Die chinesische Propaganda behauptete bis Ende des Jahres 1989 stetig, dass der Kapitalismus und die angeblich von den USA gesteuerten „Konterrevolutionäre“ (Peking meinte damit die friedlich demonstrierenden DDR-Bürgerinnen und -Bürger in Dresden, Leipzig und Berlin) dem Sozialismus unterlegen sein würden. So oder so war dies aus der Sicht Pekings entweder auf friedliche Art und Weise zu erreichen oder mithilfe einer „chinesischen Lösung“, wie Peking es der DDR im Juni des gleichen Jahres auf dem Tiananmen-Platz so „eindrucksvoll“ militärisch vorgemacht hatte. „Ausländische feindliche Kräfte“, entschieden die Machthaber in Peking seinerzeit, hätten sich zusammengetan, um den Sozialismus in Ostberlin zu stürzen. Als dann die DDR kollabierte, trotz anfänglicher Drohungen keine Waffen gegen die Demonstrierenden eingesetzt wurden und Erich Honecker abdanken musste, wandelten sich die Sprachregelungen in China. Am Ende sprach sich Peking sogar für eine deutsche Vereinigung aus und für das Recht des deutschen Volkes, souverän und ohne Einfluss von außen über sein eigenes Schicksal zu entscheiden. Das hörte sich gut an, war aber Zweckpropaganda und schlichtweg gelogen, wie dieser Beitrag zeigt.
Erst Feierlaune, dann Katerstimmung
Die Regime in Ostberlin und Peking machten in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 gute Miene zum bösen Spiel und feierten sich Ende 1989 gegenseitig. Zunächst hatte die SED-Führung die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. und 5. Juni nicht verurteilt, sondern gerechtfertigt. Die staatlich kontrollierte
Fernsehnachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ meldete, dass eine „extreme Minderheit“ für den „konterrevolutionären“ Aufstand verantwortlich gewesen sei, und das SED-Politbüro stimmte am nächsten Morgen mangels eigener Informationen der Veröffentlichung der „offiziellen Materialien der Volksrepublik China zur Niederschlagung des konterrevolutionären Aufstandes“ zu.
Eine Fotoausstellung "China heute" wurde im Ausstellungszentrum am Fernsehturm eröffnet. Die von der chinesischen Nachrichtenagentur Hsinhua veranstaltete Schau ist dem 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China gewidmet. Rund 150 großformatige Fotos, überwiegend Farbaufnahmen, geben manigfaltige Einblicke in die Gegenwart des sozialistischen Landes, 20. September 1989. (© Bundesarchiv Bild 183-1989-0920-025)
Eine Fotoausstellung "China heute" wurde im Ausstellungszentrum am Fernsehturm eröffnet. Die von der chinesischen Nachrichtenagentur Hsinhua veranstaltete Schau ist dem 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China gewidmet. Rund 150 großformatige Fotos, überwiegend Farbaufnahmen, geben manigfaltige Einblicke in die Gegenwart des sozialistischen Landes, 20. September 1989. (© Bundesarchiv Bild 183-1989-0920-025)
Sowohl China als auch die DDR feierten im Jahre 1989 ihr 40-jähriges Staatsjubiläum. China tat das am 1. Oktober, und weil nach dem Tiananmen-Massaker die Liste potenzieller Ehrengäste in Peking eher kurz ausfiel, wurde der DDR diese (zweifelhafte) Ehre zuteil. Die SED-Politbüromitglieder Egon Krenz und Wolfgang Rauchfuβ führten die nach China reisende DDR-Delegation an.
Egon Krenz versicherte Qiao Shi, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros der KP Chinas, im Rahmen eines Gesprächs am 25. September, dass die Lage in der DDR „stabil und durch ökonomische Dynamik und die breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie charakterisiert“ sei.
Die chinesische Delegation, die Ostberlin am 7. Oktober 1989 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der DDR besuchte, gab sich zuversichtlich, dass sowohl die Regime in Peking als auch in Ostberlin dem Druck von außen trotzen, den „sozialistischen Weg“ fortschreiten und sich keine Reformen aufzwingen lassen würden. Das zumindest beschied Chinas Vize-Premierminister und Vertreter des Ständigen Ausschusses des Politbüros, Yao Yilin, während des Besuchs in Ostberlin.
(Späte) Ankunft in der Realität
Bevor sich China wenige Wochen später als bedingungslosen Unterstützer des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes präsentierte, zeigte Pekings Führung Anfang November noch einmal ihr wahres Gesicht. Deng Xiaoping warf der SED und den kommunistischen Parteien Ungarns und Polens vor, von der vermeintlich „korrekten“ Version des Marxismus-Leninismus abgewichen zu sein.
Der Generalsekretär des ZK der KP Chinas, Jiang Zemin (l.), begrüßte in Peking herzlich Egon Krenz, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates, vor ihrem offiziellen Gespräch, (© Bundesarchiv Bild 183-1989-0926-24)
Der Generalsekretär des ZK der KP Chinas, Jiang Zemin (l.), begrüßte in Peking herzlich Egon Krenz, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates, vor ihrem offiziellen Gespräch, (© Bundesarchiv Bild 183-1989-0926-24)
Eine Woche nach dem Fall der Berliner Mauer versprach derselbe Li Peng, gerade auf Staatsbesuch in Pakistan, dass China auch weiterhin an dem, was China das „Prinzip der Nichteinmischung“ in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten nannte (und heute weiterhin nennt), festhalten werde. Das sollte wohl seinerzeit bedeuten, dass China den Kollaps der DDR und den Verlauf der innerdeutschen Beziehungen als eine innere Angelegenheit des deutschen Volkes akzeptierte. Das wirft im Rückblick die Frage auf, was Peking gemacht hätte, wenn es stattdessen den Fall der Mauer und den Kollaps der DDR als einen feindlichen Akt gegen einen sozialistischen Bruderstaat interpretiert hätte? Hätte in diesem Fall Peking der DDR aktive Hilfe bei der Anwendung der von Deng Xiaoping vorgeschlagenen „chinesischen Lösung“ angeboten? Wohl kaum.
Blick auf ein Anti-Krenz-Transparent mit der Aufschrift "Gestern China und die Wahl - heute Retter der Moral - Egon, hilf der Republik - sei ein Mann und tritt zurück". 500.000 Menschen demonstrieren am 6. November 1989 in Leipzig erneut für politische Reformen, freie Wahlen und die Demokratiebewegung "Neues Forum". (© picture-alliance/dpa)
Blick auf ein Anti-Krenz-Transparent mit der Aufschrift "Gestern China und die Wahl - heute Retter der Moral - Egon, hilf der Republik - sei ein Mann und tritt zurück". 500.000 Menschen demonstrieren am 6. November 1989 in Leipzig erneut für politische Reformen, freie Wahlen und die Demokratiebewegung "Neues Forum". (© picture-alliance/dpa)
In offiziellen Erklärungen nach dem Kollaps der DDR versicherte Peking, jederzeit den „freien Willen“ der Deutschen respektiert zu haben und ihn auch in Zukunft zu respektieren. Das jedoch entsprach in keinster Weise den Tatsachen und konnte kaum zynischer klingen. Denn Deng Xiaoping hatte sich, wie oben erwähnt, Ende des Jahres 1989 und nach Beginn der Demonstrationen in ostdeutschen Städten bei der DDR-Führung darüber beschwert, dass die Regierung auf die „chinesische Lösung“ zur Beseitigung des „Problems“ verzichtet hatte. Inwiefern Peking den freien Willen des eigenen Volkes im gleichen Jahr zu respektieren bereit gewesen war, hatte es da bereits unter Beweis gestellt: gar nicht.
Peking versuchte nun – allerdings auf sehr amateurhafte Weise – politisches Kapital aus der deutschen Wiedervereinigung zu schlagen. In chinesischen Regierungskreisen wurden damals wie heute der Fall der Mauer und die deutsche Einheit mit der in China angestrebten Wiedervereinigung mit der aus Chinas Sicht „abtrünnigen chinesischen Provinz Taiwan“ verglichen.
Zu spät und falsch
In Pekings Staatspresse waren wegen der Zeitverschiebung erst am 11. November Berichte über die Öffnung der innerdeutschen Grenze zu lesen. Und sie waren auch noch falsch. Die Öffnung der Berliner und der innerdeutschen Grenzübergänge sei eine von der DDR-Führung getroffene souveräne Entscheidung ohne jeglichen Druck von außen gewesen, berichtete die People’s Daily am 11. November 1989.
Knapp einen Monat später, im Dezember 1989, wurde die gleiche Zeitung offensichtlich instruiert, negativ über die Aussichten einer deutschen Vereinigung zu berichten. In einem Artikel am 14. Dezember war zu lesen, dass der „Zehn-Punkte-Plan“ von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) zur deutschen Wiedervereinigung zu „Chaos“ führen würde. Kohls Plan, schlussfolgerte die Zeitung, „bedroht die Existenz eines souveränen sozialistischen Deutschlands und macht die DDR zu einem ‚Annex‘ von Westdeutschland“.
Ein Artikel der Zeitung Guangming Ribao vom 6. November
Schadensbegrenzung
Aus Chinas Sicht war es durchaus verständlich, den Kollaps des Regimes in Ostberlin um jeden Preis als für Pekings Machthaber nicht relevant und bedrohlich darzustellen. In den Monaten davor hatten die chinesischen Machthaber eine sehr umfassende und landesweite „Umerziehungskampagne“ für Parteikader in die Wege geleitet, um sicherzustellen, dass die Partei und deren „Parteisoldaten“ auch in Zukunft mit aller Härte und Brutalität gegen jegliche Form von politischer und ideologischer Opposition vorgehen werden.
Peking verfing sich weiter in einer parallelen Realität, als es behauptete, der Kollaps der DDR würde nicht zur Schwächung des globalen Sozialismus, sondern – ganz im Gegenteil – zu dessen Stärkung führen. Wie es zu diesem Schluss kam, ist ein Rätsel – Peking jedenfalls erläuterte das seinerzeit nicht weiter. Als selbst die chinesische Führung einsehen musste, dass das Regime in Ostberlin implodierte und das Ende der DDR nur noch eine Frage der Zeit war, proklamierte die Führung des Landes, dass der in der DDR gescheiterte Sozialismus nicht der gleiche wie der in China praktizierte sei. Im Wesentlichen sei es die von Deng Xiaoping ausgerufene Version des „Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“, die sich bis heute (aus chinesischer Sicht) allen anderen Versionen von Sozialismus als überlegen herausgestellt habe.
Ende gut, alles (fast) gut
Im Februar 1990 zeigte sich Peking überraschend die deutsche Einheit mit ganzem Herzen befürwortend. Chinas Staatsmedien wurden offensichtlich instruiert, die chinesische Europapolitik des Kalten Krieges im allgemeinen und Pekings Bewertung von Willy Brandts (SPD) Ostpolitik im Besonderen den neuen Gegebenheiten anzupassen. Chinas Presse behauptete fortan, dass China seinerzeit und jederzeit schon Brandts Ostpolitik gutgeheißen und unterstützt habe. Das allerdings entsprach in keinster Weise den Tatsachen. China unter Mao Zedong hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass Brandts Ostpolitik aus seiner Sicht eine von Bonn und Moskau geplante und gegen China gerichtete Verschwörung sei. Auch wenn das keinen Sinn ergab beziehungsweise unglaubwürdiger nicht klingen konnte, hatte Mao behauptet, dass die Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion im Rahmen der Ostpolitik darauf ausgerichtet war, „die DDR den westlichen Imperialisten zu überlassen”.
Peking versuchte anfangs, zu den Gesprächen zur deutschen Wiedervereinigung eingeladen zu werden – wenig überraschend ohne jeglichen Erfolg.
China jedoch gab während der Verhandlungen über die deutsche Einheit nichtsdestotrotz und unaufgefordert von der Seitenlinie seine Meinung zum Besten, was ein wiedervereinigtes Deutschland aus seiner Sicht unterlassen sollte: die Unterstützung für „Separatisten“. Damit waren und sind nach Chinas Lesart seinerzeit (und heute) in erster Linie Tibet und Taiwan gemeint. Anfang des Jahres 1990 behauptete Peking noch mehrmals, jederzeit für eine deutsche Wiedervereinigung gewesen zu sein. Dass das nicht den Tatsachen entsprach, sollte sich als irrelevant herausstellen, nicht zuletzt deswegen, weil sich kaum jemand innerhalb der internationalen Gemeinschaft für die Ansichten des damals international geächteten und isolierten Chinas in dieser Frage interessierte.
Zitierweise: Axel Berkofsky, "Durchhalteparolen und Falschinformationen aus Peking - Zum Kollaps der DDR und der Deutschen Einheit“, in: Deutschland Archiv, 30.03.2022, Link: www.bpb.de/506840