Wiedergelesen, vier Jahre nach Hanau und bald fünf Jahre nach Halle. Die tödliche Spur des Rechtsextremismus und seiner Netzwerke in den 1990er Jahren bis heute. Was tun gegen Verblender und Feindbilddemagogen? Und gegen offenbar untätige Ermittler? Ein Essay von Esther Dischereit und Heike Kleffner.
Ich schreibe über Hanau vor vier Jahren am 19. Februar 2020 und Halle vor bald fünf Jahren am 9. Oktober 2019, über das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum in München am 22. Juli 2016, über Rostock-Lichtenhagen 1992, über Hoyerswerda 1991, über die NSU-Morde und Bombenanschläge. Andere schrieben über Mölln und Solingen und das Oktoberfest-Attentat, den Doppelmord an Shlomo Lewin und Frieda Pöschke, und über den Tod von Oury Jalloh in einer Polizeistation von Dessau.
Das Papier reicht nicht, um alle Getöteten rechter Gewalt, antisemitischer Gewalt, rassistischer Gewalt aufzunehmen. Pogrom. Früher dachte ich, Pogrom, das sei etwas, das sich in Russland um die Jahrhundertwende zugetragen hätte. Die Figuren von Fiddler on the Roof sollten mir später in den USA wiederbegegnen, als zweite und nachfolgende Generationen. Ganze Städte oder Stetl wanderten aus. Aus Judenhass wurden die Menschen vertrieben, weil eine Obrigkeit den Volkszorn umlenkte. Oder der Volkszorn wurde nicht umgelenkt, sondern hatte sich eruptiv über die Unschuldigen ergossen und nicht einmal die Obrigkeit konnte seiner Herr werden und das Pogrom beenden. So oder ähnlich muss es gewesen sein, als sich der pommersche Landstrich rund um die Stadt Konitz, polnisch Chojnice, seiner jüdischen Bevölkerung entledigte, nachdem es wohl Jahrhunderte des Friedens miteinander gegeben hatte. Ein junger Mann war am 13. März 1900 ermordet aufgefunden worden. Daraufhin ging ein Wüten und Toben gegen die jüdische Bevölkerung los, ohne Urteil, ohne Beweise, ohne irgendetwas.
Der Innenminister hatte Truppen in die Stadt beordert, um das Anzünden und Plündern jüdischer Wohnhäuser und die Zerstörung der Synagoge zu beenden. Danach verließen die Juden die Stadt. Es müssten diese Umstände gewesen sein, die meine jüdischen Großeltern damals dazu brachten, im toleranteren Berlin ihr Auskommen zu suchen.
Reichspogromnacht. Am 9. und 10. November 1938, der Terror der „Reichskristallnacht“ unter den Nazis. Das nächste Datum, das sich im Gedächtnis der Familie festsetzt. Es war schon spät und höchste Zeit zu fliehen. Einer Tante gelingt dies, und noch wem. Untertauchen. Überleben und Nicht-Überleben.
Was hat das alles mit diesen späteren Daten und Orten zu tun, dem mörderischen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus in den letzten drei Jahrzehnten? Mit Hoyerswerda 1991, mit den Pogrom-Tagen von Rostock-Lichtenhagen 1992, mit den Jahren 1998 bis 2007, als der NSU (Nationalsozialistische Untergrund) mordete, dem Attentat von Halle 2019 und dem Morden in Hanau 2020?
Während ab 1933 von Staatsverbrechen gesprochen werden muss, von einer Diktatur, die sich der Ideologie einer Global White Supremacy, einer Überlegenheit der „weißen arischen Rasse“ verschrieben hatte und angetreten war, um auszumerzen, was dem antisemitischen und rassistischen Begriff vom „gesunden Volkskörper“ nicht entsprach, geschehen die Verbrechen von Hoyerswerda bis Hanau in demokratischen Zeiten. Ich wiederhole es wie eine Selbstvergewisserung: Wir leben nicht in der Diktatur, wir leben in demokratischen Zeiten. Der Diktatur ab 1933 war eine politische Mordserie mit hunderten ermordeten politischen Gegnern und Gegnerinnen vorausgegangen, die auf das Konto der Reichswehr ging und geplanten Anschlägen auf Repräsentanten der Republik. Da waren die Zeiten, um mit dem System zu sprechen, noch demokratisch. ... noch demokratisch. ... jetzt demokratisch.
Das Reden vom demokratischen Rechtsstaat und die Artikel des Grundgesetzes reichen nicht aus, um mich zu beruhigen. Nicht, wenn ich an jene denke, denen gegenüber die Fortexistenz des „reinen Volkskörpergedankens“ offen oder verdeckt wirksam wird, sodass sie um ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssen. Jetzt, in den Zeiten danach. Nach 1945. Nach 1989.
Ein Pogrom, als handele es sich um eine Zirkusbelustigung
Da stehen Hunderte im September 1991 in Hoyerswerda vor den Heimen der Vertragsarbeiter*innen und der Geflüchteten, ein Jahr später, im August 1992, sind es Tausende vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und dem Sonnenblumenhaus der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in Externer Link: Rostock-Lichtenhagen und nehmen am Pogrom teil, als handele es sich um eine Zirkusbelustigung.
Ich muss an Billie Holiday denken und daran, wie sie Strange Fruit singt. Über den weißen Mob, der lynchen geht und sich vor den gelynchten menschlichen Körpern fotografieren lässt. Und. Ich denke daran, wie die Städte Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Jena – dem Ort, aus dem das Kerntrio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und ein wesentlicher Teil des NSU-Netzwerks stammen – versuchen, jegliche Schuld von sich zu weisen, „weil sie nichts dafür könnten, wenn in ihrer Mitte ...“.
In den 1990er Jahren wurden täglich Jugendliche in Jena überfallen, verprügelt, geschlagen, wenn sie keine Bomberjacke oder Springerstiefel trugen. No-go-Areas. Um die betroffenen Jugendlichen kümmerte sich niemand, die Schulhöfe wurden von Gewalttätern beherrscht und die Bürger*innen lebten damit. Bis auf jene, die Widerstand leisteten, eine kleine, mutige Schar, der Pfarrer Lothar König und einige Eltern mit ihren Kindern. Mit diesem Status quo zu leben, nicht einzugreifen, ihn hinzunehmen – ist das Billigend-in-Kauf-Nehmen? Billigend-in-Kauf-Nehmen ist mehr als Zuschauen, es fühlt sich für mich an wie Mittäterschaft.
Mir sind die Bilder von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen noch immer gegenwärtig. Als Naziskins im September 1991 Brandsätze auf ihre ehemaligen Kollegen aus dem VEB Schwarze Pumpe und später der LAUBAG schleuderten, jubelten ihnen Hunderte zu. Ein knappes Jahr später belagerte eine Menschenmenge tagelang das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, seit Jahren das Zuhause von Arbeiter*innen, die aus Vietnam stammten, sie waren von der DDR als Vertragsarbeiter*innen angeworben worden. Die Bilder gingen um die Welt.
Die verhängnisvolle Botschaft der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen war, dass es keinerlei staatlichen Schutz für Flüchtlinge und Arbeitsmigrant*innen gibt und demzufolge auch keinerlei Strafverfolgung für rassistische Täter*innen. Sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus: 1.483 rechtsextreme Gewalttaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) am Ende des Jahres 1991, 1992 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte auf 2.584. Angesichts der massiven Dunkelziffern bei rechten Gewalttaten in den frühen 1990er Jahren muss man davon ausgehen, dass diese Zahlen nur einen winzigen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Der vor aller Augen erfolgte Bruch mit dem in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerten Recht und Versprechen auf staatlichen Schutz und körperliche Unversehrtheit aller hier Lebenden in jenen Sommertagen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bildet den Ausgangspunkt für die nachfolgenden drei Jahrzehnte rechter Gewalt und rassistischen, antisemitischen Terrors. Er veränderte die bundesrepublikanische Gesellschaft. Die Botschaft, dass Migrant*innen und Geflüchtete keinen Schutz des Staates erhalten und auch schwerste Straftaten für die Täter*innen folgenlos bleiben würden, formte das Selbstbewusstsein der „Generation Terror“ und ihrer Netzwerke wie den „Nationalsozialistischen Untergrund“, „Blood & Honour“ oder die „Hammerskins“.
Eine bis dahin nicht vorstellbare Kultur der Straflosigkeit radikalisierte die Täter*innen nicht nur von Rostock-Lichtenhagen, sondern Hunderter nachfolgender Überfälle, Brand- und Sprengstoffanschläge auf migrantische Wohnhäuser, Flüchtlingsheime, linke Zentren, besetzte Häuser und Wohnungen politischer Gegner*innen. Auch das NSU-Kerntrio und seine Unterstützer*innen bezogen ihr Selbstbewusstsein aus diesem Erfahrungswissen der Straflosigkeit auch für schwerste Verbrechen. Und die in dieser Generation sozialisierten rechten Attentäter von heute – wie beispielsweise Frank Steffen, der im Oktober 2015 mit dem Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein politisches Zeichen gegen deren Flüchtlingspolitik setzen wollte oder Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder des Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, Stephan Ernst und dessen mitangeklagter Freund Markus H. – knüpfen ideologisch und bei der Wahl ihrer Aktionsformen unmittelbar an ihre Erfahrungen in den 1990er Jahren an.
Schon während der Pogrom-Tage in Hoyerswerda starb am 19. September 1991 in Saarlouis (Saarland) der 27-jährige ghanaische Asylsuchende Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft. 30 Jahre später hat der Generalbundesanwalt in Karlsruhe die Ermittlungen nach den bis heute unbekannten Tätern, die in den 1980er und 1990er Jahren durch brutale Überfälle auf Linke und Anschläge gegen Geflüchtete aufgefallen waren, an sich gezogen und durchleuchtet militante Neonazistrukturen im Saarland ebenso wie Polizisten, die sie gewähren ließen. Rassistische Gelegenheitstäter*innen und organisierte Neonazis griffen damals an jedem Wochenende Flüchtlingsunterkünfte, Treffpunkte von jungen Linken und Hausbesetzern sowie Orte jüdischen Lebens an.
Folgenreiche Stimmungsmache
Erinnern wir uns: Der Zerfall von Jugoslawien führte zu nachfolgenden Kriegen, dem Genozid von Srebrenica und zu Vertreibung und Massenflucht. Angesichts dieser Situation hatten die damalige Bundesregierung und Vertreter demokratischer Parteien – allen voran aus der CDU/CSU und der SPD – eine Art Untergangsdebatte ausgerufen. „Das Boot ist voll“, eine Schlagzeile der politischen Rechten wurde in den Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. Sie trug dazu bei, die Inanspruchnahme des Asylrechts durch die von Krieg und Verfolgung Betroffenen – aus Post-Jugoslawien, der Türkei, Rumänien – zu behindern, die öffentliche Meinung gegen sie aufzubringen und den Geflüchteten den Schutz und Aufenthalt zu versagen. Artikel 16 Grundgesetz, dutzendfach bereits verschärft, stand in Gänze zur Disposition.
Schon wenige Wochen nach dem Pogrom in Hoyerswerda hatte der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe in einem Brief alle Kreisverbände dazu aufgefordert, „in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und in den Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen“, parallel dazu drängte die CDU die oppositionelle SPD zur Zustimmung für eine Änderung des Artikels 16 GG. „Wenn sich die SPD beim Kanzlergespräch am 27. Dezember verweigert, ist jeder Asylant nach diesem Tag ein SPD-Asylant“, so Volker Rühe in der Süddeutschen Zeitung im September 1991. Es folgten die bekannten Titelbilder von Spiegel, Bild und anderen Zeitungen mit Überschriften wie „Das Boot ist voll“, „Ansturm der Armen“ und so weiter. In Rostock-Lichtenhagen hatten politisch Verantwortliche die Kapazität der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende des Landes Mecklenburg-Vorpommern bewusst nicht erhöht; das führte dazu, dass Asylsuchende gezwungen waren, im Freien zu schlafen und ihre Notdurft in den Büschen von Vorgärten in der Plattenbausiedlung zu verrichten. Die Bilder, die man später zur Rechtfertigung des Pogroms benutzte, wurden gezielt geschaffen.
Vor dem Hintergrund dieser politischen Stimmung nahmen Rechtsextreme das Heft des Handelns in die Hand. Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen ging teilweise in Flammen auf, die darin eingeschlossenen mehr als einhundert Menschen entgingen um Haaresbreite dem Tod, die Menschenmenge johlte. Vor aller Augen, getragen von vielen, spielte sich ein Drama ab, dessen Beendigung Pflicht der Staatsmacht gewesen wäre. Die Polizei ist verantwortlich dafür, dass diejenigen, die an Leib und Leben bedroht werden, zu schützen. Lynching, Selbstermächtigung und Selbstjustiz sind verboten. Die Polizei schützte die bedrohten Menschen nicht. Die Täter von damals sind – mit wenigen Ausnahmen – bis heute nicht verurteilt, sie gerierten sich wie die Vollstrecker eines Volkswillens, ermutigt und getragen von einer vermeintlichen Mehrheit, während die Exekutive zuschaute. Dabei hatten selbst die vielen in den 1990er Jahren aktiven unabhängigen antifaschistischen und antirassistischen Aktivistinnen und Aktivisten sich bis zu den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen noch der Illusion hingegeben, dass die Exekutive tatsächlich im Sinne der Angegriffenen handeln würde. Im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) Nr. 41/1997 heißt es in der Rückschau: „Auch wir sind damals davon ausgegangen, dass die Staatsgewalt dem rassistischen Mob Einhalt gebieten würde – zumindest, wenn eine Öffentlichkeit in Form von bürgerlichen Medien und humanitären Gruppen diese Forderung aufstellt.“
Ausbleibende Strafverfolgung wirkt im Nachhinein wie eine Bestätigung des vermeintlichen Volkswillens. Die katastrophale staatliche und gesellschaftliche Reaktion auf die erste Phase der Expansion und der öffentlich inszenierten rassistischen Gewalt ist im Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag mit der Überschrift „Der Eindruck staatlicher Gleichgültigkeit verstärkt Radikalisierung“ beschrieben. Der Untersuchungsausschuss kommt zu dem Schluss: „Die Bilder von Rostock-Lichtenhagen gingen nicht nur um die Welt, sondern vermittelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich zu extrem rechten Jugendszenen hingezogen fühlten und sich in so genannten ‚Kameradschaften‘ organisierten, klare Botschaften: Auch bei schwersten Straftaten würde die Polizei nur zögerlich auf Seiten der Angegriffen [sic] einschreiten, eine effektive Strafverfolgung wäre kaum zu befürchten.“
Mehr als 400.000 Menschen suchten 1992 in Deutschland Asyl, darunter Zehntausende Roma aus Ost- und Südosteuropa. Zwei Jahre lang diskutierten Politik und Medien, wie sich die „Asylantenflut“ im Nachwendedeutschland eindämmen ließe. Während sich die Zahl rechter Gewalttaten nahezu verdoppelte, stimmte der Bundestag am 26. Mai 1993 mit einer Mehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD-Abgeordneten für eine de facto Abschaffung von Artikel 16 GG. „Wir müssen unser Barmherzigkeitsgefühl einschränken und die akademische Debatte über den Artikel 16 Grundgesetz beenden“, lautete der Kommentar des damaligen SPD-Fraktionschefs im Düsseldorfer Landtag, Friedhelm Farthmann.
Mit dem sogenannten Asylkompromiss kam das Parlament dem fortgesetzt gewalttätig vorgetragenen angeblichen „Volkswillen“ nach, der sich in zahlreichen weiteren Brandanschlägen und Angriffen auf Asylbewerberunterkünfte äußerte. Dabei hätte die weitere Eskalation des Bosnienkrieges die Aufnahme von Geflüchteten dringend erfordert.
Den im Grundgesetz verankerten Grundrechten, insbesondere dem Grundrecht aus Artikel 1 GG, wonach es Aufgabe des Staates ist, alle Menschen zu schützen, gleich welcher Hautfarbe, Religion, welchen Geschlechts und welcher Herkunft, sobald sie sich auf dem Boden Deutschlands befinden, hatten auch die Überlebenden und Angehörigen vertraut, die von den Mordtaten und Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrunds betroffen waren. Sie wähnten sich in rechtsstaatlicher Sicherheit und unternahmen alle juristischen Schritte, die der Aufklärung der Verbrechen dienen könnten. Stattdessen mussten sie schon unmittelbar nach den Mordtaten – in den Jahren 1999 bis 2007 wurden zehn Menschen ermordet, davon neun aus Einwandererfamilien, zudem wurden drei Sprengstoffanschläge und 14 Raubüberfälle verübt – feststellen, dass die Polizei bei einem mit gleicher Waffe unternommenen Serienverbrechen sie selbst verdächtigte, und zwar noch bis einschließlich 2011, als die Täterschaft des NSU-Netzwerks bereits offenkundig war.
Von staatlich betreutem Morden bis zum Verdacht der Beihilfe oder Mittäterschaft, von Brandbeschleunigungsszenarien und totalem Versagen war in 13 Untersuchungsausschüssen auf Bund- und Länderebene die Rede, in denen versucht wurde, zu ergründen, warum Polizei und Verfassungsschutz so gehandelt hatten, ihnen die Unterbrechung der Mordserie und der Schutz der Bürger*innen nicht gelang oder nicht gelingen sollte und die Bürger*innen waren dieser Mörderbande schutzlos ausgeliefert geblieben.
Folgenlose Verstrickungen von Verfassungsschützern
Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern wurden in einem bis dato nicht gekannten Ausmaß eingerichtet: Ihre Enthüllungen über Vorgänge wie Aktenschreddern, über flächendeckende Erinnerungslücken, Aussageverweigerungen und ungetrübten Korpsgeist waren allesamt nichts anderes als Kampfansagen an die Interessen der zu schützenden Bürger*innen und Versuche, die Legislative auszuhebeln. Der nachfolgende Strafprozess vor dem Oberlandesgericht München war gemessen am Umfang der Aktenmaterialien, den angehörten Zeug*innen und nicht zuletzt an seiner Dauer einer der umfangreichsten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die Hauptverhandlung im NSU-Prozess am OLG München dauerte mit 438 Tagen weitaus länger als der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Das Ergebnis hinterlässt einen schalen Geschmack. Lediglich das Kerntrio wurde klar bestimmt und weitere vier Helfer wurden als Mittäter verurteilt, zwei Mitglieder des Kerntrios hatten sich selbst getötet. Das dritte Mitglied, Beate Z., erhielt eine lebenslängliche Gefängnisstrafe, wobei eine „besondere Schwere der Schuld“ festgehalten wurde, den anderen war mit einer Ausnahme die U-Haft angerechnet worden, sodass sie längst wieder auf freiem Fuß sind.
Investigativen Journalist*innen und couragierten Untersuchungsausschussmitgliedern – unter anderen dem CDU-Politiker Clemens Binninger, den Linken-Politikerinnen Katharina König und Petra Pau, der Sozialdemokratin Dorothea Marx und anderen – war es zwar gelungen, extra-legale Verstrickungen des Verfassungsschutzes bis tief in die rechte Szene hinein offenzulegen, hieraus hatten sich jedoch keine strafrechtlichen Konsequenzen ergeben – mit einer Ausnahme, einer Geldstrafe von 3.000 Euro für den Aktenvernichter Lothar Lingen im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).
Der Referatsleiter im BfV mit dem Decknamen Lothar Lingen hatte wenige Tage nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im November 2011 entgegen ausdrücklicher Anweisung relevante V-Mann-Akten schreddern lassen. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, das nach Anzeigen von Hinterbliebenen einiger NSU-Opfer gegen den Beamten eröffnet wurde, war ergebnislos eingestellt worden. Sechs Jahre lang verweigerte sein Arbeitgeber, das BfV, zudem Antworten auf Fragen zu dem gegen Lothar Lingen angestrengten Disziplinarverfahren. Erst am 14. Oktober 2020 entschied das Bundesverwaltungsgericht in letzter Instanz, die Geheimdienstinteressen müssten hinter den Informationsinteressen der Presse zurückstehen.
Im Brandschutt von Zwickau – Beate Z. hatte die letzte Wohnstätte des NSU-Kerntrios angezündet, um möglichst viele Spuren zu beseitigen, – hatte sich unter anderem eine circa 10.000 Einträge umfassende Zieldatenliste befunden, eine Adressensammlung mutmaßlicher politischer Gegner*innen aus dem Spektrum aller demokratischen Parteien, von links bis Mitte einschließlich CDU, darunter die Adresse eines Staatsanwalts, eine Organisation, die queere Jugendliche vertritt, 233 Anschlagsziele, die mit Bürger*innen und Einrichtungen zu tun haben, die der jüdischen Community zuzuordnen sind oder sich auf jüdisches Leben in Deutschland beziehen und weitere viele Hunderte und Tausende, die die Belange und Organisierung von Einwanderer*innen-Communities zu ihrer Aufgabe gemacht haben, bis hin zu solchen, die türkische Schüler*innen unterstützen, wenn sie weiterführende Schulen besuchen möchten, mehrere Polizeidienststellen in Stuttgart und und und.
Erkennbar wird hier eine Zuträger*innenschaft für ein bundesweit agierendes rechtsterroristisches Netzwerk, dessen Ziele sich in der gesamten Bundesrepublik befanden. Teilweise sind die Listeneinträge mit detaillierten Hinweisen darüber versehen, wie gut oder weniger gut sich die jeweilige Adresse für eine Tat eigne. Ganz offenbar war hier ein rechtsterroristisches Netzwerk aktiv und nicht nur die von der Generalbundesanwaltschaft und dem OLG München beschworene vermeintlich abgeschottete „3-Täter*in-Zelle“. Ein knappes Jahrzehnt später finden Ermittler im Zusammenhang mit dem Nordkreuz-Netzwerk von (ehemaligen) Elitesoldaten und Elitepolizisten ebenfalls Tausende von Adressen, die in ihrer Feindbestimmung nicht unähnlich ist und zeigt, dass sich diese Verschwörung aus den Reihen von Polizei und Bundeswehr in ihrer Eliminierungsabsicht ebenfalls gegen Linke oder Migranten*innen oder Jüd*innen richtete und gegen die Demokratie als Staatsform.
Schwerste Straftaten, die straflos bleiben
Immer wieder hatten Angehörige während des NSU-Verfahrens betont, dass sie ein Recht darauf haben, nach all diesen Jahren die Wahrheit und die Hintergründe der Taten zu erfahren, unabhängig von der Frage, ob diese wegen Verjährung oder aus anderen Gründen nicht mehr justiziabel wären. Denn noch immer fehlen schlüssige Antworten auf die zentralen Fragen im NSU-Komplex: Was wussten staatliche Institutionen – allen voran die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder Thüringen, Sachsen und Brandenburg – über das neonazistische Terrornetzwerk und dessen mörderische Aktivitäten?
Noch immer warten die Angehörigen der neun Opfer der rassistischen Mordserie und der Polizistin Michèle Kiesewetter darauf zu erfahren, warum und wie ausgerechnet ihre Väter, ihre Brüder, Söhne und ihre Tochter vom NSU als Mordopfer ausgewählt wurden. Eng damit verknüpft ist eine weitere, ebenfalls unbeantwortete Frage: Verfügte das mutmaßliche NSU-Kerntrio – Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – an den jeweiligen Tatorten ebenso über Unterstützer*innen und Helfer*innen wie an ihren Wohnorten Zwickau und Chemnitz? Das Netzwerk aus drei Dutzend Neonazis der „Generation Terror“ der 1990er Jahre, die den Alltag des NSU-Kerntrios in Chemnitz und Zwickau ermöglichten, indem sie unter anderem Identitätspapiere, Autos und Wohnungen zur Verfügung stellten und Waffen, Sprengstoff und Geld beschafften, ist im Prozess am OLG München relativ intensiv ausgeleuchtet und beschrieben worden.
Die Tatsache, dass ausgerechnet dieses ausermittelte Helfer*innennetzwerk straflos bleibt und der Generalbundesanwalt seit November 2011, seit der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios, neun Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach 129a StGB gegen neun namentlich bekannte Helfer*innen oder Aktivist*innen des NSU-Netzwerks führt, ohne dass noch irgendjemand ernsthaft mit einer Anklage rechnet beziehungsweise rechnen muss, ist symptomatisch für die Strafverfolgung im Bereich Rechtsterrorismus: Ein weiterer überdeutlicher Hinweis an die Hinterbliebenen, dass sie offenbar keinen Schutz erwarten können und an die Täter*innen, dass in diesem Land selbst schwerste Straftaten straflos bleiben.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass der parteiübergreifende Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags institutionellen und strukturellen Rassismus der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden nicht gemeinsam konstatieren wollte.
Im Jahr 2016, noch während des laufenden NSU-Prozesses ereignete sich der Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München, dem neun Menschen aus deutschen Sintifamilien und Familien mit Einwanderungsgeschichte zum Opfer fielen, fast alle waren Jugendliche und junge Erwachsene. Der Täter wie auch einer seiner Chat-Kumpel waren Mitglieder einer rechtsextremen Gruppe auf der Online-Spiele-Plattform Steam. Ein US-amerikanischer Nutzer hatte die beiden zusammengebracht, ein Rechtsextremist, der als möglicher Attentäter und Gefährder bekannt war und 16 Monate nach dem Anschlag am Olympiazentrum in München im US-Bundesstaat New Mexiko zwei Schüler seiner ehemaligen Schule erschoss.
Die für die Ermittlungen zum Unterstützer- und Helfernetzwerk des rassistisch motivierten OEZ-Attentäters zuständigen Behörden, die Polizei Ludwigsburg sowie die Staatsanwaltschaften Stuttgart und München, unterließen es jedoch, die US-amerikanischen Behörden über ihre Ermittlungen zu unterrichten. Die Mutter einer der in New Mexico Getöteten, Jamie Lattin, hat deshalb in den USA ein Klageverfahren gegen die deutschen Behörden angestrengt. Es ist für die Nebenkläger*innen in Deutschland nicht einfach gewesen, in diesem Verfahren, das in München geführt wurde, darauf zu bestehen, dass der rassistische Hintergrund als solcher überhaupt erkannt wurde. Dies gelang erst nach massiven Protesten von Zivilgesellschaft und Druck durch die Medien sowie einem intensiven Streit um drei unabhängige Gutachten zur Motivlage und Bewertung des Attentats. Im Juni 2019 erklärte das Landeskriminalamt Bayern schließlich: „In Zusammenfassung der Erkenntnisse der letzten drei Jahre Ermittlungsarbeit erscheint es gerechtfertigt, von einer politischen Motivation im Sinne des Definitionssystems PMK zu sprechen.“ Erst mit dem Mord an dem CDU-Politiker und Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, am 2. Juni 2019 schienen die politisch Verantwortlichen, im Besonderen CDU/CSU, verstehen zu wollen, dass Rechtsextremismus tatsächlich die Fundamente der Demokratie bedroht und nicht alleine sogenannte gesellschaftliche Minderheiten.
Zwischen der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im November 2011 und dem Mord an Walter Lübcke liegen ganz offensichtlich verlorene Jahre im Kampf gegen Rechtsextremismus. Es starben alleine zwischen 2012 und 2019 zwei Dutzend Menschen in Ost- und Westdeutschland an den Folgen von rassistisch und rechtsextrem motivierten Gewalttaten; das Oberlandesgericht Dresden verurteilte die rechtsterroristische „Gruppe Freital“ unter anderem wegen Sprengstoffanschlägen auf Flüchtlingshelfer und Geflüchtete zu hohen Haftstrafen und Berlins Innensenator warnte zu Jahresbeginn 2019 nach einer Serie neonazistischer Brandanschläge auf Kommunalpolitiker und andere Engagierte vor „Rechtsterrorismus“ in der Hauptstadt. Dennoch hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erst mehr als zwei Wochen nach dem wie eine Hinrichtung inszenierten Mord an Walter Lübcke und dem Auffinden von DNA-Spuren des polizeibekannten Neonazi-Aktivisten Stephan E. am Tatort eingestanden, dass der Rechtsextremismus „zu einer echten Gefahr“ geworden sei.
Allerdings herrschte immer noch das Credo vor, es handele sich hier um bedauerliche Einzelfälle. Politik und Ermittlungsbehörden hangelten sich so von einem bedauerlichen Einzelfall zum anderen, ignorierten die rechtsterroristischen Netzwerke vor Ort und ihre internationalen Verbindungen und verharmlosten Rechtsterrorismus insgesamt als Aktionen „waffen-affiner“, wahlweise radikalisierter oder psychisch kranker Einzeltäter, eine These, die unter anderen der Journalist Ulrich Chaussy als Ergebnis seiner jahrzehntelangen Recherchen zum schwersten rechtsterroristischen Attentat in der Geschichte der Bundesrepublik, dem Oktoberfest-Attentat im September 1980 mit zwölf Toten und mehr als 200 Verletzten und zum Doppelmord an Shlomo Lewin und Frieda Pöschke klar widerlegte.
Im Fall des Oktoberfest-Attentats erreichten der Vertreter der Hinterbliebenen und Überlebenden-Anschlagsopfer, der Münchner Rechtsanwalt Werner Dietrich und der Journalist Ulrich Chaussy in jahrzehntelanger, hartnäckiger Arbeit etwas vollkommen Ungewöhnliches: die Wiederaufnahme der Ermittlungen im Jahr 2014. Auch wenn die Bundesanwaltschaft im 6. Juli 2020 die Ermittlungen erneut einstellte, so änderte sich doch die Bewertung der Tat fundamental: Vier Jahrzehnte nach dem Attentat gehen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bis zum Generalbundesanwalt alle von einem rechtsterroristischen Attentat aus. Anlässlich der Gedenkfeiern zum 40. Jahrestag des Oktoberfestattentats am 26. September 2020 entschuldigte sich Bayerns Ministerpräsident für „Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit“. Und gab ein „Schutzversprechen“ ab: „Wir werden nicht zulassen, dass Rechtsextremismus, Hass, Antisemitismus, Rassismus geduldet, akzeptiert oder irgendwie unterschätzt werden.“ Dagegen werde sich Bayern mit ganzer Kraft stellen.
Ob aber die Halbwertzeit dieses Schutzversprechens länger währt als die anderen Versprechen in den zahllosen Sonntagsreden gegen Rechts, die Versprechen „lückenloser Aufklärung“ (wie von Angela Merkel im Februar 2012 beim nationalen Gedenkakt für die Opfer des NSU) in all den Jahrzehnten zuvor, darf und muss bezweifelt – und intensiv beobachtet werden. In den Reden des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags, später Vizepräsident, Wolfgang Thierse (SPD), klang immer wieder die Sorge um den Rechtsstaat durch, der sich gegenüber Rechtsextremisten verteidigen und wachsam sein müsse. Wolfgang Thierse war seit 1998 im Amt, jenem Jahr, in dem das NSU-Kerntrio unter den Augen der Landeskriminalpolizei Erfurt, des Verfassungsschutzes und mutmaßlich eines Staatsanwalts, für dreizehn lange Jahre aus dem thüringischen Jena ins nahe Sachsen verschwand. Wolfgang Thierse versäumte es nicht, der Sorge über den Rechtsextremismus seine Sorge über den Linksextremismus hinzuzufügen. Das war damals wie heute so üblich und führte mit zu einer Verharmlosung rechter Gewalt ebenso wie zum Entzug der Gemeinnützigkeit für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und zur Kriminalisierung von vielen Menschen, die sich durch Blockaden oder andere Aktionen gegen Neonaziaufmärsche zur Wehr setzen.
Ohnehin hatte sich zu Beginn der 2000er Jahre, als der NSU mit seiner beispiellosen Mord- und Anschlagsserie begann und andere rechtsterroristische Netzwerke wie etwa in Düsseldorf-Wehrhahn den Tod von Dutzenden von Menschen bei ihren Anschlägen bewusst in Kauf nahmen, die Wahrnehmung mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verändert und den islamistischen Terror in den Fokus gerückt. Die Tatsache, dass ein immer offensiverer und besser vernetzter Rechtsextremismus das Fundament der demokratischen Gesellschaft insbesondere in Ostdeutschland ernsthaft gefährdet, wurde damit zunehmend überlagert und verdeckt.
Vom Staat allein gelassen
Als dann in den Herbstwochen des Jahres 2015 insgesamt knapp 900.000 Menschen, vor allem aus Syrien, in Deutschland Schutz und Asyl vor Verfolgung und Bürgerkrieg suchten und die mangelhafte Vorbereitung der Exekutive auf die globalen Flüchtlingsbewegungen im politisch-medialen Diskurs zur „Flüchtlingskrise“ umgedeutet wurde, gehörte der vier Jahre später ermordete Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke zu den vielen Kommunalpolitiker*innen, die Morddrohungen erhielten.
Doch die Forderungen der Bedrohten, die Sicherheitsbehörden müssten dringend die fatale Wechselwirkung von rechtsextremen Online-Kampagnen – angeheizt von Blogs wie „PI News“ ebenso wie von AfD-Freunden innerhalb der Union – und organisierten rechten Netzwerken in den Blick nehmen, verhallten nahezu ungehört. SPD-Landrat Ernst Pipa im südhessischen Main-Kinzig-Kreis beispielsweise geriet im September 2015 ebenfalls ins Visier einer von Neonazis und extrem rechten Blogs befeuerten Kampagne – und blieb es ebenso wie Lübcke, auch nachdem er Mitte Juli 2017 auf eine erneute Kandidatur verzichtete. Pipas bittere Bilanz damals: „Ich fühle mich vom Staat alleine gelassen. Kommunalpolitiker werden vom Staatsschutz nicht geschützt. Wenn meine Familie bedroht wird, lässt mich das nicht zur Ruhe kommen.“ Wie richtig seine Einschätzung war, machten vor allem die Messer-Anschläge auf die heutige Oberbürgermeisterin von Köln Henriette Reker (parteilos) am 17. Oktober 2015 und den Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein (CDU) Ende Oktober 2017 deutlich. Auch diese Attentäter erhielten – wie der 50-Jährige, der in der Silvesternacht 2018/19 in Bottrop und Essen (NRW) aus rassistischen Motiven acht Menschen mit seinem Pkw zum Teil lebensgefährlich verletzte – das Label des „radikalisierten Einzeltäters“.
Im Februar 2018 wies zwar auch das Bundeskriminalamt (BKA) in einer seiner regelmäßigen Analysen darauf hin, dass es unterschiedliche Tätertypen gebe, die für rassistische Angriffe auf Geflüchtete sowie für potenziell tödliche Angriffe auf Politiker*innen verantwortlich seien. Ausdrücklich warnte das BKA dabei vor „entschlossenen, irrational handelnden oder fanatisierten Einzeltätern“. Von diesen gehe „eine besondere Gefährdung“ aus.
Doch der seinerzeitige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) schien die Warnungen der ihm untergeordneten Polizeibehörde nie besonders ernst genommen zu haben. Er vertraute stattdessen den Analysen eines langjährigen Unionshardliners: Hans-Georg Maaßen, dessen Amtszeit als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2012 bis Herbst 2018 als verlorene Jahre im Kampf gegen Rechtsextremismus in Erinnerung bleiben werden. Der Spitzenbeamte Maaßen hatte unter anderem die rassistischen Gewalttaten und Hetzjagden Ende August 2018 im sächsischen Chemnitz geleugnet und Videobeweise dafür als „gezielte Falschinformation“ diskreditiert. Die nachfolgende Regierungskrise bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand Anfang November 2018 nutzte Maaßen, um nachzulegen. Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte dem „Kritiker einer idealistischen, naiven und linken Ausländer- und Sicherheitspolitik“ (Maaßen über Maaßen) zunächst sogar noch eine Beförderung in den Rang eines Staatssekretärs und dann einen Posten als „Sonderberater“ im Innenministerium angeboten.
Damit wurden viele Jahre vertan, in denen es darum hätte gehen müssen, genau und schärfstens hinzusehen und daraus effektive Gegenmaßnahmen abzuleiten. So entstand schließlich eine Situation, in der selbst Landesverfassungsschutzämter ihrer Zentralstelle, dem Bundesamt in Köln, misstrauten und einen Schulterschluss mit rechten, rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieus nicht mittragen wollten.
Das nächste Attentat fand am 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) statt. Der Täter wollte Juden erschießen, auch „Nahöstler“ und versuchte mit dieser Absicht gewaltsam in die Synagoge einzudringen, in der 51 Gläubige versammelt waren. Als das misslang, erschoss er zwei andere Opfer, Jana L. und Kevin S., drang in einen nahen Kiez-Dönerimbiss ein, und zielte unterwegs auf alles, was seiner Weltanschauung nach nicht zum Leben eines „weißen Mannes“ gehört.
Der Täter wurde als mutmaßlicher Einzeltäter festgenommen. Der Massenmord an den Juden und Jüdinnen inmitten Deutschlands scheiterte am technischen Unvermögen des Attentäters und aufgrund des besonnenen Handelns der Betenden, die hier zusammengekommen waren, um Yom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, zu begehen.
Es sind die Überlebenden, die in der Rekonstruktion „Global White Supremacist Terror: Halle“ nachzeichnen, wie Antisemitismus und Rassismus die Kernelemente dieses Attentats bilden und wie Tat und Täter in eine internationale White Supremacy-Bewegung eingebettet sind. Und es sind die Überlebenden, die als Nebenkläger*innen im Prozess am Oberlandesgericht Naumburg über die Kontinuitätslinien der Traumatisierung durch die Shoah und den antisemitischen Terror der Gegenwart, über ihre multiplen Identitäten als Kinder von Shoah-Überlebenden, Emigrant*innen, Feminist*innen, Nachfahren von Soldaten der Roten Armee und vielen weiteren Merkmalen sprechen, die sie zu Zielscheiben von Rechtsterroristen machen. Und es sind die Überlebenden, die als Nebenkläger*innen im Prozess darüber sprechen, wie wichtig die Solidarität der von Antisemitismus und Rassismus Angegriffenen für- und untereinander ist.
Hanau am 19. Februar 2020
Der Schmerz der Überlebenden von Halle, der Hinterbliebenen der NSU-Mordopfer, der Überlebenden der unzähligen rechten Gewalttaten seit 1990, ihre Traumata, ihre Verluste, ihre Ängste, ihre kaum vernarbten seelischen Verletzungen brachen nur wenige Monate später erneut auf, als am 19. Februar 2020 neun Hanauer Bürger*innen erschossen werden – an den Orten ihres Alltags: in Shisha-Bars und einem Kiosk, auf der Straße in Hanau-Kesselstadt. Wieder lautete die Analyse: Einzeltäter. Und wieder sind es die Rekonstruktionen der Hinterbliebenen und ihre Forderungen, die deutlich machen: Die Ideologie des Rechtsterrorismus ist seit Jahrzehnten im Kern Antisemitismus und Rassismus. Lediglich ihre Verbreitungswege, die Propagandatools und die (Selbst-)Inszenierung der Täter haben sich verändert. Auch das Motto des NSU „Taten statt Worte“ bleibt ein wesentliches Merkmal: Die Tat trägt die Botschaft des Schreckens in sich.
Es sieht so aus, als befreite die Einzeltäter-Theorie von der Frage, inwieweit die Taten Rechtsextremer auf dem Boden und der klandestinen Zustimmung der Mitte der Gesellschaft erwachsen. Sie fühlen sich handlungsermächtigt, wenn das gesellschaftliche Umfeld populistische Hassreden trägt, mitträgt und weiterträgt. In diesem Sinne sind die „Einzeltäter“ vorpreschende „Männer der Tat“, die vollziehen, wozu sie sich durch die „Volksstimmung“ getragen und ermächtigt sehen. Insofern spielt es eine Rolle, ob es im Umfeld des Täters von Halle ein familiäres oder Freundesumfeld gegeben hat, das mit diesem Denken konform ging oder zumindest nichts dagegen einwandte. Immer wieder versuchen sich Rechte vor Gericht als mehr oder weniger harmlose, bloß „Meinende“ darzustellen. So gibt es auch im Fall des Attentats von Halle einen ehemaligen Freund der Schwester, der früher ja auch rechts nach eigenen Angaben gewesen sei, jetzt nicht mehr. Es stellte sich später heraus, dass der Täter bei ihm das Schweißen erlernt hatte, eine Fertigkeit, die Voraussetzung zur Vervollständigung seiner selbst gebauten Waffen war.
Trägt man als Täter heute Bomberjacke und Springerstiefel? Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, der im NSU-Verfahren Anwalt von Nebenkläger*innen aus der Kölner Keupstraße war und auch im Verfahren gegen den Täter von Halle Überlebende vertrat, machte wiederholt darauf aufmerksam, dass sich das Bild des rechtsextremen Täters verändert habe. Der vermeintlich „einsame Wolf“ agiert via Darknet in weltweiter Vernetzung, also keineswegs einsam. Dabei spielen Imageboards, die Online-Plattform Steam und andere eine wichtige Rolle.
Auffallend wenig Aufklärungsinteresse
Während des Gerichtsverfahrens gegen den Täter von Halle waren zu diesem Problem Sachverständige des Bundeskriminalamtes geladen. Sie offenbarten einen Kenntnisstand über Kommunikation via Imageboards, der deutlich macht, wie wenig Aufklärungsinteresse existiert. Eine international vernetzte Community kommuniziert auf Imageboards und Online-Gaming-Plattformen wie Steam weitgehend in Codes miteinander, die Umgangssprache ist Englisch. Die Vernetzung und Radikalisierung finden digital und virtuell statt. Der Mörder von Halle bezog sich auf die Mordtaten von Christchurch, auch Pittsburgh und weitere können in dieser Hinsicht als eng miteinander verbunden angesehen werden. Gezielt sollte ja mit dem Live-Streaming des Täters in dieser Community weltweit reüssiert werden.
Der BKA-Gutachter kommt zu dem Schluss, das Manifest des Täters von Christchurch und das des Täters von Halle hätten nichts miteinander zu tun. Zur Begründung waren Unterschiede in Umfang und Ausdrucksvermögen angegeben worden – der Täter von Halle hätte deutlich interessierter über Waffentypen gesprochen, wohingegen der Christchurch-Täter ein wirtschaftliches Programm und überhaupt mehr vorgelegt habe. Diese Aussagen fußten auch auf einer Art Vergleich, in dem die Anzahl der Verben und der Adjektive ausgezählt werden. Politisch absurd. Das könnte als peinlich oder uninteressant gewertet werden, wenn es nicht solch eine eklatante Verschwendung von Ressourcen wäre, Ressourcen, die dringend gebraucht werden, um eine Europol-Anfrage nach den Verbindungen des Täters und um dringend notwendige Ermittlungen nach einem Netzwerk anzustrengen. Fahrlässig auch wie ein Motiv der Nachahmertat auf diese Weise ausgeblendet geblieben wäre, wenn nicht Anwält* innen der Nebenklage hier ausdrücklich ihr Veto gegen das BKA-Statement eingelegt hätten. Es scheint sich in allen genannten Fällen um einen deutlich unterlassenen Ermittlungseifer zu handeln. Oder wie soll man nicht zuzuordnende DNA-Spuren am 3-D-Drucker des Täters von Halle verstehen, während gleichzeitig Personen aus dessen Umfeld gar keine Fingerabdrücke abgenommen wurden?
An dem Halle-Verfahren nahmen Vertreter der Generalbundesanwaltschaft teil, ohne Initiative. Sie saßen da. Wie sollen sich Betroffene, Angehörige und Überlebende dieser Taten beschweren, wenn sie sich von den Sicherheitsbehörden selbst bedrängt und eingeschränkt fühlen? Rabbiner Jeremy Apfelbaum-Borovitz, einer der Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge in Halle, erklärte zum Umgang mit den Betroffenen, dass sie wie Verdächtige behandelt worden seien und nicht als diejenigen, die Opfer geworden waren. Er wolle nichts gegen die Polizei sagen, aber er sei sicher, sie könne ihren Job besser machen. Damit umschrieb Rabbiner Borovitz die Tatsache, dass seine Frau, seine Tochter und er selbst noch zusätzlich durch die Polizei rücksichtslos behandelt und in eine verstörende Situation gebracht worden waren, die erst durch das Eingreifen der US-amerikanischen Botschaft für die Familie beendet wurde.
Die Bombe nach der Bombe
Die Angehörigen und Überlebenden des NSU-Terrors bezeichneten die Behandlung durch die Polizei als „Bombe nach der Bombe“. Sie wurden beschattet, jahrelang verhört, zersetzt, belogen, getäuscht und ihre bürgerliche Reputation wurde nachhaltig zerstört. Da es keine unabhängigen Beschwerdestellen gibt, wenn gegen die Polizei etwas vorzubringen ist, blieben sie, die dem Rechtsstaat so sehr vertraut hatten, alleingelassen. Dieses Problem besteht weiter fort. In den Worten von Armin Kurtović, Vater des am 19. Februar 2020 in Hanau ermordeten Hamza Kurtović:
„Mein Sohn war blond, wie meine Frau. Einmal kam er von einem Date zurück und erzählte, dass die Frau im ersten Moment nicht begriffen hat, dass er Hamza ist – sie hatte nach einem dunkleren Mann Ausschau gehalten. Er witzelte, dass er einen anderen Namen bräuchte. Aber von der Polizei wurde er als ‚orientalisch‘ beschrieben. Was soll an ihm orientalisch gewesen sein? Ich glaube, die haben alle in dieser Shisha-Bar einfach als Ausländer gesehen. Und ich glaube, dass vieles hier und in Deutschland anders gelaufen wäre, wenn die Opfer andere Namen hätten, wenn sie Stefan und Marie geheißen und in Waldis Bierkeller gesessen hätten...
Es gibt so vieles, das ich Hamza gerne noch sagen würde. So vieles. Aber eine Sache habe ich wirklich neu gelernt. Er ist viel kontrolliert worden von der Polizei in den vergangenen Monaten. Einmal kam er nach Hause und war richtig wütend über eine Kontrolle. Ich habe ihm damals gesagt: ‚Reg dich nicht auf, die Polizisten machen auch nur ihren Job.‘ Aber er war wirklich sauer. ‚Warum machen die ihren Job immer nur bei mir? Weil ich eine Jogginghose trage? Was wollen die?‘, hat er gefragt. Wir hatten eine kleine Diskussion, er ist rausgestürmt. Und dann kam er noch mal zurück ins Zimmer und sagte: ‚Du verstehst das nicht, Papa. Aber irgendwann, irgendwann wirst du es verstehen.‘ Ich habe verstanden. Das würde ich ihm gern sagen.“
Esther Dischereit ist Schriftstellerin und Journalistin und war von 2012 bis 2017 Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Heike Kleffner ist ebenfalls Journalistin und Publizistin mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus.
Zitierweise: Esther Dischereit mit Heike Kleffner, "Vor aller Augen: Pogrome und der untätige Staat". in: Deutschland Archiv, 19.02.2024, Erstveröffentlichung am 19.2.2022. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Dieser Beitrag ist dem Band "(Ost)Deutschlands Weg II", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick, entnommen, der in der bpb-Schriftenreihe im Oktober 2021 erschienen ist (SR 10676).
schreibt Prosa, Essays, Lyrik und Stücke für Radio und Theater. Sie erhielt 2009 den Erich-Fried-Preis und war von 2012 bis 2017 Professorin an der Angewandten in Wien (Universität für angewandte Kunst), 2019 DAAD-Chair in Contemporary Poetics an der New York University.
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