Warum scheiterte es, eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur in Europa aufzubauen, nachdem die Mauer und die Sowjetunion zerfielen? Eine Analyse des Historikers Bernd Greiner, der insbesondere die 1990er-Jahre als ein "sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt" voller Versäumnisse und Fehleinschätzungen betrachtet. Nun betreibe Putin ein "Spiel mit der Angst", das er freilich nicht erfunden habe, "sondern auf unverantwortliche Weise in Erinnerung gerufen" hat.
Ein über Monate vorbereiteter Überfall auf die Ukraine, nie dagewesene Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor, vorsätzlicher Terror gegen zivile Ziele und andere Kriegsverbrechen der russischen Armee, Drohungen aus dem Kreml mit atomaren Vernichtungswaffen obendrein. Und dann, seit dem 7. Oktober 2023, auch noch die heftigen Kämpfe in Nahost. Die Welt ist seit Ende Februar 2022 aus den Fugen.
Und die Versuchung, einander zu dämonisieren, liegt nahe, allen voran seit 2022 Wladimir Putin. Dass einzelne Machthaber, übelmeinende Autokraten zumal, buchstäblich über Nacht alles auf den Kopf stellen können, wer wollte es angesichts der Kriegsbilder aus Mariupol, Lwiw oder Charkiw bestreiten?
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Andererseits führt die Fixierung auf das Böse, die um sich selbst kreisende Wut über einen Wüterich, kein Jota weiter. Sie erklärt nichts, im Gegenteil. Auf die Spitze getrieben, kann daraus sogar ein Alibi für die Vernachlässigung historischen Denkens und Abwägens werden – für die Abneigung also, nach Hintergründen und Ursachen zu fragen und dabei auch vor dem eigenen Anteil am Geschehen nicht halt zu machen.
„The Past is But Prologue“, steht in Stein gemeißelt über dem Eingang des ehemaligen Hauptsitzes der „National Archives“ in Washington, D.C. „Die Vergangenheit ist nur Prolog“ – in diesem Sinne sollte die entscheidende Frage an unsere Gegenwart lauten: Was lief schief seit 1989, seit den Tagen, als man für kurze Zeit von einem Zeitalter der Stabilität und des Friedens träumen durfte?
1989 - Als alles möglich schien
Nach dem Fall der Berliner Mauer schien fast alles möglich, von höchster Stelle in Ost und West wurden alte Versprechen erneuert und ehedem Unvorstellbares in Aussicht gestellt: das Ende des Kalten Krieges, ein „Gemeinsames Haus Europa“, Gewaltverzicht im Falle internationaler Konflikte und Unverletzlichkeit von Grenzen, eine „Friedensdividende“ und damit die Möglichkeit, nach einem Abspecken der Rüstungsetats freiwerdende Gelder in Bildung, Soziales und Umweltschutz zu investieren.
Die in Moskau angestimmte „Sinatra-Doktrin“ nicht zu vergessen, der zufolge die ehemals an die UdSSR gebundenen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas fortan das Recht hätten, nach eigener Fasson glücklich zu werden: „Do it your way.“
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Von Vertrauensbildung war nicht nur viel die Rede, sie schien gar zum Maßstab internationaler Politik zu werden.
Nur so ist zu erklären, dass die sowjetische Führung eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands akzeptierte und sich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ausdrücklich hinter den amerikanischen Militäreinsatz zur Befreiung Kuwaits von irakischer Besatzung stellte. Hochtrabende Etiketten wie „Neue Weltordnung“ oder „Triumph des Rechts über die Gesetze des Dschungels“ hin oder her, die Tür zu einer entspannteren Zukunft stand zweifellos offen.
Übersehenes, dünnes Eis
Andererseits bewegte man sich auf dünnem Eis. Dass eine Weltmacht wie die UdSSR sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden würde, war im Licht jahrhundertelanger Erfahrungen mit dem Niedergang von Imperien eigentlich nicht zu erwarten. Fast ausnahmslos war deren Abschied von ehemaliger Größe ein zäher, über Generationen sich hinziehender Prozess voller Rückschläge, immer wieder unterbrochen von der Illusion, das Verlorene in einem letzten Kraftakt doch noch wiedergewinnen zu können, zur Not mit Gewalt.
Für das 20. Jahrhundert hält die deutsche, britische oder französische Geschichte entsprechende Beispiele parat. Warum derlei Abwehrreflexe im Russland der 1990er-Jahre ausblieben, verwunderte auf den ersten Blick. Und doch gab es schon damals hinreichende Gründe, nicht vorschnell von einem historischen Sonderweg auszugehen.
Im ersten Jahrzehnt der neuen russischen Zeitrechnung drängte zunächst anderes in den Vordergrund, vorweg die Schockwellen beim Übergang von einer bis ins Kleinste orchestrierten Staatswirtschaft zum ungeregelten Markt privatisierter Unternehmen. Das Land stürzte in eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise, ächzte unter einer Hyperinflation und konnte seine Schulden kaum noch bedienen.
Emanzipation versus Machterhalt
Sodann mussten tragfähige Beziehungen zu den 14 ehemaligen Sowjetrepubliken aufgebaut werden, die seit 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten: die Ukraine, Belarus, Moldawien, Estland, Lettland, Litauen, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan.
Dass deren emanzipatorisches Beispiel Schule machen, also die gerade gegründete Russische Föderation von ihren Rändern her ins Wanken bringen könnte, schien durchaus möglich und war der ausschlaggebende Grund für Moskaus ersten Krieg gegen Tschetschenien in den Jahren 1994 bis 1996.
In einem Satz: Boris Jelzin, der damals starke Mann, hatte alle Hände voll mit dem eigenen Machterhalt zu tun. Sein Kampf ums politische Überleben ließ selbst härteste Kritiker wie Maulhelden aussehen.
Konfrontiert mit einer tristen Gegenwart, musste sich jeder verheben, der nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhing oder gar von einer Wiederbelebung glorreicher Zeiten träumte.
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Nicht zuletzt deshalb verpuffte in den USA das Nachdenken über eine außen- und sicherheitspolitische Schubumkehr. Warum, so der selbstgefällige Tenor, sollte man in der Stunde des Sieges im Kalten Krieg einen neuen Kurs einschlagen? Wäre es nicht klüger, das geschwächte Russland weiterhin unter Spannung zu halten und damit in eine Washington genehme Richtung zu drängen?
Gerade der damalige US-Präsident zeigte sich empfänglich für dergleichen Einflüsterungen. Im Überschwang des Triumphs über den Erzrivalen hauchte George H. W. Bush der alten Idee von Amerika als der unverzichtbaren, zur Führung der Welt bestimmten Nation neues Leben ein:
„Ich habe den Eindruck, dass die sowjetische Gefahr möglicherweise größer ist als früher, da sie vielgestaltiger geworden ist. […] Wir haben gesiegt und sie nicht. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets ihre Niederlage in einen Sieg verwandeln. […] Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen uns dabei clever anstellen.“
Sich clever anstellen, galt insbesondere für das brisanteste Thema in den frühen 1990er-Jahren: die Osterweiterung der NATO. Zwar ging die Regierung Gorbatschow – gestützt auf Andeutungen und informelle Zusagen westlicher Gesprächspartner – davon aus, dass es eine Ausdehnung der westlichen Militärallianz in Richtung Osteuropa nicht geben würde, weder kurzfristig noch auf lange Sicht. Doch diese Momentaufnahme aus den Jahren 1989 und 1990 war ein Muster ohne Wert:
Erstens konnte zu diesem Zeitpunkt niemand eine baldige Auflösung des Warschauer Paktes und damit die Wahrscheinlichkeit eines Seitenwechsels sowjetischer „Bruderstaaten“ voraussehen.
Und zweitens waren die von der Bundesrepublik gemachten Versprechen nichts weiter als Gesten – Bekundungen guten Willens, vorgetragen von Diplomaten und Politikern, die innerhalb der NATO noch nie den Ton angegeben hatten und die sich aus Rücksicht auf eine reibungslose Vereinigung Deutschlands keine Reibereien mit den USA leisten durften oder wollten. Genau das war der Haken.
Über den tatsächlichen Fahrplan wurde wie eh und je in Washington entschieden. Und dort schälte sich bereits im Herbst 1991 eine im Ton konziliante, aber in der Sache unnachgiebige Linie heraus. Im Grunde ging es nicht mehr um das Ob, sondern allein um das Wann und Wie einer Machtprojektion gen Osten. Dies umso mehr, als angesichts des Siechtums der Sowjetunion außer verbalen Mäkeleien keine weitere Gegenwehr zu erwarten war.
NATO-Osterweiterung - Anfänglich lief alles wie gewünscht
Anfänglich lief alles wie gewünscht. Aus dem mit sich selbst überbeschäftigten Russland kam allenfalls leises Grummeln, als 1997 die Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien in die NATO beschlossen und kurz darauf realisiert wurde.
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Auch gegen die fünf Jahre später vollzogene Mitgliedschaft von Estland, Lettland und Litauen, von Bulgarien und Rumänien, Slowenien und der Slowakei gab es keine nennenswerten Einwände. Wohl deshalb nicht, weil zeitgleich auf russische Sicherheitsinteressen Rücksicht genommen wurde – mit der Einrichtung des „NATO-Russland-Rates“, einem Gremium zur Verstetigung des diplomatischen und militärischen Austauschs, sodann durch ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union, nicht zuletzt mit der Aufnahme Russlands in die Gruppe der wichtigsten Industrienationen.
In dieser Zeit setzte Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation seit 2000, noch auf eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Westen. Anders jedenfalls ist nicht zu verstehen, dass er nach „9/11“ den USA Hilfe beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus anbot.
Oder dass er, ebenfalls im Jahr 2001, in einer vielbeachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag den Kalten Krieg zum Signum einer endgültig überwundenen Epoche erklärte. Der parteiübergreifende Applaus war ihm sicher, erinnerten seine vorgetragenen Worte doch in vielem an den ehemaligen Hoffnungsträger Michail Gorbatschow.
Kann Sicherheit nur auf Militär basieren?
Dennoch warnten amerikanische Beobachter vor dem allzu selbstgewissen Kurs ihrer Regierung, allen voran George F. Kennan, der legendäre Stichwortgeber für Washingtons Eindämmungsstrategie gegenüber Stalin:
„Eine Ausweitung der NATO“, so Kennan in einem Anfang Februar 1997 in der „New York Times“ veröffentlichten Aufsatz, „wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“
Das Schutzbedürfnis Osteuropas und des Baltikums hatte Kennan sehr wohl im Blick, er verteidigte es ohne Wenn und Aber. Nur mit einem wollte er sich nicht abfinden – mit dem vom Weißen Haus vertretenen Grundsatz, dass Sicherheit in erster Linie mit militärischen Mitteln, durch Rüstung und Waffenbrüderschaft, hergestellt werden kann und muss. Und dass andere Optionen, von der Entmilitarisierung bis zur Neutralität neuralgischer Regionen, erst gar nicht in Erwägung gezogen wurden:
„Warum sollten die Beziehungen zwischen Ost und West um die Frage kreisen, wer mit wem verbündet ist und, zumindest indirekt, wer an wessen Seite steht im Falle eines abwegigen, ganz und gar nicht absehbaren und äußerst unwahrscheinlichen militärischen Konflikts?“
Mit seiner Steilvorlage für Ewiggestrige und „Hardliner“ im Kreml, so Kennan, beförderte Washington genau das, was nach Kräften hätte vermieden werden müssen – eine Aufwertung „der nationalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in Russland. […] In Russland ist man wenig beeindruckt von den Beteuerungen, dass Amerika keine feindlichen Absichten hegt. […] Man wird von einer Zurückweisung durch den Westen ausgehen und sich vermutlich nach anderen Mitteln und Möglichkeiten für eine sichere Zukunft umsehen.“
Europas fehlender Hausbau
Man kann diesen Text nicht oft genug zitieren. Klarer als die meisten Kommentatoren seiner Zeit hatte Kennan erkannt, wie unausgegoren die damals viel bemühten Ideen für eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur in Europa waren. Welche Abmessung sollte das Grundstück für ein „gemeinsames Haus Europa“ haben? Von der Nordsee bis Wladiwostok? Oder vom Atlantik bis zum Ural? Wer schrieb die Hausordnung, wer würde mit ihrer Durchsetzung betraut? Wem gebührte die Beletage? Oder würde es dieses Privileg gar nicht mehr geben?
Mit der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE), im Jahr 1994 aus der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) hervorgegangen, hätte man die ersten Schritte gehen können – theoretisch jedenfalls. In der Praxis blieb diese Möglichkeit ungenutzt.
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Die OSZE hatte nämlich einen mächtigen Vorgesetzten, der zäh an seinen Vorrechten festhielt – die NATO und damit deren Taktgeber USA. Daran scheiterte ein ernsthaftes Nachdenken über neue Wege, bevor es überhaupt Fahrt hatte aufnehmen können. Und deshalb waren die 1990er-Jahre ein sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt.
Dass es auf dieser abschüssigen Bahn kaum noch ein Halten gab, ging auf das Konto einer Gruppe von Ideologen, die nach der äußerst umstrittenen Wahl von George W. Bush im November 2000 in Washington an die Macht kamen. Von einem „neuen amerikanischen Jahrhundert“ träumten Dick Cheney, Donald Rumsfeld, John Bolton, Paul Wolfowitz und Richard Perle im Verein mit einer Gruppe nicht minder hochtönender Intellektueller, die im Ausheben ideologischer Schützengräben ihre vornehmste Bestimmung sahen. Eine unipolare, von den Vereinigten Staaten dominierte Weltordnung war ihr erklärtes Ziel, bis zum Bersten gefüllte Waffenkammern das Mittel der Wahl – alles garniert mit dem Hinweis, dass sich furchterregende Stärke politisch nur auszahlt, wenn Rivalen, Gegner und Feinde nicht sicher sein können, wann, wo und warum sie zum Einsatz kommt.
Fatales Ende der Rüstungskontrolle
Brisant wurde das in den USA damals umlaufende Gerede von einer „konstruktiven Destabilisierung“ aber erst, als die Regierung Bush Jr. die Axt an das Kernstück einer drei Jahrzehnte gepflegten Rüstungskontrollpolitik legte und 2001 den ABM-Vertrag, mithin das Verbot antiballistischer Raketenabwehr, aufkündigte.
Nachdem 2007 zudem Pläne für eine Stationierung amerikanischer Abfangsysteme in Osteuropa durchgesickert waren, konterte Moskau mit einem altbekannten Vorwurf: Weil die USA an der eigenen Unverwundbarkeit werkeln, glauben sie vermutlich auch an die Möglichkeit eines zu ihren Gunsten führbaren Atomkrieges. Just in dieser ohnehin angespannten Situation preschte Washington ein weiteres Mal vor und stellte im April 2008 Georgien und der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht.
Was trieb die amerikanische Regierung zu diesem Schritt? Glaubte man, dass einem zur Regionalmacht geschrumpften Russland nichts anderes übrigbleiben würde, als die Kröte zu schlucken? Oder wollte man demonstrieren, dass die USA an Orten und zu Zeiten ihrer Wahl Militärallianzen schmieden können? Ging man damit der eigenen Selbstüberschätzung auf den Leim? Egal, wie die Antworten ausfallen, ein närrischer Fehlgriff war die Offerte in jedem Fall.
Die "Ursünde" NATO-Mitgliedschaftsversprechen
Mit Wolfgang Ischinger, dem langjährigen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, könnte man auch von einer Ursünde sprechen. Warum? Weil Georgien und die Ukraine damit in eine unmögliche Situation gebracht wurden. Wie sollten sich beide Länder denn schützen, wenn Moskau präventiv Fakten schaffen und der NATO mit eigenen Panzern zuvorkommen würde?
Dass ein derartiges Szenario in der Luft lag, hätte bereits ein flüchtiger Blick auf die Landkarte zeigen können. In grenznahen Bereichen wie den fraglichen liegt die Eskalationsdominanz eindeutig auf russischer Seite – ein wohlfeiler, wenn nicht ausschlaggebender Anreiz für den Kreml, westlichem Einfluss vorbeugend die Stirn zu bieten.
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Die schleichende Vergiftung der Ost-West-Beziehungen hatte damit ein neues Stadium erreicht. Und wie es scheint, machte sich Wladimir Putin eine Maxime Nikita Chruschtschows aus den finstersten Tagen des Kalten Krieges zu eigen: Man muss dem Widerpart die langen Arme stutzen oder dessen eigene Medizin verabreichen, zur Not in Überdosis.
Oder: Je schlechter der Ruf, desto besser die Karten beim Pokern um geopolitische Einflusssphären. „Man darf sich nicht scheuen, andere zur Weißglut zu treiben“, so Chruschtschow in den frühen 1960er-Jahren. „Andernfalls werden wir es nie zu etwas bringen. […] Wer schwache Nerven hat, wird an die Wand gedrückt.“
Nach Außen der Anspruch als Großmacht gefürchtet zu werden. Nach Innen die Furcht vor einer selbstbewussten Zivilgesellschaft
Dass es eine Illusion war und ist, mit den USA gleichziehen zu wollen, tut dabei nichts zur Sache. Ausschlaggebend war und ist etwas anderes: der Anspruch, wie eine Großmacht auftrumpfen zu können. Und als solche mal respektiert, mal gefürchtet zu werden.
In Putins Fall schlägt nicht zuletzt das Wissen um die eigene Schwäche und Verwundbarkeit durch. Spätestens seit dem Erwachen einer selbstbewussten Zivilgesellschaft während des ukrainischen Maidan im November 2013 fürchtet der Kreml offenbar einen unkontrollierbaren Dominoeffekt. Die Möglichkeit, vielleicht sogar die Wahrscheinlichkeit also, dass dieser politische Virus sich ausbreiten und Staaten wie Moldawien, Armenien oder Aserbaidschan befallen, mithin die komplette Südflanke Russlands aufweichen könnte. Womit der NATO ein weiteres Einfallstor offen stünde.
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Im Kern geht es somit um zerborstene Selbstbilder, um Unsicherheitsempfinden und Ängste vor Machtverlust – wenn man so will, um Phantomschmerzen im Gefolge eines unwiederbringlich verlorenen Imperiums.
Aus dieser Perspektive sind die aus dem Urschlamm russischer Geschichte geschürften Begründungen, die Putin für seinen Krieg gegen die Ukraine zum Besten gibt, nichts weiter als Geschwurbel – das Beschwören einer „russischen Welt“, der vermeintlich innigen Verwandtschaft zwischen „Weißrussen“, „Kleinrussen“ und „Großrussen“ oder der „zivilisatorischen Mission“ Moskaus in Zeiten um sich greifender Dekadenz.
Wer dergleichen für bare Münze nimmt, sitzt einem billigen Ablenkungsmanöver auf. Denn Putin simuliert Stärke, um seine Schwächen zu kaschieren. Die Not eines Regimes nämlich, das auf permanente Vorwärtsverteidigung setzt, weil die gewohnten Pufferzonen entlang der West- und Südgrenzen, landläufig „Cordon sanitaire“ genannt, weggefallen sind. Und weil es auch in drei Jahrzehnten nicht gelungen ist, die Webfehler eines dysfunktionalen Wirtschaftssystems zu korrigieren.
Sei es, wie es sei, die zentrale Frage ist ohnehin eine andere: Gab es unter den gegebenen Bedingungen überhaupt eine realistische Chance, den Krieg abzuwenden? Darüber kann man endlos streiten und noch trefflicher spekulieren. Behauptungen, dass Putin seit Jahren nie etwas anderes im Schilde führte, sind und bleiben nichts weiter als Behauptungen. Sie können im Brustton der Überzeugung und mit allerlei Indizien vorgetragen werden. Aber aus dem Kaffeesatz herausgelesene Thesen sind nun mal keine Beweise.
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Tatsache hingegen ist, dass der Versuch, Sicherheit mittels der fortgesetzten Ausdehnung des westlichen Militärbündnisses zu schaffen, krachend gescheitert ist. Tatsache ist auch, dass alle Kontrahenten jetzt buchstäblich vor den Trümmern ihrer Politik stehen. Der eine, weil er sich blindlings in eine Sackgasse manövriert hat, die anderen, weil sie mit Putin in dieser Sackgasse feststecken.
Und Tatsache ist nicht zuletzt, dass wieder einmal die teuflische Kehrseite militärischer Abschreckungspolitik zu Tage tritt – das aus dem Kalten Krieg sattsam bekannte, in Ost wie West präsente Kalkül, wonach am besten abschreckt, wer die stärkeren Nerven mitbringt und gegebenenfalls Unberechenbarkeit vortäuscht. Aktuell betreibt Putin dieses Spiel mit der Angst. Er hat es freilich nicht erfunden, sondern auf unverantwortliche Weise in Erinnerung gerufen.
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In anderen Worten: Solange einer auf das Militärische fixierten Sicherheitspolitik das Wort geredet wird, solange wird Europa nicht zur Ruhe kommen.
Zweifellos ist ein Nachdenken über Alternativen im Schatten eines Krieges ebenso schwierig wie unpopulär. Doch wohin führt die brusttrommelnde Forderung nach einer neuen Politik der Stärke, die Unterstellung, dass der Westen träge und nachlässig geworden ist, dass Konflikte die Regel in internationalen Beziehungen sind und die Bereitschaft zur Konfrontation wieder gelernt werden muss?
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Eine Antwort drängt sich aus der Geschichte des Kalten Krieges auf. Dass nämlich die scharfe Trennung eines fiktiven „Wir“ von einem dämonisierten „Die“ oder die Aufteilung der Welt in antagonistische Lager – Demokratie hier, Autokratie dort – schnurstracks auf eine selbstverschuldete Lähmung hinausläuft. Genauer gesagt auf eine Verdrängung des Arguments durch Rechthaberei, einschließlich des Verlusts von Selbstreflexivität und Selbstkritik.
An diesem Defizit setzte einst die Entspannungspolitik an. Ihre Protagonisten waren mit Blick auf Moskau oder Peking alles andere als geschichtsvergessen oder naiv. Vielmehr verloren sie zweierlei nie aus den Augen: Dass in Zeiten nuklearer Vernichtungswaffen jeder Krieg, ob konventionell oder atomar, nicht die „ultima ratio“, sondern die „ultima irratio“ ist.
Und dass man sich angesichts existenzieller Herausforderungen – damals ging es in erster Linie um Rohstoffverknappung und Umweltschutz – von den leidigen Regeln des Nullsummenspiels verabschieden muss, denen zufolge die eigene Seite nur gewinnt, was die andere verliert.
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Anders gesagt: Sicherheit kann nicht länger gegeneinander, sondern nur noch miteinander erreicht werden. In Zeiten des Krieges entwertet, benennt dieser Satz den Goldstandard umsichtiger Diplomatie im Nachkrieg.
Zitierweise: Bernd Greiner, "Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges?", in: Deutschland Archiv, 1.4.2022, geringfügig ergänzt am 17.11.2023. www.bpb.de/506884. (hk)
Prof. Dr. Bernd Greiner ist Historiker, Amerikanist und Politologe; Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg und dem Hamburger Institut für Sozialforschung, langjähriger Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg (www.berlinerkolleg.com). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewalt, zur US-amerikanischen Geschichte und zu internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Darunter: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans (1995); A. World at Total War (hg. zusammen mit Roger Chickering und Stig Förster, 2003); Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam (2007); Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg (2010); 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen (2011) sowie seit 2006 Herausgeber (zusammen mit Christian Th. Müller, Tim B. Müller, Dierk Walter und Claudia Weber) einer sechsbändigen Reihe "Studien zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges". Derzeit konzipiert Greiner für die bpb ein aktualisiertes Dossier über den Kalten Krieg.
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