Wie wir Schulen für die ukrainischen Flüchtlinge öffnen können. Am Beispiel Berlin. Ein Appell von Eva Corino.
Im September 2020 erschien ein schmales, aber extrem lehrreiches Buch mit dem Titel „Das Integrationsexperiment“. In diesem Buch zog Anand Agarwala, Bildungsjournalist der ZEIT, fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 Bilanz, inwieweit die schulische Integration von Geflüchteten in Deutschland gelungen ist.
Vor anderthalb Jahren wurde das Buch jedoch kaum wahrgenommen. Zu sehr stand sein Erscheinen im Schatten der Corona-Krise, man interessierte sich für Masken, Digitalisierung und Lerndefizite.
Doch das könnte sich jetzt schlagartig ändern. Denn das Buch enthält viele Analysen, die uns nun bei der Frage helfen: Wie können unsere Schulen mit der zweiten und wohl noch größeren Flüchtlingskrise in der Folge des Ukrainekriegs umgehen? Welche Lösungen, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, haben sich bewährt, welche nicht? Und wie können wir sie verbessern und anpassen an die aktuelle Situation?
"Es klingt schwer vorstellbar", schreibt Agarwala, "aber kein Bildungsministerium in Deutschland kann heute verlässliche oder gar überprüfbare Aussagen darüber machen, ob das, was man tat oder tut, richtig ist. Versprechen Vorbereitungsklassen, ein direkter Start unter Muttersprachlern oder eine Mischform langfristig den größten Erfolg? Keiner weiß es. Wie häufig gelingt Flüchtlingskindern der Sprung von der Grundschule aufs Gymnasium? Völlig unklar. Wie viele Lehrerinnen und Lehrer wurden mittlerweile dafür qualifiziert, Nichtmuttersprachler vernünftig zu unterrichten? Hat niemand gezählt."
Versäumte Evaluation
Agarwala hält es für ein großes Versäumnis, dass die Bildungsministerien sich in den letzten Jahren nicht darum gekümmert haben, das deutsche „Integrationsexperiment“ wissenschaftlich zu begleiten und systematisch zu evaluieren. Erschwerend kam und kommt natürlich hinzu, dass in jedem Bundesland andere Modelle ausprobiert und andere Daten erhoben wurden. Doch zugleich ist die Bilanz des Autors verhalten optimistisch: Am Anfang herrschte Chaos und die Schulen mussten improvisieren. Aber im ganzen Land hätten sich die Schulen zurechtgeruckelt, trotz fehlender Ressourcen arbeiteten die Kollegien engagiert und kompetent. Und trotz widriger Bedingungen – wenig Vorkenntnisse, wenig Halt - hätten viele Geflüchtete Abschlüsse gemacht, wenn auch meist die niedrigsten.
Seit Anfang der Flüchtlingskrise 2015 tobt eine Debatte, was besser sei: Die Flüchtlinge erst in sogenannte Vorbereitungs- oder Willkommensklassen oder sofort in die Regelklassen aufzunehmen? Bisher kann die Frage wissenschaftlich nicht eindeutig beantwortet werden. Aber laut Agarwala mehren sich die Hinweise, dass eine Mischform für viele Flüchtlinge der richtige Weg ist – wenn sie in Willkommensklassen kommen, es aber fließende Übergänge in die Regelklassen gibt. Das heißt, dass sie schon früh in einzelnen Fächern mit den deutschsprachigen Schülern gemeinsam unterrichtet werden – und dann nach ihrem vollständigen Wechsel in die Regelklassen weiterhin durch Mentoren unterstützt werden, Zugang zu Sprachförderung und Nachhilfe in kleinen Gruppen bekommen. In Berlin wird das an einigen Schulen schon so praktiziert, sollte aber auch in der Fläche ähnlich gehandhabt werden.
In Berlin gab es Anfang März 540 Willkommensklassen, von rund 6000 Schülern besucht. Die Kapazitäten dieser Klassen sind allerdings weitgehend erschöpft, weshalb Berlins Bildungssenatorin Astrid Sabine-Busse vor ein paar Tagen angekündigt hat, neue Willkommensklassen schaffen zu wollen. Aktuell läuft die Anfrage an die Schulen (staatliche und freie, allgemeinbildende und berufliche Schulen), ob sie die Möglichkeit sehen, eigene Klassen zu schaffen und Flüchtlinge aufzunehmen. „Aber bis die ersten neuen Klassen eingerichtet werden, wird es noch mindestens zwei Wochen dauern,“ teilte ein Sprecher der Bildungsverwaltung mit.
Täglich 10.000 neue Flüchtlinge in Berlin
Zunächst sprach Busse von 50 neuen Klassen, doch wird diese Zahl bei weitem nicht ausreichen. Täglich kommen ja etwa 10 000 neue Flüchtlinge in Berlin an, unter ihnen viele Kinder im Alter zwischen 0-18 Jahren, die bald Kita- und Schulplätze brauchen. Natürlich bleiben nicht alle Flüchtlinge in Berlin, viele reisen auch weiter in andere deutsche Städte oder ins europäische Ausland. Doch wahrscheinlich sind heute schon genug ukrainische Kinder im schulpflichtigen in Berlin untergebracht, um weitere 540 Willkommensklassen zu füllen.
Bisher haben wir noch keine genauen Zahlen, da sich die Flüchtlinge nicht registrieren müssen. Sie sollten allerdings schnell rechtlich verpflichtet werden, sich zu registrieren und dabei möglichst schon Angaben machen – zum Alter ihrer Kinder, zu den Bildungsbiographien, den vorhandenen Sprachkenntnissen, damit die Berliner Bildungsverwaltung und auch die Schulen planen können. Es steht aber schon fest: Es müssen sehr schnell sehr große Kapazitäten geschaffen werden.
2015 kamen mehr Jugendliche, 2022 sind es eher Kinder
Wie unterschieden sich die Flüchtlingskinder, die jetzt kommen von denjenigen, die seit 2015 gekommen sind? Damals waren es viele heranwachsende Männer aus Syrien und Afghanistan im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Oft hatten sie eine monate- oder sogar jahrelange Odyssee durch verschiedene Länder und über das Mittelmeer hinter sich, waren mannigfaltig traumatisiert. „Die schulischen Voraussetzungen waren und sind extrem unterschiedlich,“ sagt Nadire Biskin, Autorin und Klassenlehrerin einer Willkommensklasse in Berlin.
„Manche haben guten Unterricht an weiterführenden Schulen erhalten, andere noch nie im Leben eine Schule von innen gesehen. Als Lehrerin einer Willkommensklasse muss man also lernen, mit einer extrem großen Heterogenität umzugehen. Der Altersabstand zwischen den Schülern in einer Klasse kann bis zu fünf Jahren betragen, manche Kinder kommen aus Akademikerfamilien und werden zu Hause sehr unterstützt, andere sind total auf sich gestellt und müssen erst einmal das Alphabet lernen.“
Unter den Geflüchteten aus der Ukraine sind - dem Augenschein nach - mehr Kinder jüngeren Alters, mehr Mädchen. Viele sind zusammen mit ihren Müttern und Großmüttern aufgebrochen, zum Teil auch in größeren Gruppen von Familienmitgliedern und Freunden. Das heißt, sie haben im Prinzip mehr familiären Halt – und oft auch schon eigene soziale Anknüpfungspunkte in Deutschland. Weil sie Verwandte oder Bekannte haben, die schon vor Jahren aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert sind.
Viele dieser Familien hat vor drei Wochen noch ein ganz normales Leben – bei manchen Kindern sind die Traumatisierungen ganz frisch oder sie stehen ihnen erst noch bevor: Dann nämlich, wenn sie zum Beispiel vom Tod ihrer Väter, Brüder in der Ukraine erfahren. Aber für den leider wahrscheinlichen Fall, dass es nicht gelingt, genug psychologische Betreuung in Deutschland zu finden, haben sie vermutlich bessere Chancen, die Ereignisse zu verarbeiten – weil sie hier in Gesellschaft vertrauter Menschen sind.
Sehnsucht nach demokratischen Werten
Insgesamt gibt es eine größere kulturelle Nähe und jedenfalls eine Sehnsucht nach demokratischen Werten. Die ukrainischen Schüler kommen aus einem gut funktionierenden Bildungssystem, beherrschen die kyrillische Schrift und oft auch schon die lateinische, wenn sie in den weiterführenden Schulen Englisch oder Deutsch als Fremdsprache gelernt haben. Das wird die Aufgabe der schulischen Integration leichter machen als in den Jahren nach 2015. Weil die Homogenität der Schüler größer ist, es mehr Vorkenntnisse gibt und die hiesigen Schulen schon Know-How entwickelt haben, das sie jetzt reaktivieren können.
Auf der anderen Seite wird allein die rasant anwachsende Zahl der Geflüchteten unser Bildungssystem vor große Herausforderungen stellen. In Berlin treffen die Neuankömmlinge auf eine schon jetzt akute Mangelsituation: Es gibt zu wenig Schulplätze und es gibt zu wenig pädagogisches Personal. Hinzukommt, dass dieses Personal von den Zumutungen der Corona-Krise erschöpft ist.
„Hier ist es wichtig, dass wir die Chance nutzen, dass der neue Haushalt noch nicht beschlossen ist und Anpassungen vornehmen,“ sagt die frühere bildungspolitische Sprecherin der SPD Maja Lasic. „Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe; die schon beim letzten Man aktiv waren, können schnell reaktiviert werden und erste Bildungsprogramme für die Flüchtlinge auf den Weg zu bringen.“
Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) hat zum Beispiel eine ganze Reihe von erfolgreichen Programmen entwickelt, die man kurzfristig ausweiten könnte. Das reicht von den Berliner Ferienschulen über "Lernbrücken" bis hin zum Programm „Fit für die Schule. Gemeinsam starten“, das zunächst in den Erstaufnahme-Unterkünften stattfindet. „In all diesen Programmen geht es um Sprachvermittlung, Erkundung der Lebenswelt, Begegnung mit Gleichaltrigen sowie die Stärkung des Selbstkonzeptes der Kinder,“ sagt Annekathrin Schmidt, Leiterin Berlin und Brandenburg bei der DKJS.
Kindern "Normalität" ermöglichen
Die Zeit drängt. Durch die Corona-Krise wissen wir, wie unabdingbar es ist für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, dass sie zur Schule gehen, eine geregelten Tagesablauf haben und Gleichaltrige treffen können. Und auch für die Kinder aus der Ukraine geht es darum, durch erste Bildungsangebote, einen Kita- oder Schulbesuch wieder ein Gefühl von Normalität entwickeln und ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen zu können.
Sieben Monate Wartezeit?
Deshalb sollte in dieser Flüchtlingswelle sofort eine Schulpflicht greifen – und auch schon eine improvisierte Beschulung in den Erstaufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften stattfinden, bevor die Familien eigene Wohnungen finden und definitiver einer Kommune einer Schule. Nach Recherchen von Agarwala vergehen in Deutschland im Durchschnitt sieben Monate zwischen der Ankunft eines Flüchtlingskindes und seinem Eintritt in eine deutsche Schule. In Berlin variiert diese Zeit von Bezirk zu Bezirk, es gibt langsame und weniger langsame Bezirke. Aber fest steht: Diesmal muss es schneller gehen, dass die geflüchteten Kinder schneller in Willkommens- und Regelklassen andocken – und dass man schon zuvor mit improvisierten Bildungsangeboten erreicht.
Viele Bildungspolitiker fragen sich gerade im Hinblick auf die anstehenden Planungen, wie lange die Flüchtlinge wohl bleiben werden und ob sie nach dem Ende des Krieges in die Ukraine zurückkehren? Die Erfahrungen mit den letzten Flüchtlingswellen zeigen: Ein relevanter Teil wird zurückkehren und ein relevanter Teil wird bleiben. Doch niemand weiß im Voraus, wer genau bleiben wird. Weil das ja von vielen Faktoren abhängt – auch davon, wie schnell sich jemand integriert, welche menschlichen Beziehungen entstehen, welche Chancen sich auftun.
Viele werden bleiben - müssen
„Deshalb sollten wir so tun, als ob alle, die kommen, bleiben werden – sonst verlieren wir wertvolle Zeit bei der Integration der Kinder,“ sagt Maja Lasic, die selbst als bosnisches Flüchtlingsmädchen in einer Willkommensklasse gewesen ist. „Auch glaube ich nicht, dass der Krieg nach zwei Monaten zu Ende ist. Das kann Jahre dauern.“
Deshalb reagiert sie auch etwas zurückhaltend auf den Versuch der Bildungsverwaltung, ukrainische Lehrerinnen zu rekrutieren. „Wenn ukrainische Lehrerinnen ukrainische Schüler auf ukrainische Weise unterrichten, dann setzt das den Integrationsprozess aus, schiebt ihn auf. Und das ist gefährlich. Natürlich kann es nicht schaden, wenn die Flüchtlingskinder zusätzlich ein paar Stunden herkunftssprachlichen Unterricht bekommen – das hilft der Identitätsbildung. Und natürlich ist es wünschenswert, wenn ukrainische Lehrerinnen sehr gut Deutsch lernen und dann als Quereinsteigerinnen in unseren Schulen anfangen. Aber beides ersetzt und erleichtert nicht die Arbeit in den Willkommensklassen,“ sagt Lasic. „Deshalb brauchen wir mehr Willkommensklassen".
Die Autorin Eva Corino ist Bildungsredakteurin bei der Externer Link: Berliner Zeitung, wo ihr Debattenbeitrag am 16.3.2022 zunächst erschien.
Zitierweise: Eva Corino, "Mehr Willkommensklassen!", in: Deutschland Archiv, 25.3.2022, www.bpb.de/506612.
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