Margot Friedländer musste als junge Frau erleben, wie die NS-Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung den Überlebensraum immer mehr eingrenzten und die Möglichkeiten zur Flucht täglich immer aussichtsloser machten. Sie überlebte den NS-Terror im Versteck und wanderte nach der Befreiung am 8. Mai 1945 im Jahr 1946 gemeinsam mit ihrem Mann nach New York aus. Nach Deutschland wollten sie nie zurückkehren.
Als sie auf Einladung des Berliner Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) im Jahr 2003 im Rahmen des „Emigrantenprogramms“ schließlich nach 57 Jahren doch wieder in ihre Geburtsstadt kommt, findet sie hier die Antworten auf die Fragen danach, warum sie am Leben geblieben ist. Beim Empfang im Roten Rathaus trifft sie Barbara Witting, die damalige Schulleiterin der Jüdischen Oberschule, in der Margot Bendheim Schülerin der Mittelschule gewesen war. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich bald eine innige Freundschaft, und zu Margot Friedländers 100. Geburtstag am 5. November 2021 verfasst die langjährige Vertraute schließlich den folgenden ganz persönlichen Glückwunsch für das Magazin jüdisches berlin
Margot Friedländer wird 100 Jahre alt!
Im Mai 2003 begegnete ich Margot Friedländer, damals 81-jährig, das erste Mal. Sie war auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters im Rahmen des sogenannten „Emigrantenprogramms“ nach Berlin gekommen und wurde mit weiteren ehemaligen, von den Nazis aus ihrer Heimatstadt vertriebenen Berlinerinnen und Berlinern im Roten Rathaus empfangen.
Ich selbst war anwesend in meiner Funktion als Schulleiterin der Jüdischen Oberschule und Vertreterin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Ich erfuhr, dass Margot Friedländer in der Zeit des Nationalsozialismus vorübergehend Schülerin der Mittelschule gewesen war, der Vorgängerin der Jüdischen Oberschule und des heutigen Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn.
Ich lud sie ein, die Schule zu besuchen; bei der Führung durch das Schulgebäude erinnerte sie sich vage an einige Details wie den Musikraum und die Aula mit dem alten Steinway-Flügel. Im Verlauf der Woche gab es eine weitere Begegnung mit Margot Friedländer im Gemeindehaus in der Fasanenstraße, zu der die „Reisegruppe“ von der Jüdischen Gemeinde eingeladen worden war. Bei jedem unserer Treffen kamen wir uns näher, und Margot Friedländer erzählte mir ihr Schicksal.
Margot Friedländer wurde als Margot Bendheim 1921 in Berlin geboren. Ihre Kindheit beschreibt sie als zunächst glückliche, unbeschwerte Jahre. Nach der Scheidung ihrer Eltern versuchte ihre Mutter mehrmals, mit Margot und ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Ralph aus Deutschland herauszukommen. Die Immigration in die USA wurde jedoch von den amerikanischen Behörden 1938 verweigert.
Für den 20. Januar 1943 plant die Familie die Flucht aus Deutschland. Ralph wird von der Gestapo verhaftet und die Mutter entscheidet sich, ihren Sohn zu begleiten, und stellt sich der Polizei. Margot hat an diesem Tag Nachtschicht in der Fabrik. Sie will zur Wohnung ihrer Mutter, sieht aber einen Fremden vor der Tür stehen und geht weiter hoch zu einer Nachbarin, die ihr von den Vorkommnissen berichtet. Bei ihr hat die Mutter ihre Handtasche mit einem Notizbuch und einer Bernsteinkette hinterlassen und eine mündliche Nachricht an ihre Tochter: „Versuche Dein Leben zu machen!“
Margot beschließt in den Untergrund zu gehen und findet immer wieder neue Verstecke. Sie versucht ihr Äußeres zu verändern, färbt sich die Haare rot, lässt sich die Nase operieren und trägt eine Kette mit Kreuz. Dennoch wird sie 1944 gefasst und ins KZ Theresienstadt deportiert. Margot Bendheim überlebt den Holocaust und heiratet noch in Theresienstadt Adolf Friedländer, den sie aus Berlin kennt. Gemeinsam wandern sie 1946 in die USA aus, nehmen die amerikanische Staatsangehörigkeit an und leben fortan in New York, fest verbunden durch das gemeinsame Schicksal, den Verlust ihrer jeweiligen Familien, die von den Nazis ermordet worden waren.
In New York arbeitet Margot in Textilgeschäften und Reisebüros, ihr Mann in leitender Position in einer großen jüdischen Kulturorganisation. Nach seinem Tod nimmt Margot an einem Kurs für Kreatives Schreiben teil und hält ihre Erinnerungen in englischer Sprache fest. Über diesen Kurs lernt Margot einen jungen deutschen Filmemacher kennen, der, nachdem er ihre Geschichte gelesen hat, einen Dokumentarfilm über ihr Leben an Originalorten, also auch in Berlin, drehen möchte. So kommt Margot Friedländer das erste Mal wieder nach Berlin. Ab diesem Zeitpunkt ist sie in meiner Familie herzlich willkommen. Gemeinsam feiern wir Familienfeste, die Jüdischen Feiertage und nehmen am Gottesdienst der Synagoge in der Pestalozzistraße teil.
Viele Besuche sollen zukünftig folgen.
Ein weiterer Anlass ist die Premiere des Films „Don´t call it Heimweh“, der beim Jüdischen Filmfestival Berlin 2005 im Roten Rathaus gezeigt wird. Der damalige Chef der Berliner Senatskanzlei motiviert Margot, ihre Memoiren in deutscher Sprache zu Papier zu bringen.
2008, zur Leipziger Buchmesse, erscheint das Buch „Versuche, Dein Leben zu machen!“ Nun sieht sich Margot mit einer Flut von Einladungen zu Lesungen konfrontiert, die erste findet in der Liebermann-Villa am Wannsee statt, die zweite im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Buchhandlungen und Schulen aller Schulformen in ganz Deutschland wollen, dass Margot ihr Buch präsentiert. Vor allem die Treffen mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Auszubildenden werden für Margot zur Mission. Mehrmals die Woche liest sie aus ihrem Buch und spricht zu jungen Menschen, um ihnen anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte zu verdeutlichen, welche grauenhaften Folgen Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Hass und Antisemitismus nehmen können.
2009, nach vielen, oft mehrwöchigen Aufenthalten in Berlin, beschließt Margot, ihren Wohnsitz in den USA aufzugeben und zieht 2010 mit ihrem New Yorker Mobiliar nach Berlin. Sie erhält die deutsche Staatsangehörigkeit zurück, die ihr während der Nazidiktatur aberkannt wurde. 2010 erscheint ein weiterer Dokumentarfilm, „Späte Rückkehr“, und 2015 ein Hörbuch zu ihrem Buch „Versuche Dein Leben zu machen“, bestehend aus acht CDs, die von Margot Friedländer selbst eingesprochen werden.
Anlässlich des bevorstehenden 100. Geburtstags wird im September 2021 in Buchform ein Doppelinterview mit der ehemaligen Justizministerin und jetzigen Antisemitismusbeauftragten der Landes NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, und Margot Friedländer veröffentlicht: „Ich tue es für Euch“, mit dem Untertitel „Was wir von einer hundertjährigen Holocaustüberlebenden über Vergebung, Hoffnung und Toleranz lernen können.“ Im Oktober 2021 wird der Bildband „Margot Friedländer zum 100. Geburtstag. Ein Portrait“ im Roten Rathaus vorgestellt.
Viele Ehrungen werden ihr für ihr außerordentliches soziales Engagement als Zeitzeugin zuteil, unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande, der Verdienstorden des Landes Berlin, der Obermayer Jewish History Award, die Ehrenbürgerwürde des Landes Berlin und die Jeanette-Wolff-Medaille der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Margot Friedländer erhielt im Jahr 2021 die Jeanette-Wolff-Medaille der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Margot Friedländer erhielt im Jahr 2021 die Jeanette-Wolff-Medaille der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Margot Friedländer hat mit ihrem einnehmenden Wesen viele Freundschaften geschlossen. In einem Interview hat sie neulich einmal gesagt, dass der glücklichste Moment in ihrem bald 100 Jahre langen Leben der Moment gewesen sei, als sie sich entschlossen habe, nach Deutschland zurückzukehren.
Wir gratulieren zum 100. Geburtstag und wünschen Mazal tov, bis 120!
Berlin im November 2021, Barbara Witting, Margot Friedländer wird 100 Jahre alt!, in: jüdisches berlin (Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin), www.jg-berlin.org/beitraege/details/margot-friedlaender-wird-100-jahre-alt-i1083d-2021-11-01.html, zuletzt aufgerufen am 22.3.2022.
Im März 2022 haben sich Barbara Witting und Margot Friedländer in Berlin-Charlottenburg zum Interview verabredet.
Barbara Witting: Anlässlich deines 100. Geburtstages hast du in einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, davon gesprochen, dass du mit deiner dauerhaften Rückkehr nach Berlin im Jahr 2010 dein viertes Leben begonnen hast. Kannst du ein wenig erklären, was du meinst, wenn du von deinen „vier Leben“ sprichst?
Margot Friedländer: Das erste Leben begann, als ich in Berlin, in der Lindenstraße, geboren wurde. Zuhause, nicht im Spital. An die Lindenstraße, die heute Axel-Springer-Straße heißt, habe ich keine Erinnerungen. Das Haus steht noch – es war genau gegenüber vom heutigen Axel-Springer-Haus. Von dort sind wir ziemlich bald nach Neukölln gezogen, in die Geygerstraße. Auch dieses Haus steht noch. Auch daran habe ich nur wenige Erinnerungen. Wir haben ungefähr vier Jahre dort gewohnt, bis mein Bruder geboren wurde und wir zum Köllnischen Park gezogen sind, denn wir brauchten eine größere Wohnung.
Aus ihrer 2008 erschienenen Autobiografie „Versuche Dein Leben zu machen. Als Jüdin versteckt in Berlin“ (gemeinsam mit Malin Schwerdtfeger) hat Margot Friedländer bei Veranstaltungen und in Schulen viele Male gelesen und anschließend mit Jugendlichen darüber diskutiert. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Aus ihrer 2008 erschienenen Autobiografie „Versuche Dein Leben zu machen. Als Jüdin versteckt in Berlin“ (gemeinsam mit Malin Schwerdtfeger) hat Margot Friedländer bei Veranstaltungen und in Schulen viele Male gelesen und anschließend mit Jugendlichen darüber diskutiert. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Dann kam 1933. Die Eltern haben sich getrennt, und meine Mutti, mein Bruder und ich sind nach Charlottenburg gezogen, in die Niebuhrstraße. Die Eltern sind nach circa zwei Jahren wegen uns Kindern wieder zusammengegangen, und wir sind in eine neue große Wohnung in der Neuen Friedrichstraße gezogen. Ich kann mich daran erinnern, dass der Abendbrottisch wieder für uns alle gedeckt war. Es ging leider nicht sehr lange. Die ganze Zeit zwischen 1933 bis 1937 waren die Eltern getrennt und sind wieder zusammengegangen.
1937 haben sie sich endgültig getrennt. Es war ein Jahr vor der „Kristallnacht“. 1937, als wir aus der großen Wohnung ausgezogen sind, wollte die Mutti schon nicht mehr mit einer Wohnung anfangen. Wir sind in die Pension Mandowsky gezogen, am Ludwigkirchplatz. Die Mandowskys waren Juden, deshalb hatte die Pension nur noch jüdische Gäste. Dort habe ich den 9. November 1938 erlebt. Einige Monate später wurde die Pension geschlossen. Die Mandowskys sind nach Australien ausgewandert, und wir sind zu Oma Gross in die Neue Grünstraße gezogen. Opa war ein paar Monate vor dem 9. November gestorben. Gott sei Dank. Das war das erste Leben.
Das zweite Leben war meine Zeit in der Schneiderei an der Modezeichnen-Schule vom Kulturbund,
Dann gab es noch die Zeit im Kulturbund von 1939 bis 1941, wo ich Theater spielte und die Kostüme aus dem Fundus umschneiderte, als die Kostümschneiderin 1940 wegging. Aber dann kam ich in den Arbeitsdienst bei den DEUTA-Werken
Margot Friedländer anlässlich der Enthüllung einer Gedenk-Stele in der Fontanepromenade 15 in Berlin-Kreuzberg am 23. Mai 2013. Hier befand sich von 1938-1945 das Berliner Zwangsarbeitsamt für Juden. Alle Jüdinnen und Juden mussten sich an diesem Ort zur Zwangsarbeit registrieren. Margot Friedländer wurde 1940 zur Zwangsarbeit in einer Fabrik der DEUTA-Werke in der Oranienstraße in Kreuzberg gezwungen, wo sie Metallteile für die Rüstungsindustrie zusammenbauen und bearbeiten musste. (V.l.n.r. Dr. Christine Fischer-Defoy, Margot Friedländer, Monica Puginier) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2013)
Margot Friedländer anlässlich der Enthüllung einer Gedenk-Stele in der Fontanepromenade 15 in Berlin-Kreuzberg am 23. Mai 2013. Hier befand sich von 1938-1945 das Berliner Zwangsarbeitsamt für Juden. Alle Jüdinnen und Juden mussten sich an diesem Ort zur Zwangsarbeit registrieren. Margot Friedländer wurde 1940 zur Zwangsarbeit in einer Fabrik der DEUTA-Werke in der Oranienstraße in Kreuzberg gezwungen, wo sie Metallteile für die Rüstungsindustrie zusammenbauen und bearbeiten musste. (V.l.n.r. Dr. Christine Fischer-Defoy, Margot Friedländer, Monica Puginier) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2013)
Barbara Witting: Wann begann das dritte Leben? Als du in Theresienstadt mit deinem Mann zusammengekommen bist? Oder in Amerika?
Margot Friedländer: Das dritte Leben war definitiv in Amerika, nach der Heirat und nach der Befreiung. Denn das waren 64 Jahre.
Barbara Witting: Wie kam es, dass du dich im Alter von 88 Jahren entschieden hast, dein Leben in New York aufzugeben und endgültig in deine Heimatstadt Berlin zu ziehen?
Margot Friedländer: Ich bin nach dem Tod meines Mannes noch mehrere Jahre in Amerika geblieben, aber nach 57 Jahren zum ersten Mal aufgrund einer Einladung nach Berlin gekommen. Darüber wollte Thomas Halaczinsky einen Film machen. An meinem ersten Tag in Berlin bin ich mit ihm spazieren gegangen und habe viele alte Orte entdeckt. Es waren die Straßenschilder, die ich alle kannte. Niebuhrstraße, wo wir gewohnt haben. Die Leibnizstraße, wo Onkel Paul und Tante Martha und die Familie gewohnt haben.
An der Ecke Kurfürstendamm/Leibnizstraße habe ich zu Thomas gesagt: „Ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren worden zu sein.“ Und innerlich habe ich gedacht, „wenn ich jünger wäre, dann würde ich es mir überlegen, zurückzuziehen“. In dieser Woche bin ich mit Barbara Böhm,
Barbara Witting: Was macht dein Leben in Berlin interessant im Vergleich zu deinem Leben in New York, wo du immerhin 60 Jahre gewohnt hast? Du hast doch bestimmt auch Freunde zurücklassen müssen.
Margot Friedländer: Es gab nur einige Freunde und etwas Verwandtschaft von Seiten meines Mannes. Er hat 28 Jahre lang als Verwaltungschef im Jüdischen Kulturzentrum „92nd Street Y“
Barbara Witting: Vieles im heutigen Berlin und in Deutschland erinnert an die Zeit der Verfolgung während des Holocausts. Ist das nicht eine Belastung, immer wieder mit Fragen zu deinem Leben während des Nationalsozialismus konfrontiert zu werden?
Margot Friedländer: Nein. Diese dreizehn Jahre hier in Berlin haben mir so viel gegeben und bedeuten mir so viel. Durch das, was ich angefangen habe, was sich entwickelt hat, habe ich das Gefühl, dass ich etwas Gutes tue, und das überstrahlt mehr oder minder alles, denn, das sage ich auch immer wieder, ich habe eine Mission.
Margot Friedländer: „Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren. Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es sollte nie, nie, nie wieder passieren.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Margot Friedländer: „Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren. Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es sollte nie, nie, nie wieder passieren.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Barbara Witting: In den Jahren, in denen du wieder in Berlin lebst, widmest du dich vor allen Dingen jungen Menschen und besuchst Schulen und liest aus deinem Buch „Versuche Dein Leben zu machen“. Worin siehst du deine Aufgabe oder deine Mission, wie du es nennst?
Margot Friedländer: Die Mission ist, für die zu sprechen, die es nicht geschafft haben. Es sind nicht nur die sechs Millionen Juden. Es sind alle Menschen, die man umgebracht hat. Unschuldige Menschen, so viele Kinder. Und Menschen haben es getan. Waren es Menschen, die so etwas getan haben? Ich habe das Gefühl, dass diese Mission für mich so wichtig ist, weil das nicht wieder geschehen darf. Was gewesen ist, das können wir nicht mehr ändern. Was war, war. Ich konzentriere mich auf das Jetzt, besonders auf die jungen Menschen. Denn sie sind die Zukunft. Die sind die, auf die wir hoffen. Dass sie dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Immer wenn ich zu diesen Schülern spreche, sage ich zu ihnen: „Ihr seht so nett aus, ich kann mir nicht denken, dass einer von euch jemals so etwas tun würde.“
Sobald ich das Buch zumache, sage ich immer Folgendes zu ihnen: „Nach dem, was ihr gehört habt, werdet ihr euch vielleicht wundern, warum ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen. Euch die Hand zu reichen und euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können. Es ist für euch.“ Es sind immer dieselben Worte. Immer dieselben Sätze.
Ich sage ihnen, dass in meinen Adern das gleiche Blut fließt wie in den ihren: „Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren. Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es sollte nie, nie, nie wieder passieren.“
Barbara Witting: Bald wird es keine Zeitzeugen und Zeitzeuginnen mehr geben, die persönlich über ihre Erfahrungen berichten können. Du hast viel dazu beigetragen, dass Erinnerungen nicht verloren gehen und bist dafür von Politikern und Politikerinnen und Organisationen gewürdigt worden. Kannst du dazu einige Beispiele nennen?
Margot Friedländer: Das, was ich tue, wird anerkannt, das sehe ich an den hunderten und aberhunderten von Danksagungen, die ich bekommen habe. Man dankt mir dafür, sonst hätte ich nicht die ganzen Ehrungen bekommen. Ich werde in diesem Jahr noch einen Ehren-Doktor von der Freien Universität Berlin erhalten, und eine Schule wird nach mir benannt. Es bedeutet mir etwas, dass ich etwas bewirkt habe.
Ich bin mir zwar nicht bewusst, was ich alles gemacht habe, aber in den Kalendern der ganzen letzten Jahre sehe ich, dass ich jeden Tag beschäftigt war. Dass ich dreimal in der Woche in Schulen gelesen habe, dass ich an so viele Orte in Deutschland gereist bin. Die vielen, vielen Preise, die ich von der Regierung bekommen habe. Was mir wichtig ist, sind die Briefe von den Schülern und Schülerinnen und von den Menschen, die mich im Fernsehen gesehen oder mein Buch gelesen haben, das heute in der dreizehnten Auflage ist. Dass ich den Menschen erzähle, dass die Bernsteinkette das Einzige ist, was ich von der Mutti habe. Dass ich ihnen den Stern
Barbara Witting: Ist es nicht eine große Enttäuschung für dich, dass Hass, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus trotz vielfältiger Bemühungen wieder zunehmen und eine Partei wie die AfD Abgeordnete im Bundestag und in Landtagen hat?
Margot Friedländer: Als ich mich entschlossen habe zurückzukommen, war es für viele Jahre ruhig. Das, wovon du gesprochen hast, hat erst in den letzten fünf Jahren zugenommen. Wovon ich sehr enttäuscht und worüber ich sehr traurig bin. Weil ich nicht verstehen kann, dass Menschen nichts gelernt haben.
Barbara Witting: Bedauerst du nicht manchmal, dass du nach Deutschland zurückgekommen bist und sogar die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hast?
Margot Friedländer: Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich diesen Schritt getan habe. Nicht eine Sekunde bereue ich es. Mein Hiersein ist auch gut für Deutschland. Die Menschen sind dankbar dafür.
Barbara Witting: Viele Jüdinnen und Juden verlassen Deutschland und gehen nach Israel. Andererseits kommen viele Israelis nach Berlin. Müssen wir Juden uns damit abfinden, dass wir, egal wo wir leben, mit Ausgrenzung und Anfeindungen leben müssen?
Margot Friedländer: Darüber denke ich nicht nach. Deutschland ist meine Heimat. Hier bin ich zu Hause. Die USA war niemals Heimat für mich. Ich habe jedes Recht, hier zu sein! Denn ich bin hier geboren, meine Eltern sind Deutsche. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, einen Bruder verloren und wurde sehr hoch ausgezeichnet. Du warst ja bei der Verleihung dabei, als ich die deutsche Staatsbürgerschaft wiederbekommen habe. Ich bedanke mich nicht dafür, denn ich habe nur zurückbekommen, was man mir weggenommen hat.
Zitierweise: „Margot Friedländer: „Ich spreche für die, die nicht mehr sprechen können.““, Interview mit Margot Friedländer, in: Deutschland Archiv, (Datum), 1.4.2022, Link: www.bpb.de/506886