Ihr Leben war eng mit der deutschen Teilung und der späteren Vereinigung verbunden. Nach der deutschen Katastrophe 1933 und der vollständigen politischen und moralischen Niederlage 1945 glaubte sie fest an einen demokratischen und sozialistischen Neubeginn – zunächst in der Freien Deutschen Jugend im Westteil Berlins in Wilmersdorf. 1948 wurde sie Redakteurin der SED-Zeitschrift „Neuer Weg“. Doch rasch geriet der Neuanfang in „Pankow“ unter sowjetisch-stalinistischen Vorzeichen zum Alptraum. Im Frühjahr 1949 flüchtete sie mit ihrem Freund Wolfgang Leonhard, der im April 1945 als Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ aus Moskau nach Deutschland zurückgekehrt und Dozent an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow geworden war, bei Nacht und Nebel über Prag nach Jugoslawien, das sich gerade vom Stalinismus losgesagt hatte. Am 15. April 1949 meldete das „Neue Deutschland“ lakonisch auf Seite 2: „Wolfgang Leonhard und Ilse Streblow sind wegen parteifeindlichen Verhaltens aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgeschlossen worden.“ Der Vorwurf lautete: „trotzkistische Tätigkeit“.
Schnell wurde die Zweistaatlichkeit zu Ilses Lebensthema. Ab Juli 1951 in der Bundesrepublik, gründete sie 1952 das „SBZ-Archiv“. Vierzehntäglich schrieben Autorinnen und Autoren aus Ost und West über die sich verfestigende Teilung, manchmal unter Pseudonym, denn es war gefährlich für „Renegaten“, im Westen über die DDR zu publizieren.
An der Wiege des „Deutschland Archiv“ entwickelte sich die Neue Ostpolitik. Als Herbert Wehner 1966 Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen wurde, war rasch klar, dass die sich nun stärker wissenschaftlich fundierende DDR- und vergleichende Deutschlandforschung ein publizistisches Organ benötigte. Das war das Gründungsmotiv der Monatszeitschrift „Deutschland Archiv“; das erste Heft erschien im April 1968.
Die kleine Redaktion des „Deutschland Archiv“ in der Goltsteinstraße im Kölner Stadtteil Bayenthal, später in Rodenkirchen, war ein Thinktank, als es den Begriff noch gar nicht gab. Gemeinsam mit Dr. Gisela Helwig und Christel Marten war das „Deutschland Archiv“ ein Hort der vor 1989 zahlenmäßig relativ kleinen westdeutschen DDR- und Deutschlandforschung. Hier gaben sich aus der DDR Vergraulte, Vertriebene, Geflüchtete, Diplomaten und Wissenschaftler aus Ost und West, Amtsträger und Schriftsteller die Klinke in die Hand. Die Sommer- und Adventsfeste der Redaktion sind legendär. Manfred Jäger und Hermann Weber, Irma Hanke und Peter Bender, Fritz Schenk und Maria Haendcke-Hoppe-Arndt, Karl Wilhelm Fricke und natürlich Wolfgang Leonhard, sowie viele, die hier nicht genannt werden können: Sie alle sorgten für einen ungeschönten, ehrlichen, aber eben auch unaufgeregten und nicht dämonisierenden Blick auf den deutschen Parallelstaat.
Der Schriftsteller Erich Loest schrieb in der 1995 erschienenen, anlässlich ihres Ausscheidens aus der Redaktion vorgelegten Festschrift für Ilse, was ihm und all den anderen „mit DDR-Hintergrund“ nach Umsiedlung oder gar Flucht bedeutet hatte: „Das ‚Deutschland Archiv‘ wollte nicht agitieren und keine Stimmen fangen, nicht einer Partei dienen und die DDR weder schlechtmachen noch schönreden. Ich zittere, das große Wort hinzuschreiben, suche nach milder Verkleidung und kann’s doch nicht lassen, Pegasus will auskeilen, dann muss es heraus: Das ‚Deutschland Archiv‘ wollte ganz einfach die Wahrheit schreiben.“ Ilses aktuelle Kommentare sind von zeitlosem Wert. Früh sah sie, dass sich auch in der DDR Strukturen und die Menschen dort ständig veränderten – wohl wissend, dass die Legitimität des SED-Staates stets auf Sand gebaut war.
Die Reihe „Edition Deutschland Archiv“, herausgegeben von Ilse Spittmann und Gisela Helwig, versammelte die Ergebnisse der westdeutschen DDR-Forschung – ein großer Schatz, der nur darauf wartet, erneut gehoben zu werden.
Bereits 1967 hatten die beiden „Redakteusen“ bei Kiepenheuer & Witsch ihre „Reise nach drüben“ vorgelegt, ein fulminantes Lesebuch, das so charmant wie inständig dazu aufforderte, das Land zwischen Elbe und Oder zu bereisen, denn es war Westdeutschen ja möglich, und es nicht zu vergessen. Spittmann und Helwig schrieben im Vorwort: „Wir glauben nicht, dass Magdeburg langweilig ist. Wir glauben, dass es von dem Land zwischen Elbe und Oder, Ostsee und Thüringer Wald viel Wissenswertes und Unterhaltsames zu berichten gibt.“
Ilse war Realistin, und daher von unerschütterlichem Optimismus: Die unnatürliche Teilung gegen den Willen der Menschen kann nicht ewig bestehen. Die wiedererlangte, jahrzehntelang doch so unerreichbar scheinende deutsche Einheit war für Ilse Genugtuung und persönliches Glück; auch ihre Familie war zerrissen, getrennt durch Mauer und Stacheldraht. Ilse sah aber auch, früher als mancher Zeitgenosse, die vielfältigen Probleme, die die rasche Vereinigung nach 40 Jahren der Teilung mit sich bringen würde. Sie blieb eine kritische Beobachterin des vereinten Landes. Zwei Mal erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Ilse war eine Redakteurin par excellence. Geduldig, aber klar im Urteil; akribisch, aber niemals kleinkariert; kritisch, aber immer ermutigend, leidenschaftlich, souverän und warmherzig. Sie war ein politischer Kopf, ein „political animal“: Sie konnte, wie man in den angelsächsischen Ländern lobt, „political analysis“. Am 16. Februar 2022 ist Ilse in Neuwied friedlich gestorben, im 92. Lebensjahr: eine Jahrhundertfigur. Wir werden sie nie vergessen. Das „Deutschland Archiv“ ist ihr Lebenswerk. Es bleibt und lebt weiter.
Thomas Krüger
Johannes L. Kuppe
Hans-Georg Golz
22.02.2022
Geschrieben vor 31 Jahren: Interner Link: "Wir und die da drüben", ein Kommentar von Ilse Spittmann im Deutschland Archiv 1/1991. Zum Nachlesen hier als Interner Link: PDF.