Wurzeln und Verflechtungen
Sharon Adler: Du sprichst fließend Deutsch, Englisch, Hebräisch, Russisch und Spanisch, hast in Heidelberg, Buenos Aires und Herzliya studiert und in Berlin, New York, Zürich und Brüssel gearbeitet. Welche Wurzeln und Verflechtungen finden sich in deiner Familienbiographie?
Dalia Grinfeld: In meiner Familie finden sich verschiedenste Kulturen, Traditionen und auch Werte, die sich über Generationen gehalten haben, aber auch Progressivität. Während ich in Stuttgart geboren wurde und in Berlin aufgewachsen bin, stammen meine Elternteile aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Riga, dem heutigen Lettland, sowie aus Cordoba und später Buenos Aires, Argentinien. Also aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Kennengelernt haben sie sich in Israel, von wo aus sie nach Deutschland gegangen sind. Das ist eine sehr spannende Kombination, eine Vermischung von Verschiedenem. Ich selbst fühle mich dadurch sehr multikulturell und auch sehr multikulturell bereichert. Wenn man von überall herkommt, passt man einerseits nirgends ganz rein, und gleichzeitig ist das Tolle, dass man Verschiedenes kennt, was man mitnehmen und weitergeben kann. Ich bin dankbar, dass ich diese Reise bisher mitgemacht habe und bin gespannt, wo die Reise für mich hingeht.
Sharon Adler: Inwiefern steht dein multikultureller Familienhintergrund für eine „typische jüdische Biographie“ (in der es nichts Ungewöhnliches ist, dass sich viele Familienzweige miteinander verkreuzen)?
Dalia Grinfeld: In unserer Generation – wir sind jetzt die dritte Generation nach der Shoah – gibt es besonders in Europa nur wenige jüdische Familien, wo die Großeltern an demselben Ort geboren und gestorben sind. Nicht aus eigener Entscheidung, sondern durch Flucht und Vertreibung. Auch meine Familiengeschichte ist davon seit vielen Generationen geprägt. Meine Familie in Argentinien ist vor den Pogromen im russischen Zarenreich dorthin geflüchtet. Und wegen der schwierigen Fluchtgeschichten aufgrund der Shoah, wo Kinder von den Eltern und Großeltern getrennt wurden, gehört es auch heute noch zu unserer jüdischen Biografie dazu, Flucht und Vertreibung als eine Option mitzudenken. Und dass man sich nie ganz zuhause fühlt und daher auch nach Israel oder in die USA schaut, und überlegt, wo man reinpasst.
Sharon Adler: Wann und von wo ist deine Familie nach Deutschland gekommen – und wohin ist sie gegangen?
Dalia Grinfeld: Meine Familie ist in den 1970er-Jahren aus Riga, dem heutigen Lettland, nach Israel ausgewandert. Kurz vor dem Yom-Kippur-Krieg 1973 ist sie über Wien nach Berlin eingereist. Sie war Teil der ersten Emigrationswelle aus der Sowjetunion – über Israel nach Deutschland. Meine Mutter war damals sieben oder acht Jahre alt. Wie alle anderen waren sie erst in einem Auffanglager. Das war ein rundes weißes Haus, das haben sie alle auch untereinander so genannt: круглый дом, also „rundes Haus“. Das war die gängige Einwanderungserfahrung für die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. In Berlin haben sie ein bisschen Wurzeln geschlagen. Sie haben sich eine eigene Wohnung gesucht, angefangen zu arbeiten und die Sprache gelernt. Mein Onkel wurde geboren. Aber als meine Mutter zur Oberschule gehen sollte, entschieden meine Großeltern wegen der besseren Bildungschancen und beruflichen Qualifikationen der Kinder, in die USA zu gehen, wo sie viele Jahre gelebt haben. Dort hat meine Mutter ihren High-School-Abschluss gemacht. Nach ihrem Uni-Abschluss in Zahnmedizin hat sie nochmal Aliyah gemacht, nach Herzliya. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt. Er ist zur selben Zeit als Zahnarzt aus Argentinien nach Israel ausgewandert. Sie haben zwei Jahre zusammengelebt und sind dann gemeinsam nach Deutschland gegangen. Nach Stuttgart.
Nach Deutschland zurück zu gehen, war vor allem eine berufliche Entscheidung, ein Grund war aber auch, dass sie schon etwas Deutsch sprachen. Sie hatten schon einen Bezug zum Land, und es war nichts ganz Fremdes. Gleichzeitig hatte man noch die Erinnerung daran, nicht ganz hinein und nicht ganz dazu zu passen. Auch war in den 1970er-Jahren die NS-Geschichte überhaupt noch nicht aufgearbeitet. Die Fragen danach, ob man mit Kindern ehemaliger Nazis zur Schule gegangen ist, mit wem man seine Kindheit und Jugend verbracht hat und in welchen Elternhäusern ihre Freunde aufgewachsen sind, waren im Nachhinein ganz schwierig. Man kann sich ja zusammenrechnen, was der 65-jährige Lehrer oder die Lehrerin während der NS-Zeit gemacht hat und welche Ideologien die Person unterstützt hat. Das ist heute eine ganz andere Situation, denn jetzt findet viel mehr Aufarbeitung zu dem Thema statt, vom Staat, von der Gesellschaft und von zivilgesellschaftlichen Institutionen.
(Jüdische) Bildung und Schule
Sharon Adler: Welchen Stellenwert hatten deine Bildung und die Vermittlung jüdischer Traditionen für deine Eltern?
Dalia Grinfeld: Einer der Gründe, warum sie im Jahr 1996 nach Berlin gezogen sind, war, dass es in Stuttgart kaum jüdische Bildungseinrichtungen gab. Vor allem meine Mutter wollte, dass ich die Möglichkeit habe, jüdische Bildung zu genießen. Nicht im orthodox-religiösen Sinne, sondern auf einer Bildungs- und Zugehörigkeitsebene, die weder bei ihren Eltern noch bei ihnen selbst möglich war, aufgrund von Antisemitismus und Vertreibung. Und wegen des fehlenden jüdischen Lebens in Deutschland in den 1970er-Jahren. Ich sollte diese Möglichkeit bekommen, aber ich wurde nie dazu gedrängt. Nach dem jüdischen Kindergarten und der jüdischen Grundschule habe ich mich selbst dafür entschieden, auf das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn
Sharon Adler: Inwieweit siehst du die Institution (jüdische) Schule als Ort der Bildung und Vermittlung jüdischer Identität und eines jüdischen Selbstbewusstseins?
Dalia Grinfeld: Auf der jüdischen Oberschule wurde ehrenamtliches Engagement sehr gefördert und geschätzt. Es gab viele Möglichkeiten, sich in der Schulgemeinschaft einzubringen, Schulprojekte selbst zu organisieren. Ich habe damals den sozialen Tag initiiert und unsere Schule war dann für viele Jahre – oder sogar bis heute – eine „Schule mit Courage“.
Sharon Adler: War das Lernen unter Polizeischutz für dich „normal“?
Dalia Grinfeld: Für uns gehörten Polizeischutz und Überwachungskameras dazu. Wir haben das nicht als Barriere gesehen. Der Punkt, an dem ich mich gefragt habe, ob das Normalität ist, war, als mich ein nicht-jüdischer Kumpel aus einem anderen Bundesland besucht hat und mich fragte: „Oh krass, ist eure Schule neben einem Gefängnis?“ Da wurde mir zum ersten Mal ganz deutlich bewusst, dass das nicht die Realität für alle ist, aber eben meine und unsere Lebensrealität. Der Fakt, dass wir schon von klein auf gelernt haben, den Unterschied zwischen Feueralarm und Terroralarm zu erkennen, ist gesamtgesellschaftlich gesehen absolut nicht normal. Für uns war das aber Alltag. Wir hatten immer mal wieder antisemitische Vorfälle im Umfeld der Schule und waren daher dankbar, dass wir die Möglichkeit hatten, zur Polizei zu gehen und uns in einen sicheren Raum zurückzuziehen. Gleichzeitig hatten wir – wie jede andere Schulgemeinschaft – Streit, Stress und Cliquen-Wirtschaft. Also eine ganz normale Schule mit ein paar Besonderheiten. Ich glaube, das war auch eine sehr wichtige Erfahrung für die nicht-jüdischen Schüler:innen. Die haben bis heute eine viel engere Verbindung zum Jüdischen.
Sharon Adler: Welche der im Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn vermittelten Werte (etwa zu jüdischer Ethik) hast du in dein Engagement heute mitgenommen?
Dalia Grinfeld: Das ist eine Kombination aus Verschiedenem. Die Werte, die ich heute lebe, sind auch durch die Schule, das Jugendzentrum, die Familie, mein Ehrenamt, und viel Vereinsarbeit geprägt. Fragen zu stellen, ist im Judentum ein grundsätzlicher Gedanke. Ich denke dabei zum Beispiel an die vier Fragen zu Pessach. Dass Interesse mich selbst und die Gemeinschaft weiterbringt und ein förderndes Element ist, habe ich in mein gesamtes Leben, auch in mein Arbeitsleben mitgenommen. Ich glaube, dass unsere jüdischen und demokratischen Werte in Beziehung zueinander stehen. Und dass das auch ein Teil von jüdischem Werteverständnis ist. Unsere jüdische Bildung, unsere jüdischen Werte, unsere Geschichte leiten uns dazu an, zu einem Wesen zu werden, das einen Beitrag in der Gesellschaft leistet. Die jüdischen Institutionen, in denen ich aktiv war und bin, basieren auf dem Leitgedanken von Tikkun Olam: Gegenseitiges Einsetzen füreinander, Unterstützen, Empowerment. Das ist die Basis, um die Welt ein Stück besser zu machen.
Sharon Adler: Was bedeutet Jüdischkeit für dich?
Dalia Grinfeld: Auf der individuellen Ebene bedeutet Jüdischkeit für mich, sich mit den vielen Facetten des Judentums zu beschäftigen und die für sich selbst bedeutsamen Aspekte in das Leben zu integrieren. Auf der kollektiven Ebene bedeutet Jüdischkeit für mich, eine gemeinsame und geteilte Geschichte, Gegenwart und Zukunft zu haben, die auf Texten, Geschichten, Traditionen, Sprachen, Kulturen und besonders Werten gründen.
Jüdisches in Schulbüchern
Sharon Adler: Im Kontext der Tagung „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Wege der
Dalia Grinfeld als Diskutantin und Speakerin bei der Fachtagung 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: „Wege der Begegnung mit jüdischer Vielfalt im Lernort Schule“ der Kultusministerkonferenz/KMK und der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (© Mara Adler, 2021)
Dalia Grinfeld als Diskutantin und Speakerin bei der Fachtagung 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: „Wege der Begegnung mit jüdischer Vielfalt im Lernort Schule“ der Kultusministerkonferenz/KMK und der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (© Mara Adler, 2021)
Begegnung mit jüdischer Vielfalt im Lernort Schule“
Dalia Grinfeld: Judentum im Schulbuch fängt bei 1933 an und hört bei 1945 auf, dann gibt es noch eine Seite im Mittelalter. Das war's. Ein wesentlicher Baustein, der in unserer Bildung in Deutschland zum Thema jüdisches Leben fehlt, ist, dass nur im Negativ-Kontext Holocaust, Antisemitismus und Nahost-Konflikt über Jüdinnen und Juden gesprochen wird. Und dass darüber hinaus gar nichts existiert. Daher setze ich mich auch dafür ein, dass wir in unseren Bildungseinrichtungen – sowohl formell als auch informell – mit realem jüdischem Leben und mit den komplexen Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden auseinandersetzen. Dazu gehören auch die positive jüdische Identität und unsere Geschichten und Traditionen, die wir mit uns tragen, auf die wir stolz sind. Also die Sichtbarmachung davon, dass jüdisches Leben für uns bedeutet, dass wir eine freudige, fröhliche jüdische Identität haben. Dass viel gesungen, getanzt und gelacht wird. Dieses Bild und dieses Verständnis sind überhaupt nicht da in Deutschland.
Und im Kontext Antisemitismus fehlt das Verständnis von dessen Komplexität und die Thematisierung, dass Antisemitismus, historisch und gesellschaftlich gesehen, eine Kontinuität hat und weit gestreut ist. Dass es nicht nur Hakenkreuz und Springerstiefel sind. Und dass es dieselben Mythen sind, die heute nur in neuer Form wieder aufkommen, oft in Bezug auf Israel. Mit Blick auf diese Kontinuitäten möchte ich ein Verständnis in der Gesamtgesellschaft schaffen. Vor allem auch schon in jungem Alter, um Empathie zu stärken.
Sharon Adler: Wie kann (die gemeinsame) jüdisch-deutsche Geschichte, Religion und Kultur vor und nach dem Holocaust mehr im Unterricht beziehungsweise In außerschulischen Lernorten integriert und das Bildungssystem verbessert werden?
Dalia Grinfeld: Ein konkretes Projekt ist das Bildungsprogramm der Anti-Defamation League (ADL) BINAH – Building Insights to Navigate Antisemitism and Hate.
Dalia Grinfeld im Café „Fine Bagels“ mit integriertem Buchladen „Shakespeare and Sons“ in Berlin-Friedrichshain, wo sie regelmäßig Bücher einkauft und traditionelle jüdisch-amerikanische Bagels genießt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Dalia Grinfeld im Café „Fine Bagels“ mit integriertem Buchladen „Shakespeare and Sons“ in Berlin-Friedrichshain, wo sie regelmäßig Bücher einkauft und traditionelle jüdisch-amerikanische Bagels genießt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Geeignet ist es für die 15- bis 18-Jährigen, also für die zehnte bis zwölfte Klasse. Ziel ist es, die Kontinuität von Antisemitismus und dessen verschiedene Erscheinungsformen zu verstehen. Aber auch, über persönliche Geschichten die Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden zu verstehen, sowohl das Positive, also jüdische Werte, Traditionen, Geschichten, Kulturen, Menschen – verschiedene Gesichter und gleichaltrige Gesichter – und auch, dass Antisemitismus leider Teil der jüdischen Lebensrealität ist. BINAH bildet dazu aus, ein Verbündeter, ein sogenannter Ally für Jüdinnen und Juden zu sein.
Sharon Adler: Du bist Mitgründerin und warst die erste Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD)
Dalia Grinfeld: Die JSUD wurde aus dem Bedarf heraus gegründet, dass es keine Dachorganisation für junge jüdische Erwachsene gab. Keine Repräsentation einer politischen, jüdischen, jungen Stimme. Und nach außen gab es keine Ansprechpersonen für politische Organisationen auf jüdischer Ebene. Die Vision war und ist, junge jüdische Menschen zu empowern, Projekte mitzugestalten, aktiver Teil von den jüdischen Gemeinschaften zu sein, aber auch Teil des gesellschaftspolitischen Deutschlands und Europas. Und auf internationaler Ebene mit jüdischen Organisationen und Institutionen europa- und weltweit zu arbeiten. Die Empowerment-Struktur war mir ganz wichtig. Also eine Struktur, in der es Möglichkeiten für jede und jeden gibt, sich zu engagieren, mit eigenen Ideen zu kommen, die wir dann mit Ressourcen – sei es finanziell, sei es ideell – unterstützen können, sodass wir gemeinsam an verschiedensten Projekten gleichzeitig arbeiten können. Damit sich junge Menschen zwischen 18 und 35 zugehörig fühlen und sagen können: „Ich kann mich hier engagieren, ich kann hier mitmachen und mitgestalten.“ Neben der Mitgestaltungsebene war mir auch die Repräsentanz-Funktion auf einer politischen Ebene wichtig. Wir haben sehr viel Arbeit reingesteckt, in verschiedenste Gremien wie den Deutschen Bundesjugendring hineinzukommen und verschiedenste Gremien zu vertreten, damit diese junge jüdische Stimme auch gehört wird. Weil wir bis dato das Gefühl hatten, dass unsere junge jüdische Stimme einfach nicht sichtbar und nicht hörbar war. Sei es in Jüdischen Gemeinden, in jugendpolitischen Organisationen oder aber auch auf Gesetzgebungsebene, wenn es vor allem um Antisemitismus auf dem Campus geht. Das war der Drive, und man sieht ja jetzt, fünf Jahre später, dass die JSUD gewachsen ist und schon viel erreicht hat.
Ich wollte mit unserem Vorstand und unserem Team neue Akzente setzen. Ein großes Thema war Women-Empowerment, das andere war LGBTIQ-Inklusion, und das dritte war die Minderheiten-Koalitionsbildung. Die erste Aktion, direkt nach der Wahl, war eine Aktion zum Frauentag, eine Nominierungskampagne von älteren, jüdischen Frauenpersönlichkeiten durch die junge Generation. Danach ging es direkt weiter mit einer Solidaritätskampagne für Sinti und Roma. Wir haben auf der Studierendenebene sehr viel mit unterschiedlichen marginalisierten Gruppen in Partnerschaft gearbeitet.
Und 2016 haben wir als erste repräsentative jüdische Organisation ganz offiziell und sehr laut gesagt, dass wir nicht mit der AfD reden und arbeiten werden. Das mündete in eine große Demonstration, als „Juden in der AfD“ gegründet wurde. Wir haben uns gegen die Instrumentalisierung ausgesprochen, und gleichzeitig hat auch der Zentralrat einen Brief geschrieben, den viele jüdische Organisationen unterschrieben haben. Ich glaube, dass dies in die Geschichte der JSUD als eines der größeren Dinge eingeht, die wir gestemmt haben.
Sharon Adler: Du bist heute stellvertretende Direktorin für europäische Angelegenheiten bei der European Affairs der Anti-Defamation League (ADL). Was macht die Organisation im Einzelnen und was sind deine Tätigkeitsfelder bei der ADL?
Dalia Grinfeld: Als ich die Präsidentschaft bei der JSUD geleitet habe und die ersten zwei Jahre die Organisation aufgebaut habe, habe ich gleichzeitig im Europa-Bereich zum Thema Bildung gearbeitet. Ich habe aber in diesem Ehrenamt gemerkt, dass das quasi ein Vollzeitjob plus Überstunden ohne Ende war, dass er mir aber sehr viel Freude bereitet und ich ein großes Interesse habe, daraus mehr als ein Ehrenamt zu machen. Und dass das Jüdisch-Aktivistische auch auf einer beruflichen Ebene Spaß machen könnte: weil ich so begeistert von dieser Arbeit war, weil ich jeden Tag so viel gelernt habe und viel geben konnte. Das hat mich sehr erfüllt. Ich hatte dann das Glück, dass mich einige jüdische Organisationen angesprochen und gefragt haben, ob ich Lust hätte, für sie zu arbeiten.
Ich bin bei der ADL gelandet, weil deren Visionen damit zusammenpassen, wie ich die Welt sehe. Und zwar, dass man gegen alle Formen von Hass einstehen soll. Die Mission von ADL ist: „To stop the defamation of the Jewish people, and to secure justice and fair treatment to all ... “. Kurz gesagt, sich gegen Antisemitismus, aber eben auch für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung für alle einzusetzen. Das war für mich mit ausschlaggebend. Und dazu ganz klar Modernität. Mit einem Center for Technology and Society, das vor fünf, sechs Jahren im Silicon Valley gegründet wurde. Das ist ganz nah dran, wenn es um Online-Hate geht und um die Gesetzgebung in den USA. Gleichzeitig ist die ADL mit 25 Regionalbüros die Ansprechorganisation in den USA, wenn es um antisemitische Vorfälle geht. Ich bin quasi der Export-Arm und bringe die verschiedenen Programme der ADL nach Europa, um jüdische Gemeinschaften bei den Themen Antisemitismus und Online-Hate & Co. zu unterstützen.
Antisemitische Verschwörungsmythen
Sharon Adler: Purim 2019 hast du dich unter dem Motto „Stop the FAKE NEWS“ verkleidet, und am 22. November 2021 hast du an der Diskussionsrunde „Blinde Flecken? Berichterstattung über Antisemitismus und antisemitische Aspekte in der Berichterstattung“ des Interkulturellen Mediendialogs Rhein-Main teilgenommen: Wie lautet deine Botschaft an die Medien?
Purim 2019 hat sich Dalia Grinfeld unter dem Motto „Stop the FAKE NEWS“ verkleidet, „um auf die zunehmend verfälschende und lückenhafte Berichterstattung in den Medien aufmerksam zu machen“. (© Dalia Grinfeld, privat)
Purim 2019 hat sich Dalia Grinfeld unter dem Motto „Stop the FAKE NEWS“ verkleidet, „um auf die zunehmend verfälschende und lückenhafte Berichterstattung in den Medien aufmerksam zu machen“. (© Dalia Grinfeld, privat)
Dalia Grinfeld: Bei der Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen oder Klischeebildern
Auffällig ist meiner Meinung nach, dass es bei unseren Medienmachenden kein holistisches Verständnis für Antisemitismus gibt. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sie Israel-bezogenen Antisemitismus
Sharon Adler: Welche Bilder von Jüdinnen und Juden existieren heute?
Dalia Grinfeld: Es gibt vor allem kein diverses Bild von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die meisten jüdischen Menschen haben schon einmal gehört, dass sie „gar nicht jüdisch aussehen“ würden oder sie seien die erste Jüdin oder der erste Jude, die oder den man jemals gesehen hätte. Es gibt eine ganz klare Vorstellung von Jüdinnen und Juden. Dazu tragen auch die Medien bei, indem sie immer nur eine bestimmte Art von jüdischem Leben zeigen. Wenn nicht Holocaust & Co., dann ist es das Schabbat-Essen oder irgendeine religiöse Zeremonie, die wahrscheinlich 70 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland in der Art und Weise, wie es dargestellt wird, nicht zelebrieren. Es gibt nur ein Narrativ, und das ist: „Antisemitismus ist furchtbar, und Jüdinnen und Juden sind Opfer und leiden. Das können wir in unseren Zeitungsartikeln und in unseren Medien bringen.“ Es ist eine wirklich verschobene Realitätswahrnehmung von jüdischem Leben.
Engagement, Frauen Empowerment, LGBTIQ*-Rechte und innovative Demokratie
Sharon Adler: In allen Bereichen deines Lebens engagierst du dich für jüdische Belange, für die jüdische Gemeinschaft, darunter in NGOs wie dem jüdisch-queeren Verein Keshet Deutschland, den du mitbegründet hast. Was wolltest und konntest du für die queere jüdische Community erreichen?
Dalia Grinfeld: Mit Keshet Deutschland haben wir schon in den ersten drei Jahren eine Community mit queeren jüdischen Menschen aufgebaut, wie es sie in der Form noch nie gab. Wir sind mittlerweile mit Regionalgruppen in Berlin, Frankfurt, München und NRW deutschlandweit vertreten, in denen sehr viele Menschen tagtäglich aktiv sind. Diese Community ist Gold wert. Und dieses Gefühl, wenn die Menschen über Keshet sagen, das sei der erste Ort, wo sie queer und jüdisch gleichzeitig sein können.
Die Enttabuisierung des Themas LGBTIQ innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist noch eine große Aufgabe. Wir haben damit angefangen, Programme und Seminare mit der ZWST, der jüdischen Wohlfahrtsorganisation, und anderen Organisationen auszuarbeiten. Das ist ein großer Fortschritt für unsere jüdische Gemeinde, aber trotzdem ein noch viel zu kleiner Schritt für unser jüdisches Gemeindeleben.
Das Dritte ist, dass wir auf der LGBTIQ-Ebene auch endlich eine jüdische Stimme haben. Eine jüdische Stimme, wenn es um LGBTIQ-Rechte geht, aber auch als Ansprechorganisation, wenn es um Antisemitismus in der queeren Community und grundsätzlich um das Thema jüdisches Leben geht.
Zu den größten Dingen, die wir geschafft haben, gehört das große Netz von Aktivist*innen. Das ist das größte Geschenk, was man als Gründungsmitglied und Gründungsvorstand bekommen kann: dass sich weiterhin Menschen engagieren und versuchen, diese Vision voranzutreiben. Und wir haben natürlich gutes Fundraising betrieben. Ich habe stabile Ressourcen für Keshet geschaffen.
Das Politische ist feministisch
Sharon Adler: Du bist auch Co-Initiatorin des Jewish Women Empowerment Summit (JWES).
Dalia Grinfeld: Das Jewish Women Empowerment Summit ist ein einzigartiger Ort, an dem junge jüdische Frauen zusammenkommen können und sowohl ihre feministischen Träume entdecken oder intensivieren können, als auch sich mit den Überschneidungs-themen von jüdisch und Frau auseinandersetzen können, und an dem wir untereinander in einem sicheren Raum diskutieren und uns austauschen können, etwas gemeinschaftlich aufbauen und bilden können. Es ist eine Atmosphäre, die kaum mit etwas anderem vergleichbar ist. Für mich selbst ist es ein Raum, in dem ich sehr gerne auch mit anderen jüdischen Frauen reflektiere und mich sehr entspannt auf diese Atmosphäre und diese Gemeinschaft einlasse. Es ist auch immer spannend, welche Themen aufkommen. Es ist ein reflektiver und gewinnbringender Raum für jüdische Frauen.
Sharon Adler: Du bist eine der Diskutantinnen im Jüdischen Quartett, einem Talk-Format der Amadeu Antonio Stiftung im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus. Was reizt dich daran, zu gesellschaftlich-aktuellen Themen aus feministisch-jüdischer Sicht zu debattieren?
Dalia Grinfeld: Das Quartett eröffnet eine neue Möglichkeit für Theorie, für Hintergrund und Verständnis. Eine multi-funktionale Perspektive, die wahnsinnig spannend ist, wenn man sich politische Debatten anschaut wie etwa die zum Paragraphen 219a. Die schöne Sache daran ist, dass man eine Multiperspektive einnehmen kann und verschiedenste Hintergründe – von der eigenen Identität, aber auch von der gesellschaftlichen Struktur – einbringen kann. Es ist gewinnbringend für alle, ein politisches oder gesellschaftliches Problem auch aus einem anderen Kontext heraus zu sehen. Ich hatte dadurch schöne und interessante Diskussionen, konnte im Kontext von Feminismus den jüdischen Aspekt mit einbringen und auch Leute durch die feministisch-jüdische Brille blicken lassen. Ich habe oft positives Feedback bekommen, weil das Jüdische Quartett auch auf einer subtilen und angenehmen Art und Weise jüdisches Leben nahebringt.
Sharon Adler: Gibt es weibliche jüdische Vorbilder, an denen du dich orientierst?
Dalia Grinfeld: Ganz besonders bewundere ich Gertrud Feiertag.
Zitierweise: „Dalia Grinfeld: „Junge jüdische Menschen empowern““, Interview mit Dalia Grinfeld, in: Deutschland Archiv, (Datum), 4.3.2022, Link: www.bpb.de/505853