Die ELES
Im Zentrum der Statements stehen die persönlichen Wahrnehmungen der aktuellen Ereignisse in der Ukraine sowie die individuelle Migrationsgeschichte der Familien infolge der Shoah, ihre Bedrohung durch das stalinistische System, spätere Diskriminierung und der Antisemitismus in der Sowjetunion und in Deutschland. Auch geht es um die Erinnerungen der Frauen an ihr eigenes Ankommen in Deutschland in den 1990er-Jahren als Kontingentflüchtlinge. Im familiären Rahmen sprechen die Interviewten bis heute Russisch, auch wenn sie beispielsweise aus der Ukraine stammen, weil Russisch die verbindende Hauptsprache in der gesamten Sowjetunion war.
Warum sprechen viele Urkrainerinnen und Urkainer Russisch?
Spätestens seit den 1930er-Jahren begann in den Staaten der Sowjetunion eine verstärkte Förderung des Russischen, die bis zu ihrer Auflösung anhielt. Die ukrainische und die russische Sprache waren zwar explizit gleichgestellt, implizit aber wurde das Russische in der Schule, im Beruf und Privaten präferiert. Russisch galt als die prestigeträchtigere Sprache und eröffnete auf dem Arbeitsmarkt mehr Möglichkeiten. So begannen viele ursprünglich ukrainische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler, auch untereinander Russisch zu sprechen. Begünstigt wurde der Wechsel zwischen den Sprachen durch die Verwandtschaft beider slawischer Sprachen und die Tatsache, dass es in der Ukraine bereits seit zaristischen Zeiten eine bedeutsame russischsprachige Bevölkerungsgruppe gab. Immigrantinnen und Immigranten aus anderen Teilen der Sowjetunion, wie etwa Georgierinnen und Georgier oder Armenierinnen und Armenier, lernten nur selten Ukrainisch, da Russisch beinahe überall in der Ukraine verstanden wurde. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, sprach der größte Teil der Bevölkerung des Landes bevorzugt Russisch.
Fußnoten
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Vgl. Lenore A. Grenoble, The Ukrainian SSR, in: Language Policy in the Soviet Union, Dordrecht 2003, S. 83 ff.
Unverständnis und Fassungslosigkeit über Putins Krieg
Allen folgenden Statements von jüdischen, russischsprachigen Frauen gemein ist der Ausdruck von Fassungslosigkeit und Unverständnis gegenüber den Handlungen Wladimir Putins und seiner Regierung sowie ein dominierendes Gefühl von Machtlosigkeit. Man ist zu fern, um aktiv handeln zu können, und gleichzeitig gedanklich so nah bei in der Ukraine lebenden Verwandten, Freunden und Bekannten. Die jüngste Generation ist immer wieder bemüht, sich nach der emotionalen Verfassung ihrer Eltern und Großeltern zu erkundigen. Sie verstehen, wie schmerzhaft es sein muss, die ehemalige Heimat unter Bombenbeschuss zu wissen. Die Interviewten sind geeint in tiefer Trauer und Sorge, aber auch in Hoffnung, dass das Leid in der Ukraine bald ein Ende findet.
Elina Schkolnik, 27 Jahre alt, Schauspielerin, in Berlin geboren, Eltern aus Odessa (Ukraine)
Mit viel Sorge beobachte ich die Situation in der Ukraine. Mein Blick fährt dabei hin und her zwischen den Ereignissen dort und dem Befinden meiner Eltern hier. Einige Freunde und Verwandte wohnen noch in ihrer Heimatstadt. Die Angespanntheit in den Gesichtern meiner Eltern ist leider täglich zu sehen, und mein Vater vertieft sich in viele Nachrichtenseiten, Liveticker und Telegram-Hilfegruppen. Ich fühle mich meist hilf- und machtlos, würde gerne mehr tun als Spenden und Demonstrieren. Gleichzeitig bin ich auch sehr stolz auf meine Freunde, ukrainische und nicht-ukrainische, die seit Kriegsbeginn Geflüchtete bei sich aufnehmen, Nahrung und andere Hilfsmittel an die Grenze bringen und große Solidarität zeigen. Mein Leben lang wurde ich von dem größten Privileg des Friedens begleitet, das für mich eine Selbstverständlichkeit war und nie hinterfragt werden musste, auch, wenn ich die vielen Geschichten meiner Familie über den Zweiten Weltkrieg kenne. Mein Urgroßvater ist an der Front gestorben, meine Urgroßmutter hat gedient, mein Großvater in Deutschland gekämpft. Ein Teil meiner Familie väterlicherseits wurde von Nazis an Gräben in der Ukraine erschossen. Nun ist dieser hart erkämpfte und für unbesiegbar geglaubte Frieden in Europa vorbei. Die Nachricht über die Bombardierung in der Nähe der Gedenkstätte Babyn Jar
Alexandra Kobzev, 31 Jahre alt, Umweltingenieurin aus München, in Taschkent (Usbekistan) geboren, seit 1998 mit ihrer Familie in Deutschland
Man könnte meinen, dass mich der russisch-ukrainische Krieg nur entfernt, wie eine Beobachterin, betrifft. Ich selbst komme nicht aus der Ukraine und bin in Deutschland aufgewachsen. Jedoch habe ich erst kürzlich entdeckt, dass ein Großteil meiner Vorfahren aus der Ukraine stammt und aus diversen Gründen, sei es Verfolgung oder die Suche nach einem besseren Leben, weggezogen ist.
Aber nicht das allein versetzt mich in einen Zustand völliger Hilflosigkeit. Nicht untypisch für Jüdinnen und Juden, sind meine Verwandten auf der ganzen Welt verteilt. Mein Onkel beispielsweise, der in Moskau lebt, kann seine 90-jährige Mutter in den USA nicht besuchen, weil er mit seinem russischen Pass kein Visum mehr bekommt. Oder meine geliebte Großmutter, die in Taschkent lebt und vom russischen Staatsfernsehen mittlerweile völlig „zombifiziert“ ist, sodass jedes Gespräch zur großen Herausforderung wird. Hinzu kommen tausende ukrainische Flüchtlinge, die hier Schutz suchen und denen man trotz eifrigem Aktivismus den Schmerz und die Ohnmacht nicht nehmen kann. Dieser unnötige Krieg hat nur Verlierer und betrifft uns alle. Es ist mir völlig unverständlich, wie im einundzwanzigsten Jahrhundert ein Krieg mitten in Europa ausbrechen kann, und ich sehe eine Analogie zum Nationalsozialismus und der ewig gestellten Schuldfrage. Denn Russland steht gerade am Wendepunkt. In solchen Zeiten muss man Stellung beziehen und laut werden. Ich kann nur wiederholen, was
Anonym, 58 Jahre alt, medizinische Fachangestellte aus Berlin, ehemalige Grundschullehrerin, ursprünglich aus Odessa (Ukraine), seit 1993 in Deutschland
Seit Beginn des Krieges trage ich viel Schmerz in mir und habe großes Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine. Ich kann es nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass benachbarte Länder, die stark miteinander verbunden sind, sich auf vielen Ebenen die Kultur und auch Familien teilen, jetzt gegeneinander kämpfen, dass die Ukraine sich nun vor Russland verteidigen muss. Es ist wie ein Alptraum, der alle Bemühungen, seit 1945 in Europa für Frieden zu sorgen, mit einem Mal zunichtemacht und für vergeblich erklärt.
Der Grund, warum Menschen heute aus der Ukraine fliehen, unterscheidet sich selbstverständlich von unseren Beweggründen, das Land kurz nach dem Zusammenfall der Sowjetunion zu verlassen. Seit meiner Kindheit habe ich mich in der Ukraine fremd gefühlt, und ich wurde häufig daran erinnert, dass ich keine richtige Heimat habe. Antisemitismus im Alltag war in der Ukraine viel deutlicher zu spüren als in Deutschland. In unseren Pässen stand der
Wir wollten damals mit unserer Flucht nach Deutschland unsere Würde sichern, die Menschen jetzt sichern ihr Leben. Menschen fliehen heute vor Bombenangriffen, vor einem realen Krieg. Das erinnert mich an die Geschichten unserer Eltern, die damals zur Zeit des Zweiten Weltkrieges geflohen sind. Meine Mutter erzählte mir, wie sie aus den Zügen rennen mussten, die sie evakuierten, wenn gerade ein Kampfflugzeug über ihnen flog, um sich vor einem möglichen Angriff zu retten. Diese Bilder steigen mir gerade täglich in den Kopf und machen mich fassungslos. Ich habe Angst davor, dass Bomben auf Odessa fallen und eine ganz besondere Stadt voller Geschichte zerstört werden könnte. Es gibt den Spruch „Es gibt keine ehemaligen Odessiten“. Wenn man Odessit ist, ist man es sein Leben lang. Und das spüre ich, trotz fast 30 Jahren in Deutschland, auch heute noch.
Alexandra Perlowa, 30 Jahre alt, Change Managerin und Diversity-Trainerin, in Lviv (Ukraine) geboren, nun in Berlin lebend, seit 1994 in Deutschland
Leider sind meine Eindrücke in Bezug auf Medienberichte zur Lage in der Ukraine zunehmend von Misstrauen geprägt. Misstrauen gegenüber einer Medienwelt, die immer stärker von Propaganda und gezielter Desinformation durchzogen ist. Stärker denn je sind Fakten-Check und seriöse Quellen gefragt, auch in meinem persönlichen Umfeld werden ungeprüft Inhalte weitergeleitet, die nicht nur einseitig gefärbt – was in mir Wut auslöst und mich gefühlt hilflos Manipulationsversuchen aussetzt –, sondern auch unheimlich verstörend sein können. Gewaltszenarien, sofern sie tatsächlich die Realität vor Ort in meinem Heimatland abbilden, halte ich ohne entsprechende Triggerwarnung für retraumatisierend für Personen, die bereits Gewalt und/oder Krieg erleben mussten. Leider gibt es für die Realität in der Ukraine keine Triggerwarnungen. Umso greifbarer die Verzweiflung und der Schmerz. Gerade auf die Entfernung würden Menschen wie ich so gern mehr für unsere Landsleute tun und helfen. Ob jüdisch oder nicht. Meine Familie und ich sind 1994 im Zuge des Abkommens über die Aufnahme von jüdischen Geflüchteten zwischen (primär) den GUS-Staaten und Deutschland nach Deutschland immigriert. Ich war damals zweieinhalb Jahre alt, ein kleines Kind. Erst viel später, und auch dieser Tage wieder, hat sich mein Bewusstsein dafür geschärft, dass wir ohne dieses Abkommen mutmaßlich als Familie ebenfalls in der Ukraine geblieben wären und uns womöglich jetzt zur Flucht gezwungen gesehen hätten.
Unsere Immigration damals war aus der Perspektive meiner Eltern vermutlich ähnlich beängstigend wie die der heute Fliehenden – und doch ganz anders. Das Leben in der Ukraine war für uns aufgrund des zunehmenden Antisemitismus sowie der lauter werdenden Rufe nach Verdrängung nicht-ukrainischer Menschen aus der Westukraine – meine Mutter ist selbst Russin – längst nicht mehr sicher. Im Land zu bleiben, hätte ihre und auch meine späteren Chancen auf eine gesicherte Zukunft vermutlich verringert. Natürlich brachte der Weggang aus Lviv seinerzeit Entbehrungen und große Veränderungen mit sich. Die Orientierungslosigkeit gerade zu Beginn, gepaart mit Sprachbarrieren und kulturellen Differenzen zwischen Lviv in der Ukraine und Kassel in Deutschland sowie natürlich die Schwierigkeiten des Lebens in einer Unterkunft im Erstaufnahmelager, halte ich für ansatzweise vergleichbar. Auch wenn aus meiner Sicht wenig mit dem Horror eines Krieges vergleichbar sein kann. Bezüglich einer innerjüdischen Perspektive für die Jüdischen Gemeinden hier in Deutschland möchte ich versuchen, optimistisch zu bleiben. Jede weitere jüdische Person, die offen zu ihrer jüdischen Identität in Deutschland steht, ist zunächst ein Zugewinn für die Community. Nichtdestotrotz hat die gewisse Dominanz russischsprachiger Jüdinnen und Juden in der Vergangenheit zu Exklusion geführt. Da der Rückgang der BesucherInnenzahl in Jüdischen Gemeinden jedoch allgemein und herkunftsunabhängig in den vergangenen Jahren signifikant war, sollte hier intersektional gedacht werden. Wie alt werden die Menschen sein, die künftig am Gemeindeleben teilnehmen werden? Welche bewussten und unbewussten Vorurteile sowie Prägungen bringen diese Menschen mit und welche Kriegs- wie auch Shoah-Traumata könnten ebenfalls eine Rolle spielen? Auch befürchte ich leider, dass der erstarkte Antisemitismus in keiner Weise ein „importierter“ ist, wie nach 2015 in Zusammenhang mit der Fluchtbewegung durch den Syrienkrieg mitunter konstatiert wurde. Vielmehr sehe ich den Antisemitismus als Kontinuität, der sich nun unter Umständen mit Antislawismus paaren könnte. Das macht ihn nicht weniger bedrohlich. Stand heute überwiegt jedoch glücklicherweise die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine, ob jüdisch oder nicht-jüdisch.
Anonym, 25 Jahre alt, Personalberaterin, in Moskau (Russland) geboren, seit 1997 in Berlin lebend
Der Beginn des aktuellen Kriegs war für mich ein Schock. Niemals hätte ich gedacht, dass ich den Krieg so nah erlebe und so viele Menschen aus meinem engen Umfeld unmittelbar betroffen sein werden, durch Freunde und Familie, die in der Ukraine leben. Es entsteht ein Gefühl der Ohnmacht, Frustration und Hilflosigkeit. Zum Glück hatte meine Familie bei der damaligen Immigration nach Deutschland keinerlei Schwierigkeiten, und da ich noch sehr klein war, habe ich persönlich keine Erinnerung daran. Dass Gedenkstätten, humanitäre und soziale Einrichtungen als Angriffsziele gelten oder auch nur versehentlich getroffen werden, ist bis aufs Letzte zu verurteilen. Dafür gibt es keinerlei Entschuldigung. Ich persönliche stufe allerdings jede Gewaltanwendung, jedes Kriegsvorgehen und jegliche Aggressionsanwendung als abscheulich und abstoßend ein. Angriffe wie der auf Gebäudeteile der Gedenkstätte Babyn Jar
Ich persönlich habe glücklicherweise keine vergleichbaren Erfahrungen, die mich an die aktuelle Situation erinnern. Auch aus jüdischer Perspektive heraus erlebe ich die aktuelle Situation nicht auf eine bestimmte Art und Weise. Für mich gibt es eine grundlegende menschliche, empathische Perspektive, die mich den aktuellen Krieg mit Sprachlosigkeit betrachten lässt. Das aktuelle Vorgehen in der Ukraine ist menschenverachtend und ein weiteres Kapitel in der Menschheitsgeschichte, in welchem das Böse zu einem bestimmten Ausmaß die Oberhand gewinnt.
Der Krieg bringt auch weitere Facetten ans Licht. Im Vordergrund der politischen Manipulation seitens des russischen Systems liegt die Herstellung eines Feindbildes. Diese Neigung ist in vielen Menschen unterbewusst verankert. Durch unterbewusst veranlagte Denk- und Verhaltensmuster neigen Menschen in Krisensituation zu einem verstärkten Konkurrenzdenken oder der Auferlegung von Feindbildern. Dem liegt allerdings immer Angst zugrunde. Menschen beginnen zu verallgemeinern und abzuwerten. Die Realität ist für den menschlichen Verstand so schwierig nachzuvollziehen und anzunehmen, dass ein Schuldiger oder Verantwortlicher gesucht wird, um sich die Situation so vermeintlich zu erklären. Auch Angriffe auf russische Schulen oder russischsprachige Menschen hierzulande sind eine Konsequenz genau eines solchen Prozesses.
Esther Tchlakichvili, 26 Jahre alt, Organisatorin von Art-Events und Präsentationstrainings, Copywriterin, in Berlin geboren, Eltern seit 1991 in Berlin lebend, ursprünglich aus Moskau (Russland)
Ich sehe Bilder vom Krieg, ich sehe zerstörte Wohnhäuser, fliehende Menschen, die in Bahnhöfen sitzen und hoffen. Ich fühle mich machtlos und frage mich, wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ein Mann und seine Gefolgschaft einfach ein souveränes Land angreifen und die eigene Bevölkerung glauben lassen, dass das in Ordnung sei, und ohnehin kein Krieg stattfindet, sondern bloß eine „militärische Sonderoperation zur Friedenssicherung“? Wie kann es sein, dass Deutschland immer noch russisches Öl importiert und damit Putin und seinen Krieg unterstützt? Wie kann es sein, dass die Welt den Atem anhält, weil sie Angst hat, das angeknackste Ego eines Psychopathen zu verletzen? Wie kann es sein, dass dieser Psychopath ein Land mit einem jüdischen Präsidenten und dem Nachkommen von Shoah-Überlebenden „Entnazifizieren“ möchte? Wie kann es sein, dass er im selben Atemzug die Shoah-Gedenkstätte Babyn Jar mit Raketen beschießt? Wie kann es sein, dass unschuldige Menschen sterben und nichts passiert? Ich habe keine Antworten, ich habe nur Fragen.
Weitere Stimmen von jüdischen Einwanderinnen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zum Krieg in der Ukraine und den Geflüchteten folgen.
Zitierweise: Greta Zelener, „Stimmen russischsprachiger Jüdinnen in Deutschland zum Krieg in der Ukraine“, in: Deutschland Archiv, 22.3.2022, Link: www.bpb.de/506470.
Greta Zelener im Interview mit Sharon Adler:
Der Beitrag von Greta Zelener:
Externer Link: Zeitenwende? 30 weitere Stimmen zum Ukrainekrieg im Deutschland Archiv.