropa abstammen. Die deutschen Jüdinnen und Juden, die vor der Shoah die Gemeinden in Deutschland ausgemacht haben, sind entweder umgebracht worden, oder sie haben es ins Exil geschafft. Das heißt, wir haben es heute mit Menschen zu tun, die ursprünglich gar nicht aus Deutschland kamen, aber natürlich deutsche Pässe haben. Was einigen Jüdinnen und Juden ganz häufig begegnet, bevor sie überhaupt zu erkennen geben, dass sie jüdisch sind, kann beispielsweise eine Form von Alltagsrassismus sein, wenn sie aufgrund ihres Akzentes, ihres Aussehens oder ihrer Nachnamen nicht als Deutsch gelesen werden. Das ist der erste Punkt, der miteingelesen werden müsste, wenn es um die tatsächliche Erfahrung in den Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden geht.
Der zweite Punkt ist, dass Jüdinnen und Juden, wenn es um eine hierarchische Kategorie geht, in der Menschen, die als weiß gelesen werden, die Privilegierten sind, und diejenigen, die als nicht-weiß gelesen werden, in irgendeiner Form in der Hierarchie nach unten fallen. Dann ist das natürlich etwas, was Jüdinnen und Juden auch betrifft.
In dem Moment, in dem sie jedoch als jüdisch gelesen werden, oder wenn es darum geht, Jüdinnen und Juden ohne konkretes Bild einzuordnen, wird diese Einordnung ganz häufig in dieser Kategorie weiß vorgenommen. Es wird davon ausgegangen, dass Jüdinnen und Juden in irgendeiner Form eine Art von privilegierter Minderheit sind, dass sie weiß sein müssen, weil sie vermeintlich aus Deutschland sind, oder weil sie als Jüdinnen und Juden nicht erkannt werden. Das macht sie dann erst mal weiß, oder, zumindest in Anführungsstrichen, als „white passing“
Was aber nicht mit eingelesen wird, ist, dass die Vernichtung in der Shoah natürlich auch mit der Kategorie der sogenannten Rasse zu tun hatte. Und auch das Labeling von Jüdinnen und Juden als privilegierte Minderheit hat letztlich eine antisemitische Konnotation. Denn dieses „Privileg“ von Jüdinnen und Juden wird häufig mit Macht assoziiert. Und das macht diese Kategorisierung so problematisch und letztlich gefährlich, weil sie Antisemitismus nicht nur als Diskriminierungsform, sondern auch als Weltanschauungsmuster extrem verharmlost. Das negiert auch, dass Jüdinnen und Juden auch Erfahrungen von Alltagsrassismus machen müssen, die erstmal gar nichts mit der antisemitischen Erfahrung zu tun haben. Und weder schützt sie das Jüdischsein vor diesen rassistischen Erfahrungen, die manche Jüdinnen und Juden im Übrigen nicht machen. Gleichzeitig hat auch eine vermeintlich weiß zu lesende, phänotypische Ausprägung von blonden Haaren oder blauen Augen oder Ähnlichem Jüdinnen und Juden in der Shoah nicht davor geschützt, umgebracht zu werden. Das sind Dinge, die in dieser Kategorisierung überhaupt nicht vorkommen. Und deshalb ist sie immer in Frage zu stellen und auch die Frage danach zu stellen, wer diese Kategorisierung am Ende vornimmt und ob sich die Personen, die das tun, auch tatsächlich mit den Wirkungsweisen von Antisemitismus auseinandergesetzt haben, sowie mit den Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden.
Jüdische Jugendarbeit
Sharon Adler: In deinem Beitrag „Jüdische Jugendarbeit in Deutschland“
Laura Cazés: Jüdische Jugendarbeit als ein Raum für Empowerment findet als ein überregionales Angebot vor allem in Form von Machanot
Diese Räume für Empowerment geben auch die Möglichkeit, es einfach nur cool zu finden, auf andere jüdische Kinder und Jugendliche zu treffen, die ähnliche Erfahrungen in ihrem Alltag machen. Ich finde in diesen Räumen vor allem einen ressourcenorientierten Zugang zu dem, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Nämlich mal zusammen Schabbat zu feiern, zu lernen, oder eben einfach nur Spaß zu haben mit Outdoor-Aktivitäten und Abendprogramm. Und vielleicht auch einem kleinen Flirt bei den Älteren. Zu erleben, dass es auch einfach total Spaß machen kann, mit anderen jüdischen Kids abzuhängen und zu erfahren: „Wow, es gibt ja noch viele andere.“ Das ist schon sehr besonders.
Die Jugendarbeit will somit ein gewisses Kontrastprogramm schaffen, in Form einer Unbeschwertheit, die es so im Alltag nicht immer gibt, wenn es darum geht, sich mit seiner Identität auseinanderzusetzen. Und deshalb sind diese Räume auch heute noch so wichtig. Wenn wir uns die Externer Link: Statistiken der ZWST anschauen, sehen wir, dass die meisten jüdischen Kinder und Jugendlichen in kleineren Städten leben. Das hat mich in meiner eigenen Jugend, obwohl ich in größeren Städten aufgewachsen bin, auch sehr geprägt.
Sharon Adler: Wie wirkt Jüdische Jugendarbeit deiner Meinung nach nachhaltig?
Laura Cazés: Manchmal sprechen wir innerhalb der ZWST von den Machanot als Inkubator für jüdisches Leben in Deutschland. Warum? Weil sie das schon
Sharon Adler: Wie wirkt Jüdische Jugendarbeit mit Blick auf weibliche jüdische role models?
Laura Cazés, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung bei der ZWST, Mitinitiatorin des Jewish Women Empowerment Summit, Autorin und Speakerin, im Café/Restaurant der Schirn Kunsthalle „Badias“ von Badia Ouahi in Frankfurt am Main. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Laura Cazés, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung bei der ZWST, Mitinitiatorin des Jewish Women Empowerment Summit, Autorin und Speakerin, im Café/Restaurant der Schirn Kunsthalle „Badias“ von Badia Ouahi in Frankfurt am Main. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Laura Cazés: Das ist interessant, weil diese Frage lange Zeit gar nicht explizit verhandelt wurde. Die Machanot der ZWST haben eine starke Prägung durch jüdische Jugendbewegungen, und diese wiederum sind stark durch sozialistische, zionistische Jugendbewegungen beeinflusst. Dort gibt es viele paritätische Elemente, beispielsweise übernehmen Betreuerinnen und Betreuer die gleichen Aufgaben. Darüber werden natürlich auch role models geschaffen. Es ist natürlich toll, wenn man eine Betreuerin hat, zu der man aufschauen kann und die man besonders findet.
Die explizite Frage danach, was es für einen Unterschied macht, wenn man von weiblichen role models spricht, ist etwas, was in den letzten Jahren Einzug in die jüdische Jugendarbeit gehalten hat, weil Fragen von Gleichberechtigung, Empowerment, Feminismus gesamtgesellschaftlich eine ganz neue Rolle spielen, auch in der heutigen Generation, die jetzt auf Machane fährt. Beim Blick in die jüdische Geschichte achten wir darauf, dass weibliche role models thematisiert werden. Das findet also schon statt, sowohl in der Vermittlung von Inhalten als auch im Peer-to-Peer-Kontext. Viele andere gesamtgesellschaftliche Themen, wie die Fragen von Umweltschutz und Klimakrise, spielen heutzutage für jüdische Kinder und Jugendliche auf den Machanot eine ganz andere Rolle als es noch vor zehn Jahren der Fall war. Das sind interessante Aushandlungsprozesse, die in die Jugendarbeit hinein schwappen, weil die Kinder und Jugendlichen und die meist jungen Betreuerinnen und Betreuer die Themen mitbringen, die sie selbst beschäftigen und die für ihre Jugendarbeit relevant ist.
Sharon Adler: Du hast dich viele Jahre lang ehrenamtlich in unterschiedlichen Funktionen in der Jugendarbeit der ZWST engagiert, zuerst als Teilnehmerin, später als Madricha. Inwieweit hast du selbst Jugendarbeit als empowernden Raum und Machanot als Safe Space verstanden, als Ort Jüdischer Selbstverständlichkeit?
Laura Cazés: Wenn ich in meine Zeit als Teilnehmerin zurückschaue, dann fällt es mir bis heute – egal, wie viel ich über diese Räume schreibe und spreche – total schwer zu beschreiben, was sie so besonders macht. Viele Kinder und Jugendliche würden sagen, dass das so ist, wie in eine eigene Welt einzutauchen, in denen die Uhr anders schnell beziehungsweise langsam tickt. Diese zwei Wochen auf Machane sind eine Welt, in der bestimmte Dinge nicht erklärt werden müssen, bestimmte Dynamiken einfach anders laufen und in der vor allem bestimmte Dinge nicht existieren oder zumindest für die Dynamik unter den Menschen keine Rolle spielen, beispielsweise Antisemitismus. Natürlich wird über Antisemitismus gesprochen als ein Phänomen, das in der Welt existiert, aber es spielt in diesem Mikrokosmos erst mal keine Rolle, das ist eins von vielen Beispielen. Oder die Selbstverständlichkeit, mit der Schabbat gefeiert wird, es ist einfach völlig klar, es gehört zum Wochenablauf. Diese Besonderheit, zu wissen, dass man umringt von Menschen aus ganz Deutschland ist, die alle jüdisch sind, macht diesen Raum schon deshalb besonders, weil es das sonst im Alltag nicht gibt. Das war sogar für mich besonders, als Person, die in eine jüdische Schule gegangen ist, in den jüdischen Kindergarten, ein großes Jugendzentrum hatte und gleichzeitig auch immer nichtjüdische Freunde hatte. Auch meine nichtjüdischen Freund:innen und Klassenkamerad:innen wussten, dass Machane für mich was Besonderes ist. Es ging nicht nur ums Jüdischsein, es war auch ein Raum, in dem man sich ausprobieren konnte wie ist es eigentlich, vor Anderen zu sprechen, etwas vorzubereiten? Wie funktioniert man in der Gruppe? Die Frage von Softskills, gerade wenn man selbst Betreuerin wird. Das stellt man auch später im beruflichen oder im studentischen Alltag fest, wieviel einem diese Räume geben, in denen man sich ausprobieren kann, indem man sich unter Beweis stellen kann, indem man bestimmte Talente entdeckt. Das macht diesen Raum besonders. Dass er geschützt die Möglichkeit gibt, bestimmte Dinge zu erleben, zu erfahren, zu erkennen und sie dann vielleicht in seinen Alltag oder Beruf mit hinein zu tragen.
ZWST, Mabat, und Digitalisierung - die Schaffung innovativer Konzepte für und mit jüdischen Communities
Sharon Adler: Bei der ZWST bist du als Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung für diese Bereiche und für digitale Teilhabe verantwortlich. Was bedeutet es für dich in diesem Setting, sich im Kontext Jüdischer Gemeinden mit Innovationsthemen auseinanderzusetzen?
Laura Cazés: Der Bereich Kommunikation und Digitalisierung als zusammengefasster Bereich in der ZWST ist noch relativ neu und auch ein bisschen den Corona-Entwicklungen geschuldet. Die einzelnen Bereiche gibt es schon länger, aber was es bedeutet, Kommunikation nach außen und Digitalisierung nach innen zusammen zu denken, auch als Jüdische Gemeinden, auch als jüdische Organisationen, dafür müssen wir mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, technologischen Entwicklungen und denen unserer eigenen Community Antworten finden.
Im Konkreten bedeutet das, dass das Thema Digitalisierung nicht nur die Frage danach ist, wie wir uns technisch neu aufstellen, sondern auch: Wie gestalten wir unsere Arbeit so, dass sie in den nächsten 15, 20 Jahren noch nachhaltig ist und relevant für die Menschen, für die wir da sind? Die ZWST ist nicht nur eine jüdische Organisation, sondern auch einer der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und wird als solcher seit 2019 durch ein Bundesprogramm des Bundesfamilienministeriums gefördert.
Dadurch haben wir die Möglichkeit, Jüdische Gemeinden dabei zu unterstützen, den Weg der digitalen Transformation zu gehen. Der Bereich der Kommunikation bildet natürlich den klassischen Bereich der Öffentlichkeitsarbeit ab, aber wagt sich noch mal anders vor. Im vergangenen Jahr haben wir uns im Kontext 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefragt, was es für einen jüdischen Verband bedeutet, mit gesellschaftspolitischen Themen auch über Social Media einen Weg in die Öffentlichkeit zu wagen, gefragt, wie das auf Instagram und nicht nur in Form einer klassischen Broschüre funktionieren würde.
Zum ersten Mal haben wir eine rExterner Link: ein digitale Kampagne gemacht. Hauptsächlich daran ausgerichtet, was jüdische Wohlfahrtspflege gestern, heute und morgen ist. Und um auf strukturelle Altersarmut hinzuweisen, von der fast alle jüdischen Rentner:innen betroffen sind, die in den vergangenen 30 Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind, haben wir im Kontext des 27. Januar eine Externer Link: Kampagne zu diesem Thema gemacht. Das heißt, wir verstehen in dieser Abteilung einerseits Kommunikation und Digitalisierung als einen Schritt nach außen und andererseits als einen Transformationsprozess nach innen.
Sharon Adler: Wie können digitale Räume für die Verhandlung gesellschaftsrelevanter Themen genutzt und als Instrument eingesetzt werden?
Laura Cazés: Ich glaube, es ist eine Gleichzeitigkeit. Digitale Räume
Und deshalb gilt es, zwei Dinge zu beachten: Einerseits ist es wichtig, diese digitalen Räume zu verstehen, um sie nutzen zu können. Und gleichzeitig ist es eben wichtig, ihre Potenziale anzuerkennen als Räume, die es möglich machen, wichtige Themen, die nicht nur für die jüdische Community gelten, sondern auch für andere marginalisierte Gruppen, in die Gesellschaft hineinzutragen und in bestimmte gesellschaftliche Milieus hineinzutragen, die diesen Zugang vielleicht vorher nicht gehabt hätten. Das heißt, in der Umsetzung ist beides wichtig eine tiefgehende Auseinandersetzung damit, wie diese Räume funktionieren, und eine gleichzeitige Nutzung der Potenziale dieser Räume.
Sharon Adler: Du bist Co-Initiatorin des Jewish Women Empowerment Summit (JWES).
Laura Cazés: Der erste Punkt, wenn es um so eine strukturelle Veränderung geht, ist die Anerkennung dessen, dass jüdische Communities als soziale Räume nicht so viel anders funktionieren als andere gesellschaftliche Räume auch. Das heißt, es gibt natürlich bestimmte gelernte patriarchale Strukturen, die gar nicht zwingend immer nur mit einer religiösen Ausrichtung zu tun haben, vor allem nicht mit den religiösen Räumen innerhalb der Jüdischen Gemeinde, zumindest nicht primär. Ich glaube, die Erkenntnis darüber, wie Frauen in einer jüdischen Community Rollen zugewiesen werden, ist nicht unbedingt immer beabsichtigt ausschließend gedacht.
Aber es gibt diese Rollenzuschreibung eben nun mal, weil es sie in der Gesamtgesellschaft auch gibt. Im Kontext des Jewish Women Empowerment Summit gestalten wir einen Raum für Empowerment. Das, was wir fordern, ist ein besseres Verständnis darüber, wie jüdische Communitys als soziale Räume betrachtet werden müssen, um zu verstehen, warum es kaum oder so wenige Frauen in Vorständen von Jüdischen Gemeinden gibt.
Das ist nicht zwingend, weil man sie dort nicht will oder weil man niemanden gefunden hat, sondern zum Beispiel weil vielleicht die Art und Weise, wie ein Vorstand arbeitet, nicht kompatibel mit Care-Arbeit ist. Um das zu reflektieren und klassische Rollenzuweisungen, die nicht mehr zeitgemäß sind, ein Stück weit aufzubrechen und auch Perspektiven und Sichtbarkeiten für unterschiedliche Lebensentwürfe zu schaffen, versuchen wir einen Raum zu schaffen.
Sharon Adler: Du beschäftigst dich im Rahmen deines Engagements auch mit „(…) dem Einbezug jüdischer Perspektiven in ein intersektionales Verständnis von Feminismus“. (Wo) kommen Jüdinnen (nicht) ausreichend im feministischen Diskurs, in der Debatte um Intersektionalität vor? Wo wünschst Du dir mehr Sichtbarkeit von Jüdinnen?
Laura Cazés: Das ist eine total interessante Frage, und sie lässt sich letztlich ähnlich beantworten wie die Frage zu den Räumen, in denen auch critical whiteness
Es gibt
Dafür ist beispielsweise der Jewish Women Empowerment Summit ein wichtiger Raum, das überhaupt erst mal sichtbar zu machen und die Frage zu stellen: Was wissen wir überhaupt? Was wissen wir nicht? Was ist durch die Shoah als Bruchstelle entstanden? Und wo wollen wir eigentlich hin mit unseren Positionierungen? Gibt es Platz für die Orthodoxie in diesen Räumen? Vor allem orthodoxe jüdische Frauen sind noch mal einer ganz anderen Form der Alltagsdiskriminierung ausgesetzt, weil sie aufgrund ihrer Kleidung oder weil sie ihre Haare bedecken, als jüdisch gelesen werden. Daher schützen wir sie mit, denken wir sie mit. Das sind total wichtige Faktoren, wenn wir darüber sprechen, wie jüdische Perspektiven in solchen feministischen und auch nationalen Räumen mitberücksichtigt werden sollten.
Gegenwartskulturen – Diversität, Wahrnehmung und Darstellung von Jüdinnen und Juden in Deutschland
Sharon Adler: Du hast bei „Freitagnacht Jews“
Laura Cazés: Vor allem geht es darum, dieses Bild davon aufzulösen, dass Jüdinnen und Juden nur eindimensionale Wesen und Projektionsflächen sein können. Und mit einer bestimmten Chuzpe zu sagen, wir möchten als vielschichtige Personen wahrgenommen werden.
Ich glaube, ganz viel von dem, was gerade in Kunst und Kultur passiert, ist unglaublich wertvoll dafür, zu verstehen, wie jüdische Lebensrealitäten aussehen. Vor allem basiert es darauf, dass wir es mit einer Generation junger Jüdinnen und Juden zu tun haben, die ihre Geschichten selbst erzählen wollen. Die keine Lust mehr haben auf dieses fremdzuschreibende Moment, in dem vor allem von außen bestimmt wird, wie jüdisch auszusehen hat, wie jüdisch zu sprechen hat, wie jüdische Musik zu klingen hat, wie ein jüdischer Habitus zu sein hat, wie Schabbat darzustellen ist und so weiter.
„Freitagnacht Jews“ bricht das auf eine performative Art brachial auf. Daniel Donskoy spricht direkt mit dem Publikum, es wird Alkohol getrunken, gelacht, über politische Haltungen und auch über Privates geredet, aber auch über Antisemitismus, auch über die Shoah. Das Format nimmt diese Bilder der Fremdwahrnehmung auf, spielt mit ihnen, arbeitet mit ihnen, dekonstruiert sie ein Stück weit, führt sie ein Stück weit ad absurdum und hält der Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel vor und sagt: So wollt ihr uns haben, dann machen wir es aber ein bisschen unangenehm. Ich glaube, das macht viele dieser Formate unglaublich besonders, in welcher Form sie sich auch ausprägen, ob Show, Kurzfilm, Roman oder eine Form der bildenden Kunst. Da passiert gerade unglaublich viel und ich hoffe, dass es so weitergeht.
Allianzenbildung zwischen marginalisierten und unterrepräsentierten Gruppen
Sharon Adler: 2017 hast du an der Muslim Jewish Conference
Laura Cazés: Dass es diese Allianzen geben muss und dass wir sie brauchen, daran glaube ich ganz fest. Was mir daran am Herzen liegt, ist die Sichtbarmachung geteilter Erfahrungen. Das ist etwas, was ich in diesen Räumen immer als besonders wertvoll wahrgenommen habe. Beispielsweise die Frage des Identitätskonfliktes, den nicht nur jüdische Personen aus unterschiedlichen Gründen häufig haben, sondern auch Personen mit einer anderen Migrations- oder gar Fluchtbiographie den Konflikt mit Deutschland, mit dieser Gesellschaft, mit anderen Minderheiten.
Diesen Identitätskonflikt als Ressource zu verstehen, ist eine Erfahrung, die man gemeinsam machen kann und die total wertvoll ist, wenn es einen Raum dafür gibt. Diese Gemeinsamkeiten miteinander zu besprechen und festzustellen, dass man damit nicht alleine ist. Das ist die eine Sache. Die zweite Sache ist es, Allianzen als einen Ort zu sehen, in dem auch Differenzen ausgehandelt werden und auch Schmerz ausgesprochen wird, beispielsweise in der Erkenntnis, dass muslimische Communities nicht antisemitismusfrei sind und jüdische Communities auch nicht gänzlich frei von Rassismus. Und die Gründe dafür gemeinsam zu ergründen, unter den Vorzeichen, dass es extrem wichtig ist, aufeinander zu achten.
Das habe ich aber nicht auf Konferenzen gelernt, sondern aus echten Freundschaften und Bindungen, die über Jahre gewachsen sind. Begegnung ist wichtig, schafft aber noch lange kein Vertrauen. Dafür braucht es auch Aushandlungsprozesse, die jenseits der Öffentlichkeit stattfinden. Ich glaube auch nicht, dass das nur unter einem dominanzgesellschaftlichen Vorzeichen stattfinden kann. Ich glaube, dass es Räume geben muss, in denen sich Jüdinnen und Juden und Musliminnen und Muslime auf Augenhöhe begegnen können und sagen können: Wir brauchen die Mehrheitsgesellschaft nicht dafür, sondern wir machen das jetzt erst mal selber und zwar auf Basis geteilter Erfahrungen. Ich glaube, das ist ein unglaublich starkes, verbindendes Element. Und wenn diese Basis geschaffen ist, ist es einfacher, die Differenzen miteinander auszuhandeln. Ich war ganz häufig in Räumen, in denen sich genau diese Wirkung entfaltet hat. Und das gibt einem ein Gefühl dafür zurück, wofür es sich lohnt, gesamtgesellschaftlich einzustehen. Nämlich auch für den Anderen, nicht nur für sich selbst.
Zitierweise: „Laura Cazés: „Es braucht Räume, in denen verhandelt wird, was jüdischer Feminismus ist.“", Interview mit Laura Cazés, in: Deutschland Archiv, (Datum), 6.4.2022, Link: www.bpb.de/507012