In den letzten April- oder ersten Maitagen 1945 krochen wir aus dem Luftschutzkeller. Tage der Befreiung von Hitlers Terrorregime durch den Opfergang, den Kampf von ungezählten Russen. Meine Mutter war mit uns drei Kindern im Keller meiner Großeltern untergekommen. Zuvor hatten wir tagelang im sogenannten Gesundbrunnenbunker beim Berliner Humboldthain Zuflucht gesucht. Ich war noch nicht einmal fünf Jahre alt. Mitte Mai kamen Russen auf unseren Hinterhof in Berlin Pankow. Sie haben zuerst nach Nazis gesucht, doch das weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter.
Sehr gut aber erinnere ich mich daran, dass auf dem Hof eine Art Feldküche aufgebaut wurde. Eine mit uns Kindern besonders freundliche junge Russin teilte aus einem in meiner Erinnerung „riesigen“ Kessel Suppe aus, an alle, auch an die etwa 50 Bewohner des Hauses, Dazu gab es schwarzes Kastenbrot und wir Kinder erhielten in die Hände jeweils eine Kelle Schmalz. Meine Mutter berichtete oft, wie viel Angst sie vor russischen Eroberern hatte, doch die Soldaten waren freundlich bis neutral, ein Offizier sprach ziemlich gut Deutsch und wollte, so meine Mutter, mehrfach ein kleines Goethe-Gedicht aufsagen.
Nur wenige Jahre später eine andere Welt. Wir wohnten nun im Französischen Sektor nur knapp 200 Meter vom Sowjetsektor entfernt. Unter der Wollank-Brücke an der Grenze zwischen den Bezirken Wedding, West und Pankow, Ost hindurch sah man – aufgebaut auf einem mehrere Meter hohen Gestell – ein Porträt des Genossen Stalin, direkt neben einem kleinen Franziskanerkloster, dessen Kapelle wir jeden Sonntag besuchten. Und schon war meine Heimatstadt gespalten – in den „westlichen“ Westen und den „russischen“ Sektor.
Noch 1946 und 1947 war unsere Mutter mit uns drei Kindern Richtung Oranienburg gefahren. Wir sammelten Kienäpfel, Mutter schnitt aus den Stubben gefällter Kiefern Kleinholz. Auf dem Weg zu dem Waldstück mussten wir am ehemaligen KZ Sachsenhausen vorbei. Hinter dem Zaun starrten uns Männer an. Auf dem Wachtturm standen Soldaten der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Russen hatten das deutsche KZ-Lager übernommen und hielten dort ehemalige Nazis und Mitläufer aber auch „Kapitalisten“ und „verdächtige Kritiker“ gefangen.
Später hat mich mein Vater 1948, während der Blockade Berlins durch die Sowjetunion, zum Platz vor dem Reichstagsgebäude mitgenommen. Ernst Reuter habe ich mit seinem Hilfs-Appell an „Die Völker der Welt“ vor hunderttausenden West-Berlinern gehört: „Schaut auf diese Stadt!“ Die Blockade wurde aufgehoben.
Die russischen Besatzer, einst Befreier, halfen nun mit ihrer Militärmacht der ungeliebten SED beim „Aufbau des Sozialismus“. Russische Panzer erstickten am 17. Juni 1953 den Aufstand der Arbeiter in Ost-Berlin. Von meiner Schule in der Tiergartenstraße aus war ich zum Potsdamer Platz gelaufen und sah das „Haus Vaterland“ in Flammen. Vor russischen Panzern, die rings um Berlin in der „Zone“ tausendfach stationiert waren hatten die West-Berliner Angst, besonders nach dem „Chruschtschow-Ultimatum“ 1958, mit dem der Westteil der Stadt der Sowjetischen Zone gewaltsam eingegliedert werden sollte. Am 4. November 1956 hatte ich in der Schülerzeitung „Agora“ des Berliner Goethe-Gymnasiums bereits meinen ersten politischen Kommentar geschrieben. Sicher in ungelenken Sätzen verurteilte ich den Einmarsch der „Roten Armee“ in Budapest, die den Freiheitskampf der Ungarn mit Panzern niederwalzte.
Dann war ich Zeuge des Mauerbaus und seiner Folgen, sah Ende Oktober den sowjetischen Panzer an der Sektorengrenze beim Checkpoint Charlie, ihm Gegenüber ein Panzer der US-Armee.
Ich wurde Journalist bei RIAS Berlin und dann beim ZDF. Jahre später sah ich wie die Deutschen meiner Generation hilflos zu, dass alle Hoffnungen auf Alexander Dubceks Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“, dass der „Prager Frühling“ 1968 brutal beendet wurde. Filmaufnahmen für die erste Dokumentation über Alltag der DDR in Potsdam musste ich in diesen Tagen vorzeitig abbrechen. Auf der von Stasi-Autos begleiteten Fahrt zurück nach Ost-Berlin und dann bis zur innerstädtischen Grenze sah ich endlose Kolonnen sowjetischer Militärfahrzeuge und Panzer. Am nächsten Morgen meldete RIAS Berlin den Einmarsch der „Roten Armee“ in Prag. Ich lebte vier Jahre lang als ZDF-Korrespondent in Ost-Berlin, während der damals noch hoffnungslosen Jahre in der DDR, wurde als Journalist aus dem Westen auch in die sowjetische Botschaft unter den Linden „zu Informationen“ eingeladen.
Die Gespräche mit Russen waren meist höflich, ziemlich verklemmt und distanziert. Mit der Wahrheit nahmen es in der Epoche des Kalten Krieges beide Seiten nicht so genau. Treffen der sogenannten „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ in der DDR beobachtete ich als parteilich verordnete Beziehungsübungen. Sowjetische Kasernen oder Militäranlagen waren für westliche Kameras absolut tabu.
Im Dezember 1981 erlebte ich als journalistischer Reisebegleiter von Bundeskanzler Schmidt bei der Begegnung mit Honecker in Güstrow die Verhängung des Kriegsrechts gegen Polens Solidarnosc. Der „Kalte Krieg“ war nie wirklich kalt. Nach 1953 Berlin, 1956 Budapest, 1961 Mauerbau, 1968 Prag und 1981 Polen schien die sowjetische Atom-Macht ungebrochen.
Doch dann war ich zu Gorbatschows Glasnost- und Perestroika-Zeiten 1988 in Moskau, wo am Gebäude der Zeitung „Iswestija“ ein riesiges Stalin-Porträt hing. Aus der Tabakspfeife des Diktators quoll Rauch, der aus tausenden kleinen Totenköpfen zusammengesetzt war. Zum ersten Mal seit dem Oktober-Putsch der Kommunisten 1917 konnte, durfte „im russischen Frühling“ öffentlich geweint, getrauert oder wütend dagegen protestiert werden, was seit Lenins und Stalins Zeiten unzähligen Sowjetbürgern, Russen, angetan worden war. Auch die Zeit des Gegenübers von sowjetischen SS-20 und amerikanischen Pershing 2-Raketen ging zu Ende. Die Menschen riefen einen Russen, „Gorbi“, zu Hilfe, die Berliner Mauer fiel.
Wenige Monate zuvor konnte ich – inzwischen Ost-Europa-Korrespondent – die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ am 2. Mai 1989 durch ungarische Pioniere im Fernsehen zeigen. Kurz danach im Juni nahm mein Kamerateam kaum zu glaubende Bilder auf. Ich berichtete, wie die ersten Einheiten der Südgruppe der Sowjetarmee, Panzer auf Eisenbahnwagen und insgesamt 70.000 Soldaten, von zahlreichen Zuschauern mit Beifall auf „Nimmer-Wiedersehen“ verabschiedet, Ungarn verließen.
Mal Tyrannen, mal Aggressoren, mal Diplomaten, lange Zeit Besatzer
Sowjets, Russen, mal Tyrannen, mal Aggressoren, mal Diplomaten, lange Zeit Besatzer, nur kurze Zeit Gorbatschow, aber immer – in heutigem Deutsch niedlich formuliert – Influencer, erst im geteilten, dann im vereinten Deutschland und Europa.
All das war plötzlich wieder in meinem Kopf, als ich die "Rede an die Nation" des russischen Präsidenten Putin am Montag, dem 21. Februar abends im Fernsehen sah, als er sich die Geschichte der Ukraine für seinen Krieg drei Tage später zurechtbog: "Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland..." Ich habe unziemliche Vergleiche mit der NS-Zeit stets verurteilt. Und das gilt (galt) ganz besonders für die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, Russland, Weißrussland und Ukraine, in denen nationalsozialistischer Terror gewütet hatte.
Unvergesen: Babyn Jar
Dennoch unter dem Eindruck der Drohungen Putins erinnerte ich mich auch an Orte der deutschen Barbarei, besonders an das Massaker im Tal von Babyn Jar, das vor den Toren von Kiew liegt, und spätestens jetzt wollte ich mein Gedächtnis über den Beginn der nationalsozialistischen „Militär-Operationen“ auffrischen, die genauen Daten von 1938 – Einmarsch von Hitlers Armee in die Tschechoslowakei ? – und schaute bei Wikipedia nach. (ZITAT)Die Sudetenkrise oder sudetendeutsche Krise im Jahr 1938 war ein vom nationalsozialistischen Deutschland provozierter und eskalierter internationaler Konflikt mit dem Ziel, die staatliche Existenz der Tschechoslowakei zu zerstören und ihre böhmischen und mährischen Landesteile dem deutschen Reichsgebiet einzuverleiben. Konrad Henlein und die von ihm geführte Sudetendeutsche Partei als Vertreter der deutschen Minderheit arbeiteten dabei mit Adolf Hitler und der NS-Führung zusammen.
Sofort fiel mir auf: Staat und Jahr, handelnde Personen, sowie Absicht des Aggressors damals wären auf schreckliche Weise spiegelbildlich mit den Tagen von 2022 austauschbar. Die Tage nach dem 21. Februar gaben dem ungeheuerlichen Verdacht Recht. Als Putins hunderttausendfache Militärmaschine von ihren angeblichen „Manövern“ Tage später in die Ukraine eingebrochen war, hatte sich der russische Außenminister und Tatsachenverdreher Lawrow vor aller Welt endgültig als Lügner entlarvt.
Michail Gorbatschow hatte einst mit Glasnost – zu Deutsch: Offenheit, Kritik – der Wahrheit über die finstere Stalin-Vergangenheit und die elende kommunistische Gegenwart den Weg geebnet. Putin hat die Verfolgung von Wahrheit und seine Lügen zum Motor einer verbrecherischen Politik gemacht. Es begann in Russland selbst. Kritische Aktivisten und Journalisten waren ihres Lebens nicht mehr sicher.
Die übersehenen Warnsignale
Der Mord an der Publizistin Anna Politowskaja im Oktober des Jahres 2006 war eines der ersten Warnsignale. Putin steuerte in seiner zweiten Amtszeit als Präsident in die Diktatur, in den Medien vornehmer als autoritär geführte Demokratie bezeichnet. Deutschlands Ex-Kanzler, Förderer und Nutznießer der russischen Gaslieferungen, Gerhard Schröder, nannte seinen Freund Putin einen „lupenreinen Demokraten“. Es folgten Geheimdienstmorde an Kritikern im Ausland. Putin-Gegner Boris Nemzow wurde im Februar 2015 in Sichtweite des Kremls beim Spaziergang erschossen. Der wahrscheinliche Auftraggeber, der Ex-Geheimdienst-Offizier Putin gab sich ahnungslos.
Zuvor hatte der Kreml-Herrscher die ukrainische Krim überfallen, mit grünen Männern, die sich als Selbstverteidiger russisch-sprachiger Krim-Bewohner ausgaben. Panzer, die nicht als russische Kriegsmaschinen gekennzeichnet waren, unterstützten die völkerrechtswidrige Annexion. Das störte den Bau der Gaspipeline Nordstream 2, der 2011 mit Angela Merkel und dem russischen Ministerpräsidenten Medwedjew feierlich vereinbart worden war, nicht. Gegen den Protest fast aller deutscher Nachbarn wurde – gewissermaßen an der Ukraine vorbei – weitergebaut. „Wandel durch Handel“ hieß die hoffnungsvolle Devise.
Der Giftanschlag auf Putins prominentesten Gegner, Alexei Nawalny, im Sommer 2020 und seine Rettung in der Berliner Charité ging wochenlang durch unsere Nachrichten. Unbekannte, sicher Putins Geheimdienstler hatten Nawalnys Unterhose mit Nowitschok-Nervenkampfstoff getränkt. Der genesene Nawalny wagte es, in seine Heimat Russland zurückzukehren, wurde prompt verhaftet und sitzt seitdem in einem Spezial-Gefängnis.
Gerade hat er von dort seine russischen Landsleute zu Demonstrationen gegen Putins Krieg aufgerufen. Und von zahlreichen Demonstrationen aus vielen Städten Russlands wird täglich berichtet. Auch auf dem Puschkin-Platz in Moskau stehen sie wieder am Denkmal des großen russischen Dichters in stummem Protest wie zu Stalins Zeiten, stumm, weil es gefährlich ist das Wort Krieg laut zu sagen. Es gibt das andere Russland, auch wenn die ehrenhafte Organisation „Memorial“ von Putins willfähriger Justiz als „ausländischer Agent“ erst vor kurzem verboten wurde. Spätestens da war klar, dass der Diktator sein Land innenpolitisch derart unterdrückt, dass seine dann „Spezial-Operation“ genannten Verbrechen öffentlich nicht mehr Krieg genannt werden sollten. Aber was soll das denn bitteschön anderes als Krieg sein, was derzeit in Kiew und andernorts in der Ukraine geschieht, verursacht durch russische Truppen?
Erinnerung an Ernst Reuters Worte
Und ich sitze jeden Abend vor dem Fernseher: Bilder von Menschen in U-Bahn-Stationen oder Kellern, zusammengedrängt voller Angst. Ich weiß noch, wie das war im Gesundbrunnenbunker oder in Großvaters Luftschutzkeller. Ich höre wieder die Schreie der Frauen und das dumpfe Stöhnen der Männer, wenn die Bunkerwände bei Bombeneinschlag in Berlin damals und heute in Charkiw, Mariupol oder Kyiv zittern.
Aber ich höre auch wieder jene Worte Ernst Reuters aus dem Jahr 1948, als mich mein Vater mit vor den Reichstag nahm:
„Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt! Es gibt nur eine Möglichkeit für uns alle: gemeinsam so lange zusammenzustehen, bis dieser Kampf gewonnen, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Finsternis besiegelt ist.“
Da sagte Ernst Reuter am 9. September 1948 während der Blockade Berlins durch die Sowjetunion.
Damals Berlin – heute Kyiv? Charkiv? Mariupo!? Cherson und viele andere Orte in unserem europäischen Nachbarland? Wo Menschen noch immer in der schrecklichen Angst vor Bomben und Soldaten leben müssen, und wo absehbar ist, dass über drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bald ein feindbildgeprägter neuer zwischen Menschen wächst. Welch Wahnsinn anno 2022 mitten in Europa.
Zitierweise: Joachim Jauer, "Ihr Völker der Welt", in: Deutschland Archiv, 5.3.2022, www.bpb.de/505872.
Zu allen weiteren Texten in der Rubrik Externer Link: "Zeitenwende? Stimmen zum Ukrainekrieg und seinen Folgen". Darunter sind:
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow: Externer Link: "Sie haben die Zukunft zerbrochen", Deutschland Archiv 30.4.2021
Uwe Hassbecker: Externer Link: "Putin meint uns", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolfgang Templin, Externer Link: "Wurzeln einer unabhängigen Ukraine", Deutschland Archiv vom 23.3.2022
Gerd Koenen, Externer Link: "Die russische Tragödie, die auch die unsere ist", Deutschland Archiv 26.3.2022
Cedric Rehman, "Externer Link: Vertreibung ist auch eine Waffe", Deutschland Archiv 27.3.2022
Eva Corino, "Externer Link: Mehr Willkommenklassen!", Deutschland Archiv 24.3.2022
Wolf Biermann, Externer Link: Am ersten Tag des Dritten Weltkriegs, Deutschland Archiv vom 25.2.2022
Ekkehard Maas, Externer Link: Russlands Rückfall in finsterste Zeiten, Deutschland Archiv vom 28.2.2022
Wladimir Kaminer, Externer Link: "Putin verursacht nur Scheiße", Deutschland Archiv vom 2.3.2022
Jörg Baberowski, Externer Link: Das Verhängnis des Imperiums in den Köpfen, Deutschland Archiv 3.3.2022
Tobias Debiel, Externer Link: Kalter und heißer Krieg. Wie beenden? Deutschland Archiv 4.3.2022
Joachim Jauer, Externer Link: "Ihr Völker der Welt", Deutschland Archiv 6.3.2022
Weitere Betrachtungen aus unterschiedlichsten Perspektiven werden folgen.