Modelle einer Deutschen Einheit oder Konföderation im Tausch gegen leichteren Zugang zu Devisen wurden bereits seit Anfang der 80er-Jahre hinter den Kulissen verhandelt. Motor war stets die Geldknappheit der DDR. Aber deren Führung und ihre Nachrichtendienste waren in diesen Fragen höchst zerstritten. Die Abwehrabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit und die Stasihauptabteilung Aufklärung (HV A) zeigten sich dabei als interne operative Gegner. Der Bankier Holger Bahl aus Zürich fungierte regelmäßig als Vermittler, Ideengeber und Gastgeber für solche konspirativen Verhandlungen. Nach und nach neu auftauchende Akten vervollständigen auch sein Bild. Ein Zeitzeugenbericht.
Im November 2024 wird der Mauerfall 35 Jahre her sein. Und am 3. Oktober 2025 liegt die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands 35 Jahre zurück. Beides ging ohne Blutvergießen oder den berühmten "ersten Schuss" über die Bühne. Auch heute stellt sich immer wieder die Frage, warum die UdSSR dieses zuließ und in den Monaten zuvor der Verlauf der Friedlichen Revolution in der DDR so gewaltfrei blieb – anders als im Juni 1953, als die SED-Führung Hilfe durch sowjetische Panzer erfuhr, die DDR-weit Proteste niederschlugen. Oder anders als – um ein Schreckensbild aus der Gegenwart zu verwenden – der Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022, die sich offenbar demokratischer entwickelt hat, als die Regierung Wladimir Putins vom Nachbarland Russland aus akzeptiert.
Der Wandel in der DDR 1989/90 verlief dagegen friedlich. Offenkundig hatte Moskau in den 1980er-Jahren andere Probleme zu lösen, deren Wichtigkeit von der Führung der UdSSR höher eingestuft wurde als das Schicksal des 1949 gegründeten sowjetischen Satellitenstaats DDR. Oder die DDR wurde zunehmend als Störfaktor in der sich im Rahmen von Perestroika und Glasnost von Präsident Michail Gorbatschow vorangetriebenen wirtschaftlichen wie politischen Annäherung zwischen Ost und West empfunden.
Nicht nur Bundeskanzler Helmut Kohl wusste diesen sich mehr und mehr andeutenden Verlust an Wichtigkeit der DDR für Moskau zu nutzen und 1989/1990 geschickt in seine Bemühungen um die deutsche Einheit einzubauen. Ganz im Gegensatz hierzu die Haltung und Überzeugung vieler Entscheidungsträger in Politik, Militär und Wirtschaft der DDR, die bis unmittelbar vor der Wende eine solche Entwicklung nicht für möglich hielten. Ausgenommen die HV A, die mit ihrer Führung unter den Generälen Markus Wolf (bis 1986 im Amt) und Werner Grossmann (1986 bis 1990) den richtigen Riecher zeigte.
Insgesamt hielten sich die Geheimdienste der DDR zunächst aber zurück. Noch war der Respekt vor dem großen Bruder KGB in Moskau zu groß, um sich in gefährliches Fahrwasser zu begeben und sich für eine weitere Annäherung an die Bundesrepublik offen einzusetzen. Auch war für die meisten Parteikader und insbesondere für die Führung der Nationalen Volksarmee (NVA) eine Aufgabe der DDR durch den großen Bruder unvorstellbar. Dabei drifteten die diesbezüglichen Überlegungen der für die Sicherheit zuständigen Organe der DDR zunehmend auseinander.
Der Abwehr unter Minister Erich Mielke waren die intensiven Kontakte von Wirtschafsführern aus der Bundesrepublik mit ihren Geschäftspartnern in der DDR schon seit diversen Jahren ein Dorn im Auge. Für das für Wirtschaftsfragen zuständige Mitglied des Politbüros, Günter Mittag, wurde es zunehmend schwerer, die Bedeutung und Wichtigkeit der Wirtschaftsbeziehungen vor allem zur Bundesrepublik in den Führungsgremien der DDR, Politbüro und Zentralkomitee, sowie vor allem bei Generalsekretär Erich Honecker hervorzuheben.
Auch Moskau hatte lange Zeit mit Unmut und Argwohn auf das ständig wachsende deutsch-deutsche Beziehungsgeflecht geschaut und ließ das bekanntermaßen Honecker und die von Moskau als zuverlässig eingeschätzten Politbüromitglieder wie Axen, Mielke, Mittag, Stoph und Sindermann auch wissen.
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Weiter treu zu Moskau und misstrauisch gegenüber Bonn: die Abwehr der DDR im Ministerium für Staatssicherheit
Dass es mit den brüderlichen Beziehungen und der "unverbrüchlichen Freundschaft" zwischen Moskau und der DRR nicht mehr zum Besten stand, wurde aufmerksamen Beobachtern spätestens klar, als im Jahr 1988 das in der DDR recht beliebte sowjetische Magazin Sputnik von der Staatssicherheit auf die Verbotsliste gesetzt wurde und im Handel nicht mehr erhältlich war, es hatte zu offen Gorbatschows Reformkurs von Glasnost und Perestroika propagiert. Noch ein Jahr früher wäre eine solche öffentlich zur Schau gestellte Diskrepanz zwischen den beiden Bruderländern kaum vorstellbar gewesen.
Aber es gab bereits vorher Anzeichen dafür, dass es in den Nachrichtendiensten der DDR ein Auseinanderdriften der politischen Ausrichtung, der Bündnistreue mit Moskau und der Aufgeschlossenheit gegenüber Kooperationskonzepten mit der Bonner Regierung gab, bis hin zu konföderativen Modellen.
Dies näher zu betrachten, führt zurück in die erste Hälfte der 1980er-Jahre, mitten in den Externer Link: Kalten Krieg, als über viele politische und wirtschaftliche Fragen nur jenseits rhetorischer Feindbild- und Drohkulissen offen geredet und verhandelt werden konnte, oft nur konspirativ in kleinem Kreis und misstrauisch von Geheimdiensten begleitet.
Um die Kontrolle solcher heimlich geführten Gespräche nicht aus der Hand zu geben, wurde bei wichtigen, konspirativen und politisch abgesegneten Treffen mit dem "Klassenfeind" auf Seiten der DDR, nach außen nicht direkt erkennbar, oft ein Geheimdienst-Team eingesetzt, das jeweils aus einem Mitarbeiter der Abwehr des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bestand und einem Mitarbeiter der sehr selbständigen Hauptabteilung Aufklärung der DDR (HV A), die ebenfalls ein Bestandteil des MfS war. Das hatte dann oft zur Folge, dass bei der Berichterstattung zwei Berichte erschienen, die sich entsprechend dem Standpunkt von MfS Abwehr und der HV A unterscheiden konnten. Die jeweiligen Agenten der Abwehr und der HV A waren über diese Problematik informiert und wurden jeweils ermächtigt, sich gegenseitig abzustimmen und auszutauschen. Gemäß ihrem Auftrag versuchten sie, diese nicht einfachen Situationen zu meistern, ohne sich selbst zu sehr in die Schusslinie zu bringen.
Dieses konspirative Gegen- und auch Miteinander bekam ich damals intensiv als deutscher Bankier in der Schweiz mit, tätig als Leiter der Bank für Kredit und Außenhandel (BKA) in Zürich, eine Stellung, die mich auch zu einem häufig in Anspruch genommenen Vermittler von Krediten deutscher Geldinstitute an die DDR machte, unerlässlich im Alltag deutsch-deutscher Handelsgeschäfte.
In solchen Geheimgesprächen, in die ich involviert war, entstanden Ideen, wie 1987 das sogenannte "Länderspiel", ein politisches Planspiel für eine deutsch-deutsche Konföderation im Gegenzug zu Krediten. Dem voraus ging - etwa ab Oktober1981 - die Entwicklung des so genannten "Zürcher Modell (ZM)", dessen Kernidee ein 30 Jahre laufender Kredit über 4 Milliarden D-Mark West gegen Senkung des Reisealters für DDR-Bürgerinnen und Bürger bei Reisen in die Bundesrepublik um fünf Jahre war. Bis dahin durften nur Rentnerinnen und Rentner ab dem Alter von 65 aus der DDR frei in den Westen reisen.
Die Abwicklung sollte über eine neu zu gründende Bank in der Schweiz ablaufen, an deren Aktienkapital sich die DDR und die BRD mit je 100 Millionen Franken beteiligten. Zweck sei die "Finanzierung von langfristigen Investitionsmaßnahmen in der DDR sowie die Finanzierung von Geschäften, die im gemeinsamen Interesse beider Aktionäre liegen", hielt am 29. Januar 1983 eine Stasi-Akte fest, die mir vorliegt.
Beteiligte waren Geheimdienstler aus Ost und West im Rahmen von inoffiziellen Treffen, jeweils mit direkten Drähten in die hohe Politik. So erhielt das "Zürcher Modell»" in seinen Anfängen, wie mir bekannt ist, Rückendeckung von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und wurde im Lauf des Jahres 1982 sogar unterschriftsreif ausgearbeitet.
Hätte Helmut Kohl nicht überraschend am 1. Oktober 1982 den SPD-Kanzler Helmut Schmidt durch ein Misstrauensvotum im Bundestag gestürzt, wäre es voraussichtlich auch zu einem Vertragsabschluss gekommen. Kohl griff das Projekt zwar später wieder auf, unterstützt von seinem Kanzleramtschef Philipp Jenninger (CDU), erhielt aber Konkurrenz von Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß (CSU), der parallel heimlich Kreditverhandlungen mit dem SED-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski aufgenommen hatte und mit einem Vertragsabschluss Kohl 1983 zuvor kam, möglicherweise auch aus Konkurrenz um die Federführung in der Deutschlandpolitik. Allerdings ist auf der anderen Seite kaum vorstellbar, dass Strauß ohne die Billigung Kohls in dieser Angelegenheit aktiv geworden war.
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Das «Zürcher Modell» (ZM). Ein die Sicherheit und Staatlichkeit der DDR bedrohendes Projekt des BND oder ein Weg in die Rettung der DDR vor dem Bankrott und dem Untergang. Oder gar beides?
Über das «Zürcher Modell», das Kredite einer gemeinsamen Bank von DDR und Bundesrepublik in Zürich mit Reiseerleichterungen für DDR-Bürger verbinden sollte, ist vor allem kurz vor der Wende und danach viel geschrieben worden, auch entsprechende Dokumente aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv wurden mittlerweile online gestellt.
Je nach Standpunkt wurde das Projekt zunächst als Hirngespinst und nicht machbar abgetan, so anfangs von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zu DDR-Anwalt und Honecker-Vertrauten Wolfgang Vogel, wie mir zugetragen wurde, oder als Möglichkeit für die DDR, die sich abzeichnende staatliche Krise und ihren damit drohenden finanziellen Zusammenbruch abzuwenden, so einst der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner zum langjährigen Westfachmann der SED, Herbert Häber.
Der erste Hinweis darauf, dass sich das MfS mit dem «Zürcher Modell» (ZM) beschäftigt hatte, ist ein Vermerk der Hauptabteilung XVIII/7 des MfS über Informationen eines Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters der Abwehr mit Feindverbindung, (abgekürzt «IMB») mit dem Decknamen Rolf Anders alias Dr. Wolfgang Andrä. Seine Kenntnisse zum sogenannten «Züricher Modell» erhielt der IMB nach eigenen Angaben von mir, sowie einem Genossen Teichfischer aus dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Dr. Gerhard Beil, dem langjährigen Minister für Außenhandel der DDR.
Ein immer wieder vorgebrachtes Argument damaliger Gegner eines solchen Deals war, dass die Sowjets aus Sicherheitsinteressen nie zustimmen würden. Befürworter konterten damit, dass die Sowjetunion gewiss froh wäre, wenn Bonn ihr die Finanzlast der DDR abnehmen und die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit und dem Staatsbankrott bewahren würde. Denn auch der Kreml musste zusehends sparen, deutlich wurde das, als 1981 Polen in die Pleite rutschte, aber anders als in den Jahren zuvor, keine rettenden Devisen mehr aus der Sowjetunion erhielt. Das hatte die DDR-Führung seinerzeit nachhaltig verunsichert, die nun verstärkt Devisen-Quellen im Westen eruieren ließ. Sicherlich war an den Argumenten der Befürworter und Gegner des Zürcher Modells unter Berücksichtigung der seinerzeitigen Gegebenheiten einiges dran. Eine sehr zutreffende Beschreibung der damaligen Situation ist zweifelsfrei die Zusammenfassung der Stellungnahmen der beiden Kontrahenten zum Zürcher Modell im Schlussbericht des Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags über «bayerische Bezüge der Tätigkeit des Bereichs „Kommerzielle Koordinierung" und Alexander Schalck-Golodkowskis» (Drucksache 12/16598 vom 6.7.1994)
Insgesamt gelangte der Ausschuss zur folgenden Einschätzung des Züricher Modells (ZM):
«Dem Zeugen Bahl kommt sicherlich das Verdienst zu, überhaupt den ersten Anstoß für Verhandlungen über die Möglichkeit einer Kreditgewährung der Bundesrepublik an die DDR gegeben zu haben. Es trifft auch sicherlich zu, dass das von Bahl entwickelte Modell auf DDR-Seite wegen des grundsätzlich bestehenden Kreditbedarfs sehr ernsthaft geprüft Anderseits enthielt diese Konzeption Bahls Elemente, die für die DDR-Staatsführung aus prinzipiellen politischen Gründen niemals akzeptabel gewesen wären».
Dies bezieht sich auf die zunächst vorgesehene förmliche Verbindung der Kreditgewährung mit humanitären Gegenleistungen in Form eines echten Junktims, aber auch die geforderte Gegenleistung selbst. Eine Senkung des Reisealters für DDR-Bürger von 65 auf 60 Jahre hätte in der DDR weitreichende innenpolitische Folgen gehabt und wäre letztlich wohl am Widerstand der Sowjetunion gescheitert. Denn von da an hätten mehr als drei Millionen Menschen in der DDR ein permanentes Reiserecht in den Westen gehabt. Aber noch nicht alle seinerzeitigen Einschätzungen und Strategievorschläge sind öffentlich. Während die Archive der MfS-Abwehr nach der Wende voll zugängig und ausgewertet wurden, sind viele der korrespondierenden Akten des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Kanzleramts und des Verfassungsschutzes nach wie vor unter Verschluss beziehungsweise vernichtet, wie bei der HV A.
Dennoch kommen nach und nach bislang unbekannte Einzelheiten über die verhandelnde deutsch-deutsche Geheimdienst-Szene ans Licht. Das gilt weniger für den BND und den bundesdeutschen Verfassungsschutz, sondern für die sich in erstaunlicher Weise als Widersacher, wenn nicht sogar zunehmend als politische Gegner agierenden Nachrichtendienste der DDR: MfS Abwehr und HV A.
Die verschiedenen bundesdeutschen Modelle für eine deutsch-deutsche Annäherung mit immer intensiverer wirtschaftliche Kooperation und gemeinsamen politischen Strukturen gibt es seit den 1960er Jahren. Sie wurden anfangs überwiegend in den Denkfabriken der SPD, später aber auch im konservativen Lager von CDU/CSU gestrickt. In der DDR werteten die Dienste diese Denkmodelle weitgehend als subversive, gegen die Interessen der DDR gerichtete Tätigkeiten.
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Das Agentenduo «IMB Rolf Anders» alias IMB Anton von der MfS Abwehr und «IMB Händler» von der HV A im Einsatz
Das Zürcher Modell wurde von Anbeginn im Jahr 1980 vom MfS scharf beobachtet. Zuständig war in der Abwehr des MfS der «IMB Rolf Anders» (später «IMB Anton» genannt), alias Dr. Wolfgang Andrä, der im Ministerium für Außenhandel der DDR als Hauptabteilungsleiter für den aus Sicht der DDR «deutsch-deutschen», aus Sicht der Bundesrepublik «innerdeutschen Handel» zuständig war. Er unterrichtete in dieser Funktion jeweils den DDR-Außenhandelsminister Dr. Gerhard Beil und gelegentlich auch das für Wirtschaftsfragen zuständige Politbüromitglied der SED, Dr. Günter Mittag.
Als «IMB Rolf Anders» wurde Andrä im MfS in der Hauptabteilung 18 geführt und berichtete von dort aus an die Spitze der Staatssicherheit, namentlich die Generäle Rudi Mittig und Alfred Kleine, die ihrerseits an Minister Erich Mielke und seinen Stellvertreter Werner Grossmann rapportierten. Er hatte aber auch dienstliche wie außerdienstliche Kontakte zum BND und wurde im MfS mehrfach beschuldigt, auf «beiden» Schultern zu tragen.
Andrä, darüber waren und sind sich viele Kenner der deutsch-deutschen Szene einig, hatte aber auch eine direkte Linie Richtung Honecker. Das wurde bei der Mandats-Erteilung auf DDR Seite für das Zürcher Modell klar erkennbar, die mir in folgendem Wortlaut vorliegt:
"Honecker gab das Mandat für die Gespräche mit Bahl und Vertretern der Bundesregierung zunächst an den Unterhändler bei Häftlingsfreikäufen, Wolfgang Vogel. Später erhielt es Wolfgang Andrä, Vertrauter des Ministers für Außenhandel Gerhard Beil und inoffizieller Mitarbeiter der Stasi".
Für die HV A war der "IMB Händler" alias Prof. Dr. Jürgen Nitz, Hauptabteilungsleiter im Honecker nahen Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR im Einsatz. In dieser Funktion war er dem Minister für Außenhandel, Dr. Gerhard Beil, unterstellt. Als "IM Händler" unterrichtete er in regelmäßigen Abständen die Spitze der HV A über seine Gespräche mit mir. Mal fanden Treffen in noblen Hotelrestaurants, mal bei mir zuhause statt. Andrä und Nitz wussten voneinander und stimmten sich in ihrer Funktion als Stasi-Informanten auftragsgemäß regelmäßig in persönlichen Treffen ab. Dabei hatte die Federführung die MfS-Abwehr inne.
Nitz erläuterte mir dies vor einem gemeinsamen Treffen anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1983 sehr drastisch: Was Andrä sage, sei immer wichtiger als seine Ausführungen. Er sei zwar der offizielle Gesprächspartner, denn er vertrete die Partei. Von ihm dagegen könne sich der Apparat einfacher distanzieren, nach dem Motto: Da hat ja unser Professor mal wieder einen Blödsinn verzapft, immer diese Wissenschaftler.
Die ersten Berichte IMB zum Zürcher Modell gehen auf das Jahr 1982 zurück. Entsprechend der «offiziellen Linie des MfS war das Zürcher Modell für Andrä zunächst ein subversives Projekt des BND zur Destabilisierung der Finanzen der DDR. In seinen umfangreichen und vielfältigen Aufzeichnungen über die Gespräche mit mir an die Spitze des MfS ist anfangs seine absolut negative Einstellung zum Zürcher Modell klar ersichtlich.
Andrä kritisierte vor allem die konkrete Verknüpfung mit Gegenleistungen im menschlichen Bereich, sprich die Senkung des Reisealters für DDR-Bürgerinnen und Bürger in die BRD um fünf Jahre. Je mehr aber Andrä mit mir vertiefte Gespräche führte, änderte sich das. In seinen weiteren Vermerken an das MfS versuchte er nun vorsichtig auch die für die DDR positiven Seiten des Zürcher Modells hervorzuheben.
Aber immer dann, wenn die zeitgleichen Verhandlungen um den auf der Schiene Schalck-Golodkowski und Franz Josef Strauss verhandelten Milliardenkredit voranschritten und somit das Zürcher Modell nicht mehr erforderlich schien, bekam Andrä vom MfS Kontaktverbot mit mir. Umgekehrt meldete er sich wieder als gesprächsbereit, wenn die Verhandlungen mit dem Zürcher Modell aufgrund der geforderten Gegenleistungen ins Stocken gerieten. Das galt übrigens in gleicher Weise auch für den "IMB Händler" der HV A.
Im Februar 1983 gab es zum Teil bemerkenswerte Fortschritte: Am 24. Februar1983 unterrichtete Andrä die MfS-Hauptabteilung XVIII/7 darüber, dass gemäß den beiden Staatssekretären im Kanzleramt, Philipp Jenninger und Waldemar Schreckenberger die nun CDU-geführte Bundesregierung darauf orientiert sei, "in einer gewissen Seite mit der DDR ein großangelegtes Engagement einzugehen. Dabei könnte das Zürcher Modell und andere Fragen im Verhältnis zur DDR durchaus eine Rolle spielen".
Im Mai 1983 schien der heimlich von ihnen in Bayern ausgehandelte Milliardenkredit auf der Zielgeraden zu sein. Dies führte zur Weisung von MfS-General Mittig vom 31. Mai 1983 an Andrä, seine Gespräche mit mir sofort abzubrechen. Am 29. Juni 1983 wurde der Milliardenkredit unterschrieben, zuvor hatten sich Franz-Josef Strauß und SED-Chef Erich Honecker noch einmal presseöffentlich in der DDR am Werbellinsee getroffen, um letzte Details abzustimmen.
Aber der Externer Link: Kredithunger der DDR war noch nicht voll gestillt. In seinen weiteren Berichten an die Spitze des MfS setzte sich Andrä weiter für das ZM ein. Er strich die Vorteile der vorgesehenen Kredite von 4 Milliarden D-Mark gegenüber den bisherigen Finanzierungsvarianten der DDR mit Bonn heraus. Das führte dazu, dass sein Führungsoffizier am 21.12.1983 schriftlich die Spitze des MfS warnte:
"R. Anders bringt sich durch Gespräche über Kredite in eine gefährliche Lage, wo er Hilfe von uns nicht erwarten kann. Bitte nochmals Rücksprache dazu".
Bei den Gesprächen mit Andrä und Nitz wurden im Laufe der Zeit die Schwierigkeiten für mich zunehmend erkennbar, die beide MfS-Agenten in ihren unterschiedlichen Funktionen und Unterstellungen im Dienstverhältnis hatten. Das trifft vor allem auf Andrä zu, der immer wieder wahre Eiertänze aufführen musste, um in seiner Berichterstattung über die mit mir geführten Gespräche seine positive Einstellung zum Zürcher Modell nicht zu deutlich herauszustellen. Er muss im MfS und wahrscheinlich auch darüber hinaus grosse Gönner gehabt haben, die seine Eigenmächtigkeiten und oft von der Linie abweichenden Handlungen deckten. Die hatte er wohl auch bis hinauf zu Erich Honecker, wie wir noch sehen werden.
Seine inoffiziellen, aber vom MfS tolerierten, wenn nicht sogar befohlenen Kontakte zum BND, vermutlich eine Mischung von beiden, führten ihn des Öfteren in delikate Situationen, die im MfS zu einem Vorgang unter dem Decknamen "Zenit" zusammengefasst wurden. Die HV A ließ diese Aktivitäten ebenfalls überwachen und beobachtete sie mit Argwohn.
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Leipziger Frühjahrsmesse 1985: Der Stab wird weitergereicht - die HV A übernimmt auf DDR-Seite mit dem IMB Händler die Federführung für Gespräche und Verhandlungen zum Zürcher Modell - MfS Abwehr nun zunächst in der zweiten Reihe
Die Leipziger Messen waren neben den Wirtschaftsbeziehungen traditionsgemäß der Schauplatz für deutsch-deutsche Begegnungen wie auch für DDR-interne Abstimmungen und Treffen. Viele wichtige deutsch-deutsche Entscheidungen wurden an der Messe angebahnt und auch umgesetzt, das MfS hatte in Leipzig ein enges Netz von inoffiziellen Mitarbeitern im Einsatz.
Im neu gebauten Messe-Luxushotel Merkur war die dreizehnte Etage während der Messen vollständig von der Staatssicherheit belegt, die Lifte hielten dort nicht. Im gesamten Hotel waren nahezu alle Zimmer verwanzt, in sämtlichen TV-Anlagen waren Aufnahmeeinrichtungen eingebaut, die unter anderem das nächtliche Liebesleben der Messegäste mit den sogenannten "Stasi-Miezen" in Bild und Ton festhielten.
Während der Messe führte ich die üblichen Gespräche mit dem IMB Rolf Anders und dem IMB Händler von der H VA. Nichts deutete darauf hin, dass es zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen MfS Abwehr und der HV A in der Zuständigkeit zum Zürcher Modell gekommen war.
Das änderte sich nun: Am 20.März 1985 kam es in Leipzig zu einem geheimen Treffen zwischen dem IMB Rolf Anders und dem Genossen Jürgen Nitz alias IMB Händler der HV A. Bei diesem Treffen unterrichtete Nitz den Andrä darüber, "dass er eine offizielle Auflassung hätte, verstärkt mit Holger Bahl [also mir] in der Zukunft zusammenzutreffen und seine Vorschläge zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD anzuhören". Dabei ginge es in erster Linie um wirtschaftliche Fragen, jedoch sei der Fragenkomplex der politischen Beziehungen nicht auszuschließen. Ferner sei unsere Seite interessiert, welche Vorschläge zur Kreditpolitik von ihm unterbreitet würden. . Andrä verstand diesen dezenten Hinweis, dass für ihn nunmehr die Vorstellung zumindest zunächst beendet sei und rapportierte laut einer mir vorliegenden internen Unterlage ziemlich sauer seinen Vorgesetzten im MfS am 20. März 1985:
«Ich habe diese Mitteilung vertraulich zur Kenntnis genommen und (Nitz) gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass meine Gespräche mit Holger Bahl auf ein Mindestmaß reduziert werden und lediglich den Charakter von offiziellen bzw. inoffiziellen Begegnungen anlässlich von Messen in Leipzig haben.»
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MfS Abwehr und HV A gehen auf direkte Konfrontation
Ende November 1984, der zweite Milliardenkredit war inzwischen nach heftigem Kompetenz-Wirrwarr zwischen Schalck und dem für den DDR-Außenhandel an und für sich zuständigen Minister Gerhard Beil Realität geworden, spitzte sich die Situation innerhalb des MfS weiter zu: Am 28. November 1984 kam es auf Wunsch der HV A zu einer MfS internen Aussprache zum Komplex «Zenit» und dem Zürcher Modell zwischen der HV A, Oberst Schütt und der MfS-Hauptabteilung XVIII, Oberst Lehmann und den Genossen Schramm und Oldenburg. Dabei ging es um eine versuchte Anwerbung des IMB Rolf Anders durch den BND anlässlich der Hannover Messe 1984 und den damit verbundenen "Informationsabfluss". Am Vortag war der Chef der HV A, General Markus Wolf, über diese versuchte Anwerbung unterrichtet worden und verlangte eine kurzfristige Klärung. Wolf wurde dabei auch über die «Aktivitäten des IMB mit Holger Bahl und von diesem zum Bundeskanzleramt unterrichtet", so heißt es in einer mir zur Verfügung stehenden Stasi-Unterlage.
Dann wurde es kontrovers: "Gen. Schütt brachte zum Ausdruck, dass die Abwehrabteilungen endlich berücksichtigen müssen, dass die HV A verantwortlich ist für die Bearbeitung der Geheimdienste und insoweit der Aufwand und das Schreiben an den Minister (Mielke) hätte vermieden werden können, wenn wir als HA XVIII die HV A von der Werbungsoperation informiert hätten".
Es wurde weiter kontrovers diskutiert, ob es sich auch um einen anderen Mitarbeiter des MAH handeln könnte, der für den Informationsabfluss infrage komme. "Dann würde General Wolf und eventuell auch der Minister (Mielke) die Forderung stellen, diese Person kurzfristig zu finden und strafrechtlich zur Verantwortung ziehen."
Diese Auffassung der HV A wurde von der Abwehr nicht geteilt, weil es sich um keine Quellen-, sondern um Abschöpfungsinformationen handele. Statt um eine Person, könnte es sich auch um mehrere Beteiligte handeln. Die vollständige Erfassung der Reisetätigkeit von Kadermitgliedern des DDR-Ministeriums für Außenhandel in westliche Länder sei aus verschiedenen Gründen schwierig. Abschliesßend sicherte Oberst Schütt zu, dass er den Genossen Wolf umfassend informieren werde, sodass dies General Kleine nicht extra übernehmen müsse.
Von diesen zunehmenden Spannungen im MfS in Sachen Zürcher Modell blieb das Agentenduo Andrä/Nitz nicht verschont. Nitz war neben seiner Funktion in der HV A (oder auch in dieser) der ständige Begleiter und Berater von Außenhandelsminister Beil. Das wurde immer wieder anlässlich der Leipziger Messen sichtbar, wo Nitz wie ein Schatten von Beil nicht von dessen Seite wich.
Durch diese Nähe zu Beil war er auch nah bei Günther Mittag, dem für die Wirtschaft zuständigen Politbüromitglied und Beils direktem Vorgesetzten. Andrä war in seiner Funktion als Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Außenhandel der DDR ebenfalls Beil unterstellt und verfügte auch über eine direkte Schiene zu Mittag. Diese vom MfS getrennte Unterstellung zu den gleichen Vorgesetzten Beil und Mittag schaffte zwangsläufig diverse Gemeinsamkeiten. Man kann daher nicht davon ausgehen, dass Andrä und Nitz nur Befehlsempfänger des MfS waren, dafür waren ihre «beruflichen» Vorgesetzten Mittag und Beil in der Hierarchie der DDR-Nomenklatura viel zu hoch angesiedelt.
Außerdem war zumindest Andrä in der Versorgung dieser Nomenklatura mit eingebunden. Des Öfteren brachte ich ihm bei meinen Besuchen in Ostberlin wunschgemäß Medikamente mit, und er sagte dann jeweils: "Sag beim Grenzübergang unseren Leuten, das sei für Herrn Dr. Andrä aus dem MAH". Das klappte dann immer auf Anhieb.
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Herbst 1985: Nach dem zweiten Milliardenkredit ist die DDR zurück als solventer und geschätzter Kreditnehmer am Euromarkt. Im Gegensatz zur Abwehr setzt die HV A, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des zunehmenden Ausreisedrucks, voll auf das Zürcher Modell.
Der zweite Milliardenkredit wurde an den internationalen Kreditmärkten als klares Signal verstanden, dass die Bundesrepublik im Zweifelsfall hinter der DDR stehen würde. Entsprechend stieg die Kreditwürdigkeit der DDR bei westlichen Banken, die mit der DDR als Kreditnehmerin zusammenarbeiteten. Das Zürcher Modell war bisher nicht umgesetzt worden und nach Ansicht der MfS-Abwehr wohl nicht mehr nötig. Die DDR näherte sich mit dem "Regenschirm" der Bundesrepublik an den westlichen Finanzmärkten langsam, aber sicher dem Standing einer "ersten Adresse". An den Leipziger Messetagen waren zunehmend an die 100 "Kofferbanker" vertreten, welche die auf dem Messegelände als Aussteller anwesenden DDR-Außenhandelsunternehmen besuchten und versuchten, mit ihnen ins Kreditgeschäft zu kommen. Solche Kredite waren zum Teil zweckgebunden und dienten der Finanzierung von Importgeschäften in die DDR.
Zunehmend nahmen aber die beiden für das Auslandsgeschäft lizenzierten DDR-Banken, Deutsche Außenhandelsbank AG und Deutsche Handelsbank AG, auch größere Kredite in ungebundener Form auf, das hiessß: Diese beiden DDR-Banken mussten gegenüber den Geldgebern keinen Nachweis über die Kreditverwendung erbringen und keine Sicherheiten stellen. Das ist im internationalen Kreditgeschäft jeweils die höchste Stufe der Kreditwürdigkeit für einen Schuldner. In Leipzig wurde auf dem Messegelände bereits eine "Bankenstraße" projektiert, um dem Ansturm westlicher Banken während der Messen gerecht zu werden.
Meine Gesprächskanäle funktionierten weiter, aber die behandelten Themen änderten sich im Laufe der Zeit.
Mit dem neuen sowjetischen Partei- und Staatschef Gorbatschow und seinem politischen Programm von Glasnost und Perestroika musste die bisherige Rolle der UdSSR und ihrer Satelliten in der Weltpolitik neu definiert werden. Die deutsche Teilung wurde zunehmend als größtes Ost-West-Problem empfunden, und die Zukunft der DDR als das "bessere Deutschland" schien auf einmal nicht mehr unbedingt sicher zu sein. Inzwischen hatten sich die finanziellen Verhältnisse der DDR weiter stabilisiert und in den deutsch-deutschen Beziehungen rückten andere Probleme in den Vordergrund.
Vor allem der Ausreisedruck Richtung Bundesrepublik erhöhte sich ständig und führte auch in Einzelfällen zu brisanten Ereignissen und Situationen an der gemeinsamen Grenze. Diese Entwicklung ging auch an den deutschen Nachrichtendiensten Ost und West nicht spurlos vorüber. Der IMB Rolf Anders war -ob mit oder ohne dienstliches Mandat- in der Regel gesprächsbereit, der IM Händler hatte zwar zeitweise ein zumindest offizielles Kontaktverbot zu mir, welches er aber an der HVA vorbei über die Schiene Andrä Richtung Honecker elegant umgehen konnte.
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Hannovermesse April 1986 – Andrä gerät zwischen BND und MfS
In dem ihm wohlvertrauten Landhaus Ammann mit dem ihm bekannten, ausgezeichneten Weinkeller und der exzellenten Küche fühlte sich der IMB Rolf Anders als ausgewiesener Feinschmecker und Weinkenner zur jährlichen Hannover Messe immer sehr wohl. Aber zu dieser Messe war das anders. Ich war an diesem Wochenende in unserer Ferienwohnung in Davos, um den mitgebrachten "Wochenendkoffer" aufzuräumen und abzuarbeiten. Spätabends ging das Telefon, Wolfgang Andrä war am Apparat. Er war hochgradig erregt, irgendetwas musste vorgefallen sein, so hatte ich ihn noch nicht erlebt: Er schien in Not. Mitarbeiter des BND hätten in Hannover versucht, ihn anzuwerben und zu erpressen. Hinzu kam, dass er sich in dieser Situation im Umfeld der offiziellen DDR-Messe-Delegation unsicher und beobachtet fühlte. Er habe Angst, man könnte ihm das ansehen. "Herr Bahl, ich muss von dem Vorfall unseren Botschafter und Herrn Mittag unterrichten, mit allen Konsequenzen für die Beziehungen."
Andrä war im deutsch-deutschen Agentendschungel ein alter Hase. Es musste somit etwas Konkretes vorgefallen sein, denn er machte auf mich am Telefon den Eindruck, dass er sich unmittelbar bedroht fühlte. Ich riet ihm, das Hotelzimmer nicht mehr zu verlassen und rief Philipp Jenninger privat auf der für deutsch-deutsche Notfälle vereinbarten Nummer an. Andrä hatte bei Jenninger, der natürlich auch das BND-Dossiers über ihn kannte, insoweit einen beachtlichen Stellenwert, weil er zu den wenigen gehörte, die sich, bei voller Wahrung der Interessen ihres Staates DDR, mit Leib und Seele für das deutsche Miteinander einsetzte. Aber Andrä tanzte auch einen gefährlichen Agententango: Er war bereits vorher mehrfach vom BND bedrängt worden und hat das seinen Führungsoffizieren im MfS wohl auch gebeichtet. Ob auf Befehl des MfS, was ich vermute, oder nicht: Andrä ließ sich in Hannover auf einen Deal mit dem BND ein, kassierte ein "Begrüßungsgeld" in Höhe von 2.000 D-Mark und ein kleines, modernes Diktiergerät. Aber wenige Tage später bat er mich dringend um ein erneutes Gespräch, dieses Mal im Berliner Palast-Hotel. Dort machte er einen abgekämpften, schuldbewussten Eindruck. Er übergab mir das Diktiergerät und die 2.000 D-Mark Agentenlohn und bat mich, das für ihn zu "regeln". Diese Regelung erfolgte mit deutscher Gründlichkeit im Bundeskanzleramt im Sekretariat von Phillip Jenninger. Dort wurden zunächst die Nummern der Geldscheine notiert, das Geld sollte alsdann einem guten Zweck zugeführt werden. Wurde es dann auch. Aber ganz so einfach kann eine solche deutsch-deutsche Geheimdienstaktion, welcher der Spiegel nach der Wende die Schlagzeile "Bonn trickst BND bei der Stasi aus", widmete, nicht sein. War sie auch nicht. Die Idee, mich um Hilfe zu bitten, war nicht von Andrä selbst ausgegangen, sie war ein Befehl des MfS-General Alfred Kleine, welchen Andrä über die Vorkommnisse in Hannover unterrichtet hatte. Auch die ganzen Eiertänze mit der Entgegennahme des Geldes und der reumütigen Rückgabe wirkten wie reines Theater, wie in einem drittklassigen Krimi. Anscheinend, so mein Eindruck, wollte man damit die Qualität und Belastbarkeit der Schiene Bahl zu Jenninger testen.
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Im MfS fliegen die Fetzen: MfS Chef Mielke verbietet der HV A, sich weiter mit dem Zürcher Modell zu beschäftigen. Der IMB Händler erhält ein offizielles Kontaktverbot mit mir. Der BND erkennt und nutzt die Gunst der Stunde, das MfS massiv zu infiltrieren. Aber Andrä erhält weiter Rückendeckung von Honecker.
Bei den bisher geschilderten Ereignissen konnte ich mich unter anderem fundiert auf Unterlagen der Stasi-Unterlagen-Behörde stützen, die, jetzt als Abteilung des Bundesarchivs, über ein umfangreiches und sehr ausführliches Archiv von MfS-Dokumenten verfügt. Über die Situation zwischen HV A und Abwehr nach Unterzeichnung der Milliardenkredite gibt es aber anscheinend nur wenig neue Unterlagen. Mit dem Ende der DDR fühlte sich die Spitze der HV A naturgemäß nicht mehr an ihre dienstliche Verschwiegenheitspflicht gebunden. HV A Chef Markus Wolf und sein 1986 ernannter Nachfolger in der HV A, Werner Grossmann, haben die Ereignisse in ihren Memoiren festgehalten. In seinem 1997 im List Verlag erschienenen Buch "Spionage-Chef im geheimen Krieg / Erinnerungen" beschreibt Markus Wolf die Entwicklung wie folgt: Anstoß für die HV A, sich mit dem Zürcher Modell zu beschäftigen, sei ein Hinweis von Karl Wienand gewesen, dem früheren Fraktionsgeschäftsführer der SPD, der später letztinstanzlich des Landesverrates für die DDR verurteilt und vom Bundespräsidenten begnadigt wurde. «So erfuhr ich, dass Wienand an einem Projekt beteiligt war, das der DDR dringend benötigte Kredite bringen sollte, dem sogenannten Zürcher Modell. Geplant war Anfang der 80er Jahre, mit Unterstützung Bonns und unter DDR-Beteiligung eine Bank in der Schweiz zu gründen, über die Devisen vom internationalen Kapitalmarkt in die DDR fließen sollten. Eingeweiht in das Projekt war auch der Kohl-Vertraute und Chef des Bundeskanzleramtes und späterer Präsident des Deutschen Bundestages, Philipp Jenninger, ein alter Freund Wienands.» Vertieft befasst sich mit dem Zürcher Modell Wolfs Nachfolger als Chef der HV A, Werner Grossmann. In seinem 2001 im Verlag Neues Berlin erschienen Buch "Bonn im Blick - Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs" beschreibt Grossmann sehr präzise die Entwicklung bis zum abrupten Ende des Zürcher Modells aufgrund eines klaren Befehls von Mielke, der mir vorliegt: "Das Zürcher Modell ist eine Zeit lang eine Option der Partei- und Staatsführung, die aus den Fugen geratene Valutabilanz der DDR in den Griff zu bekommen. Die DDR will mit der BRD eine Bank in der Schweiz gründen, durch die sie Zugriff auf Devisen vom internationalen Kapitalmarkt erhält. Dieses Vorhaben scheitert. Das ist jedoch nicht die Schuld von Wienand. Erich Honecker favorisiert zunächst das Zürcher Modell und findet in den Bundeskanzlern Schmidt und Kohl Befürworter. Später beugt sich der Generalsekretär dem Druck von Erich Mielke und Alexander Schalck-Golodkowski, die Strauß mit einem Milliardenkredit ins Spiel bringen".
Die HV A erfuhr vom Zürcher Modell aber nicht nur durch die Gespräche mit Wienand, sondern vor allem durch ihren dienstlichen Kontakt zu Professor Nitz vom Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR, unserem "IMB Händler". Wolf und Grossmann baten Minister Mielke, sich für das Zürcher Modell zu engagieren. Doch der reagierte sauer, beschreibt Wolf: "Er weist an, dass wir uns nicht mehr um diese Angelegenheit zu kümmern hätten. Das Modell sei unseriös, seine Förderer auf westlicher Seite wollten die DDR schädigen und ihre Finanzen unter Kontrolle des BND bringen. Insbesondere treffe das auf Herrn Bahl zu, durch den auch die westlichen Dienste mit im Geschäft sind".
Mit diesem glasklaren Abschussbefehl vom Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR war das Schicksal des ZM besiegelt, zumal der frühere Befürworter Erich Honecker nicht mehr die Kraft hatte, sich gegen die geballte Kraft seiner Untergebenen Schalck und Mielke zu wehren.
Am 12. Februar 1987 erfolgte eine weitere, dokumentierte Aussprache zwischen der Abwehr und der HV A zum ZM, in der sich die Fronten zusätzlich verhärteten. Es begann mit einem Paukenschlag gegen die HVA: der IM Händler habe ohne Wissen seiner Dienstvorgesetzten die Gespräche mit Bahl geführt, die ausschließlich operativen Charakter gehabt hätten. Der weitere Einsatz des IM Händler sei nunmehr nicht mehr erforderlich und werde verboten. Ein von dem damaligen Bundestagspräsidenten Dr. Jenninger vorgeschlagenes geheimes Treffen zwischen ihm und Nitz in Bonn zum Thema "Neue Aspekte in der Deutschland-Politik" werde auf Befehl von Mielke der HVA untersagt. Das war es dann auch.
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Das "Länderspiel" als Planspiel einer deutsch-deutschen Konföderation im Jahr 1987
Das letzte mir vorliegende, dokumentierte Lebenszeichen des ZM ist eine Begegnung vom 13. März 1987 im Palast-Hotel Berlin anlässlich eines Messeempfangs der Westdeutschen Landesbank, an welcher neben Andrä auch der "IMS Gärtner" alias Herbert Goulnik, seinerzeit Handelsrat der DDR in der Schweiz, teilnahmen. In seinem Bericht über dieses an seine MfS Führungsoffiziere gerichtete Schreiben unterzeichnete Andrä nach meiner Kenntnis erstmals mit seinem neuen Decknamen "IMB Anton". Die Atmosphäre war ungewohnt bitter und kontrovers, bei Andrä immer ein Zeichen, dass er bei seinen Oberen unter Druck stand. Nach intensiver Diskussion einigten wir uns immerhin auf einen Formulierungsvorschlag für eine Erwähnung des ZM in den anstehenden Vier-Augengesprächen Günter Mittags mit Kohl und Vogel auf eine "vom IM dargelegten Variante sowie Aspekte des Länderspiels".
Alsdann wurde ich von Andrä darüber unterrichtet, dass der IM Händler aufgrund von Indiskretionen beim sogenannten "Länderspiel" erneut Kontaktverbot zu mir bekam. Nitz hätte auf Äußerungen desdamaligen CDU-Bundesschatzmeisters Walther Leisler-Kiep hingewiesen, der in einem Gespräch mit dem Genossen Schalk, angeblich legitimiert durch die Bundesregierung, Bezug auf das Länderspiel genommen hatte. Vor diesem Hintergrund liefen meine Gespräche mit Jenninger, Wienand, Andrä, Nitz, und Häber nunmehr in eine andere Richtung, und das Unmögliche wurde nicht mehr ausgeschlossen: eine wie immer geartete deutsch-deutsche Zusammenarbeit bis hin zu einer möglichen Konföderation unter eben jenem Codenamen "Länderspiel". Kernelemente waren:
Volle diplomatische Anerkennung der DDR durch die BRD
Volle Freizügigkeit im Reiseverkehr DDR-BRD
Phillip Jenninger und Karl Wienand setzten voll auf Risiko. Das Unmögliche sollte am Beispiel der Grenzregelung Österreichs zu Ungarn auf die beiden deutschen Staaten übertragen werden. Einschränkend muss ich aber sagen: Die vorliegende Dokumentation zum Projekt Länderspiel ist schwach. Die diesbezüglichen Akten der HV A sind offenbar komplett vernichtet, bei der MfS-Abwehr gibt es nur wenige Berichte des IMB Anton und einige Stellungnahmen mit Auswertung, die das Länderspiel, noch mehr als das ZM, als subversives Produkt des politischen Gegners darstellen. Aber eine vorsichtige Wertung sollte trotzdem möglich sein: Erstmals wurde über das "Länderspiel" in der Analyse des MfS-Oberst Horst Roigk vom 18.5.1987 an die Hauptabteilung XVIII/14 mit Kopie an Generalmajor Alfred Kleine berichtet. In dieser Analyse wurden folgende Eckpunkte des Länderspiels aufgezählt:
Übertragung gewisser zwischen der UVR-Ungarn und Österreich bestehenden Regelungen und Gegebenheiten auf die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD zur Regelung von völkerrechtlichen Beziehungen beider Staaten zueinander, der Situation an der gemeinsamen Staatsgrenze und des gegenseitigen Reise- und Besuchsverkehrs
die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die BRD unter Änderung des Grundgesetzes bei Beibehaltung des derzeitigen Status von Westberlin
die Umwandlung der Ständigen Vertretungen beider Staaten in Botschaften
den Verzicht auf Ausstellung von BRD-Pässen an Bürger der DDR durch BRD-Behörden
Gleichbehandlung von Asylgesuchen von DDR-Bürgern in der BRD wie Gesuche von Asylbewerbern aus anderen Ländern in der BRD
Freizügigkeit im gegenseitigen Reise- und Besucherverkehr
Wegfall der Reisealtersbegrenzung für DDR-Bürger bei Reisen in die BRD und Westberlin
Wegfall der Visumspflicht bei Reisen in beide Staaten.
Auf Seiten der Bundesrepublik gehörten Phillip Jenninger, seit November 1984 Präsident des Deutschen Bundestages, Staatssekretär Otto Hennig und Karl Wienand als Befürworter zu den wenigen voll eingeweihten Personen. Informiert auf DDR-Seite und Befürworter des "Länderspiels" waren zunächst der Präsident der Volkskammer der DDR, Horst Sindermann, sowie das spätere Mitglied des Politbüros, Prof. Herbert Häber. Mit von der Partie im Hintergrund war ebenfalls auf sehr glattem Eis das MfS-Agentenduo Andrä und Nitz.
Aber auch hier griff die MfS-Abwehr ein: Mit Schreiben vom 18.Mai 1987 übersendete die Hauptabteilung XVIII eine Analyse zur "OPK Agentur" (Deckname für Bahl, also mich) an Generalmajor Alfred Kleine, der sie am 14.5.1987 zur Kenntnis nahm. In dieser Analyse wurde das "Länderspiel“ als für die Sicherheit der DDR gefährlich eingestuft: Danach würde die BRD einige Forderungen der DDR formell anerkennen, wie beispielsweise die Staatsbürgerschaft. Anderseits müsste die DDR Regelungen zustimmen, die der BRD neue Möglichkeiten für die "Realisierung ihrer subversiven Zielstellungen gegen die DDR" eröffnen würden. Diese neuen Möglichkeiten würden sich "aus einer Ausdehnung des Besucher- und Reiseverkehrs in Verbindung mit der Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten der zuständigen Organe der DDR im grenzüberschreitenden Verkehr objektiv ergeben".
Nachdem die HV A auf Weisung Erich Mielkes beim ZM voll ausgeschaltet wurde, geschah das gleiche nun beim „Länderspiel“. Damit wurde eine zweite und letzte Möglichkeit der behutsamen deutsch-deutschen Annäherung Richtung einer Konföderation zerstört.
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Wie lesen sich diese Erfahrungen nach über drei Jahrzehnten?
Nach der Wende habe ich mich mit meinen beiden Ex-DDR Gesprächspartnern und nunmehr Freunden Andrä und Nitz zunächst regelmäßig in Berlin getroffen. Manchmal waren auch Karl Wienand und Herbert Häber dabei. Aber Andrä wie Nitz verstarben viel zu früh: Andrä an einem Herzleiden, Nitz an einem bösartigen Tumor.
Beide haben sich, wie ich es auch heute sehe, unter voller Wahrung der Interessen ihres Staates DDR, voll für ein deutsches Miteinander eingesetzt und sind dabei erhebliche persönliche Risiken für sich und ihre Familien eingegangen. Nur wer die reale Situation im geteilten Deutschland und im Kalten Krieg in diesen Jahren miterlebt hat, kann und wird mich verstehen: Die Kameraden, (wenn ich diesen Begriff für meine Verhandlungspartner verwenden kann), auf der anderen Seite der Mauer hatten es erheblich schwerer als wir.
Aber noch immer sind viele Fragen offen und damit auch viele Kapitel nicht geschrieben. Die Archive der bundesdeutschen Dienste sind noch immer zu verschlossen. Erst nach deren vollständiger Öffnung und Auswertung lässt sich ein endgültiges Urteil fällen.
Der Autor war langjähriger Bankier in der Schweiz und ist Autor des Buches "Holger Bahl, Als Banker zwischen Ost und West, Zürich als Drehscheibe für deutsch-deutsche Geschäfte", erschienen in Zürich 2002. Bahl ist mittlerweile Pensionär.
Zitierweise: Holger Bahl, "Geheimdienste, „Zürcher Modell“ und „Länderspiel““, in: Deutschland Archiv, 18.03.2022, Link: www.bpb.de/506162. Weitere Beiträge zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Publizist und Finanzfachmann Holger Bahl war langjähriger Bankier in der Schweiz und ist Autor des Buches "Holger Bahl, Als Banker zwischen Ost und West, Zürich als Drehscheibe für deutsch-deutsche Geschäfte", erschienen in Zürich 2002. Bahl ist mittlerweile Pensionär.
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