Wie diese Politik den Alltag eines evangelischen Pfarrers in der DDR geprägt hat, wird in dem vorliegenden Buch geschildert – anschaulich und authentisch. Dietmar Linke hat sich als evangelischer Seelsorger in den Jahren 1971 bis 1983 mit der Realität im Pfarramt (…) auseinandersetzen müssen, gemeinsam mit seiner Frau Barbe Maria.(…) Beide waren Drangsalierungen der Staatssicherheit ausgesetzt. Zersetzungsarbeit, Operative Personenkontrolle, Installierung von Abhör-„Wanzen“, geheime Wohnungsdurchsuchung, Operativer Vorgang, Bespitzelung durch Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit – das sind die Stichwörter. Nichts blieb dem Ehepaar und ihren Kindern erspart. Die letzte Konsequenz hieß Ausbürgerung nach West-Berlin im Dezember 1983. Und selbst hier setzte die DDR-Staatssicherheit die „operative Bearbeitung“ Dietmar Linkes fort. Die Darlegungen des Autors beruhen auf konkreter Erfahrung in Kirche und Gesellschaft. Seine akribisch dokumentierten Aufzeichnungen machen die Schikane der Staatssicherheit exemplarisch, denen die Geistlichkeit im Staat der SED ausgesetzt war. (...) Herausgearbeitet wird die Absurdität des Überwachungs- und Unterdrückungssystems in der DDR. (...) Das Buch ist nicht nur von biografischem Interesse. Es ist auch und nicht zuletzt ein Zeugnis christlicher Selbstbehauptung und Opposition und damit ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. (...)
Lesung mit Stefan Heym − Auslöser der operativen Bearbeitung
Vor der Sommerpause 1979 erreichten uns in Neuenhagen (b. Berlin) aufregende Nachrichten aus der Schriftstellerszene der DDR. Stefan Heym war am 22. Mai wegen Devisenvergehens von den DDR-Behörden zu einer Geldstrafe von 9.000 Mark verurteilt worden; in der Bundesrepublik war Anfang des Jahres sein Roman Collin erschienen. Am 7. Juni wurde er mit weiteren acht DDR-Autoren aus dem Schriftstellerverband „wegen groben Verstoßes gegen das Statut“ des Verbandes ausgeschlossen.
Den Akten des MfS kann ich heute entnehmen, was sich nach unserem Gespräch in Grünau ereignete. Am 13. August fand in der MfS-Kreisdienststelle in Strausberg eine erste Krisensitzung statt, an der aus Strausberg der Gen. Schmidt, von der HA XX [Hauptabteilung: Staatsapparat, Kirche, Kultur, Untergrund] Berlin der Gen. Wetzel, und Gen. Puder von der Abt. XX aus Frankfurt/Oder teilnahmen. Gen. Wetzel informierte die Anwesenden. Durch ein Telefongespräch zwischen Frau Linke und Stefan Heym habe man erfahren, dass Heym mit einer Buchlesung in Neuenhagen einverstanden sei. Inzwischen habe am 8. August um 10.00 Uhr ein persönliches Gespräch in der Wohnung des Heym stattgefunden. Heym habe in der Vergangenheit des Öfteren Buchlesungen durchgeführt. „Bisher hatten die Buchlesungen des H. im kirchlichen Bereich großen Zuspruch.“ Mit Gen. Wiegand, dem Leiter der HA XX/4 [Hauptabteilung: Kirche], sei bereits über Schritte zur Verhinderung dieser und künftiger Veranstaltungen des Heym im kirchlichen Bereich beraten worden. Zur Verhinderung der Veranstaltungen solle die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg eingeschaltet werden.
„Durch die KD [Kreisdienststelle] Strausberg werden folgende Maßnahmen realisiert: Vorinformation der VP [Volkspolizei], dass bei einer evtl. Veranstaltung die Anmeldung sofort an die KD weitergegeben wird; Durchführung von Kontrollen im Ort nach Aushängen und sonstigen Veröffentlichungen der Kirche; Schaffung von Voraussetzungen für inoffizielle Absicherung einer evtl. Veranstaltung mit H. Bei Feststellung des Veranstaltungstermins erfolgt eine Sofortmeldung an die Fachabteilung zur kurzfristigen Festlegung koordinierter Maßnahmen.“
Am 14. August, hatte die Abteilung XX/4 der Bezirksverwaltung Frankfurt/O. eine fünfseitige „Operativ-Information“ über Barbe und mich erstellt. (...) Am Schluss heißt es: „L. war schon immer ein Feind unseres Staates und ist es auch geblieben. Er hat nicht einmal die Formen seiner Feindtätigkeit wesentlich geändert. Offensichtlich wird L. in seiner Haltung von seiner Frau bestärkt [...]. Es wird vorgeschlagen, dass Pfarrer Linke und seine Ehefrau durch die KD Strausberg operativ bearbeitet werden.“
Am 18. September wurde der Operativplan erstellt. Darin heißt es unter anderem: „Da der L. einen Telefonanschluss hat, wird zur Feststellung feindlich-negativer Aktivitäten eine A-Maßnahme der Bezirksverwaltung (BV) Frankfurt/O., Abt. 26, durchgeführt.“ Die A-Maßnahme bezeichnet das Abhören des Telefons. Um eine Abhörmöglichkeit im „Wohn- und Arbeitsbereich des L.“ realisieren zu können, sei zu prüfen, ob eventuell „Reparatur- bzw. Baumaßnahmen in der Kirche oder im Wohnhaus des L. notwendig sind“, um diese für den Einbau der erforderlichen Technik zu nutzen. Außerdem solle „in Vorbereitung geplanter operativer Maßnahmen im Wohn- und Arbeitsbereich des L.“ ein Beobachtungsstützpunkt „in unmittelbarer Nähe der Wohnung“ ausfindig gemacht werden.
Aus Erfahrung wussten wir, dass es nicht gut ist, wenn man eine brisante Veranstaltung zu zeitig ankündigt. So haben wir erst zehn Tage vor der für den 3. Oktober geplanten Lesung eingeladen. Einladungen hatte ich mit einem Ormig-Abzugsgerät vervielfältigt und teilweise mit der Post versandt oder im Schaukasten vor dem Pfarrhaus ausgehängt. Am 27. September informierte der Leiter der HA VII [Hauptabteilung: Ministerium des Innern, Deutsche Volkspolizei], Generalmajor Büchner, den Leiter der BV Frankfurt/O., Oberst Stöß, und den Stellvertreter des Ministers, Generalleutnant Mittig, über das Auftauchen dieser Einladungen „an Bäumen und anderen Orten“ von Neuenhagen. Ein Einladungsschreiben habe der Bürgermeister mit der Post erhalten, das folgenden Wortlaut habe: „Es wird eingeladen zu einem Gemeindeabend am 3. Oktober, um 19.30 Uhr, Ort: Evangelische Kirche Neuenhagen. Der Schriftsteller Stefan Heym ist zu Gast. Wir erlauben uns, Sie und Ihre Freunde zu diesem Abend herzlich einzuladen. Im Namen des Gemeindekirchenrates Ihr Pfarrer Linke. Darunter ein Zitat aus dem Buch von Stefan Heym ‚König David Bericht’: "Ein Traum kann ebenso zur historischen Kraft werden wie eine Sintflut oder ein Heer oder ein Fluch Gottes − besonders ein Traum, der so glänzend erzählt und dokumentiert ist wie der eure.“
Für den 27. September um 10 Uhr hatte ich ein Gespräch mit dem Bürgermeister, Herrn Butzner, vereinbart. Es sollte u. a. um die Beschaffung von Wohnraum für den zweiten Pfarrer der Gemeinde gehen. ( …) Bevor das Gespräch begann, wurde mir mitgeteilt, dass im Anschluss eine Aussprache mit dem Referenten für Kirchenfragen vom Rat des Bezirkes Frankfurt/O., Herrn Naundorf, über den Gemeindeabend am 3. Oktober erfolge. Diese Aussprache begann gegen 11.30 Uhr. (…) Anwesend waren der Bürgermeister und der Referent aus Frankfurt/Oder. ( …)
Der Bürgermeister eröffnete die Aussprache. Es gehe um die geplante Lesung mit dem „Staatsfeind“ Stefan Heym. Die Republik feiere in diesen Tagen den 30. Jahrestag. Diese Veranstaltung würde die Feierlichkeiten stören. Außerdem gäbe es keine staatliche Genehmigung. Somit sei die Veranstaltung verboten. In meiner Entgegnung wies ich darauf hin, dass wir zu keiner Lesung, sondern zu einem Gemeindeabend eingeladen hätten, der nach der Veranstaltungsverordnung weder anmelde- noch genehmigungspflichtig sei. (…) Es könne uns nicht vorgeschrieben werden, wer im Rahmen eines Gemeindeabends zu Wort komme. Ich wies darauf hin, dass Stefan Heym kein Staatsfeind sei, sondern Bürger dieses Landes und ein über die Grenzen der DDR hinaus anerkannter Schriftsteller, der in der Zeit des Nationalsozialismus schon einmal Deutschland verlassen musste.
Die Drohgebärden wurden schärfer, als der Bürgermeister sagte, er werde in seiner Funktion Stefan Heym am Betreten des Ortes Neuenhagen hindern, der hier eine unerwünschte Person sei. Der Referent aus Frankfurt/O. ergänzte, dass die Möglichkeit bestünde, die Personalien der Veranstaltungsbesucher feststellen zu lassen. „Wollen Sie dafür die Verantwortung übernehmen?“, fragte er. Am Schluss sagte ich, dass die Veranstaltung stattfinden und ich die Kirchenleitung über dieses Gespräch informieren würde.
Im Gedächtnisprotokoll des Kirchenreferenten vom Rat des Bezirkes Frankfurt/O., Herrn Naundorf, vom 27. September heißt es unter anderem: „Wir haben unsere Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass der GKR [Gemeindekirchenrat] eine Schriftstellerlesung mit St. Heym beabsichtigt und diese irreführend als ‚Gemeindeabend’ bezeichnet. Eine Schriftstellerlesung in einem kirchlichen Gemeindeabend mit dem Atheisten Heym wäre eine fragwürdige Sache. Die Fragwürdigkeit sei auch dadurch gegeben, dass Heym vom Schriftstellerverband ausgeschlossen und wegen krimineller Vergehen und Verleumdung der DDR bestraft worden ist.
Nach der Motivation der Einladung von Heym gefragt, antwortete L.: [...] Heym besitze Erfahrungen aus der Emigration in den USA, aus dem faschistischen Widerstandskampf und als Bürger der DDR über vielgestaltige Fragen und Probleme beim Aufbau des Sozialismus in der DDR. Es gehe darum, so erklärte L., die Gemeindearbeit interessant und lehrreich zu gestalten [...]. Eine Konfrontation läge nicht in seiner Absicht, auch nicht von Seiten St. Heym. Bestimmend für sein Tun sei der Auftrag der ‚Kirche für andere’, das beinhalte, für andere da zu sein, auch für die, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Auf die Frage, wo er sich eine Bereicherung des Gemeindelebens durch den Atheisten Heym vorstellt, erwiderte er, sie möchten im und durch das Gespräch den Menschen kennenlernen, über den öffentlich geurteilt wird, sie wollen sich ihr eigenes Urteil bilden. Als Kirche halten sie nichts von Schwarz-Weiß-Malerei und Vorgedachtem.
Unsererseits wurde auf das Gespräch vom 6.3.1978
Noch am gleichen Tag forderte der Leiter der KD Strausberg bei der BV Frankfurt/O. konspirative Technik an: „Zur Durchführung einer konspirativen Überwachung einer Veranstaltung benötigen wir zur Gewährleistung von Tonbandaufnahmen je 1 tragbares Tonbandgerät zum gedeckten Tragen direkt am Mann, (...)“
Am 2. Oktober fand das vom Staat gewünschte Gespräch im Staatssekretariat für Kirchenfragen statt. Vom Berliner Konsistorium waren Konsistorialpräsident Kupas und Propst Dr. Winter erschienen. Der Stellvertreter des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Hermann Kalb, und der Sektorenleiter für Kirchenfragen beim Bezirk Frankfurt/O., Herr Naundorf, übermittelten den Kirchenvertretern die staatliche Erwartungshaltung.
Nach dem Gespräch am 27. September mit dem Bürgermeister (…) berichtete ich Stefan Heym von dem Gespräch im Rat der Gemeinde. (…) Wir entschieden uns schließlich für einen späteren Zeitpunkt, auch, um das Argument, dass wir die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag stören würden, zu entkräften. Als neuer Termin bot sich der 31. Oktober, der Reformationstag, an. Zugleich war uns klar, dass der Konflikt weiter bestehen bliebe. Die zeitliche Nähe zum 30. Jahrestag der DDR war nur ein Scheinargument. (...)
Die Einladungen zum 3. Oktober waren nicht rückgängig zu machen. Daher hatten wir mit Stefan Heym vereinbart, dass er am 3. Oktober im engsten Freundeskreis in unserer Wohnung lesen würde. Ich holte Stefan Heym und seine Frau Inge aus Grünau ab. In unserem Wohnzimmer saßen Freunde aus nah und fern. Bevor Stefan Heym las, informierte ich über die Entwicklungen der letzten Tage und nannte den 31. Oktober als neuen Termin für die Lesung in der Kirche. Nachdem Stefan Heym eine Erzählung gelesen hatte, schloss sich ein lebhaftes Gespräch an. Heym wurde gefragt, ob er die Absicht habe, das Land zu verlassen. Darauf antwortete er mit einem eindeutigen Nein. Am Ende sammelten wir eine Kollekte, die für politisch Verfolgte bestimmt sein sollte. Es war zu erwarten, dass das MfS auch an diesem Abend wachsam verfolgen würde, was sich im und um das Pfarrhaus abspielte. Aus den MfS-Akten erfahre ich: Einundzwanzig Autos hatte die Stasi gezählt, die vor dem Pfarrhaus an diesem Abend parkten, die Kennzeichen notiert und die Fahrzeughalter ermittelt.
Am folgenden Tag, dem 4. Oktober, fand eine Sondersitzung der Kirchenleitung in Berlin statt, zu der ich und drei weitere Kollegen, die ebenfalls Lesungen in kirchlichen Räumen durchführten, eingeladen waren. Es war erkennbar, dass vor allem Bischof Schönherr durch die Staatsfunktionäre bedrängt worden war. Er möge seinen Einfluss geltend machen, dass künftig derartige Veranstaltungen eingeschränkt oder gar verhindert würden. Über den Verlauf dieser Sitzung schreibt Hauptmann Geister (Abt. XX/4 Frankfurt/O.) am 23. Oktober: „Major Roßberg, HA XX/4, informierte mich mündlich über das Ergebnis der außerordentlichen Kirchenleitungssitzung am 4. Oktober 1979. Gegenstand der KL-Sitzung waren die durchgeführten Buchlesungen und Liederabende von oppositionellen künstlerischen Personenkreisen im Bereich der Evangelischen Kirche. Zu dieser Sitzung wurde u. a. auch Pfarrer Linke aus Neuenhagen eingeladen. (…) Der überwiegende Teil hat sich gegen die Praktiken des Pfarrer Linke ausgesprochen und ihn kritisch zur Rede gestellt. (…)
Im Ergebnis der Tagung wurden folgende Festlegungen getroffen:
Am 24. Oktober 1979 wird eine weitere KL-Sitzung zu dieser Problematik durchgeführt, bei der eine endgültige Entscheidung gefällt wird.
Eventuell geplante Veranstaltungen, wie Buchlesungen, Liederabende u. a. sind bei der Kirchenleitung anzumelden. (…)
Die Kirchenleitung wünscht keine Konfrontation mit dem Staat, die mit derartigen Veranstaltungen herbeigeführt werden könnte. (...)“
Gelassener und inhaltlich sachlicher stellt sich das Auftreten von Bischof Schönherr (...) in einem Gespräch mit dem Stellvertreter Seigewassers, Hermann Kalb, am 1. September dar. Bischof Schönherr wies darauf hin, dass „es sich bei den genannten Fällen hinsichtlich der Mitwirkung oder des Fehlverhaltens von Geistlichen um eine verschwindende Minderheit handelt. Die überwiegende Mehrheit der Pfarrer verhalte sich korrekt [...]. Zum anderen müsse man den Kirchengemeinden das Recht einräumen, sich mit den geistigen Fragen und Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen und in diese Diskussionen auch Gegenwartsliteratur einzubeziehen, die Fragen an Staat und Gesellschaft aufwirft, Missstände, menschliches Versagen und Fehlentwicklungen beim Namen nennt und Antworten offen lässt. Dies treffe zum Beispiel auf Stefan Heym zu.“
Als Stefan Heym am 3. Oktober im Pfarrhaus las, war unter den Zuhörern (…) auch Karin R. mit ihrem Mann. Bei einer Silvesterfeier 1977 haben wir sie und ihren Mann kennengelernt (...) Aus diesem Kontakt wurde eine Freundschaft. (...) Aus den MfS-Akten erfahre ich, dass Karin R. zwei Tage nach dem Abend mit Stefan Heym im Pfarrhaus zur MfS-Kreisdienststelle in Brandenburg/ Havel ging. Hauptmann Antczak berichtet über diese Begegnung: Karin R. „erschien am 5.10.1979 um 15.30 Uhr auf der Kreisdienststelle in Brandenburg. Die Person bat um eine Aussprache [...]. Die Person gibt an, dass sie durch Pfarrer Dietmar Linke aus Neuenhagen zu einem Literaturabend, an dem der Schriftsteller Stefan Heym lesen wollte, schriftlich eingeladen worden ist. Der Pfarrer Dietmar Linke ist mit der Familie R. befreundet […]. Gegen 18 Uhr fanden sich in der Wohnung des Linke ca. 50 Personen ein. (...) Es handelte sich um Kulturschaffende, Mediziner und andere Personen aus der Intelligenz [...]. Gegen 20 Uhr erschien Stefan Heym [...] Die anschließende Diskussion befasste sich damit, wie man in der DDR die bestehenden Verhältnisse verändern könne, um die Fürstenschicht, sprich die Funktionärsschicht, abzulösen, die Pressefreiheit, die Freiheit des Reiseverkehrs durchzusetzen. Man fand, dass man Basisarbeit machen müsse, d. h. in kleinen Gruppen Gleichgesinnte sammeln muss, um zu einer starken Bewegung werden zu können. Erst wenn diese Breitenbasis geschaffen werden kann, ist man in der Lage, öffentlichkeitswirksam ein Konzept vorzutragen [...]. Im wesentlichen ging die Diskussion darum, wie man die Verhältnisse in der DDR ändern kann. Auf Grund dieser Richtung des Abends (…) suchte die Person R. jemand, mit dem sie sich aussprechen und beraten kann. [...]. Aus diesem Grunde hat sie sich, da sie keinen weiteren Ausweg sah, an das MfS gewandt. Mit ihrem Mann kann sie über das Problem nicht sprechen. [...]. Durch Unterzeichner wurde sie gebeten, die gemachten Angaben auf Band zu sprechen, um eine objektive Darstellung des von ihr dargestellten Sachverhaltes zu bekommen. (…) Sie habe beim Betreten des Objektes Angst gehabt, dass sie jemand sehen könnte und dass sie damit in Misskredit kommt. [...]. Die Karin R. wurde dann aufgefordert, eine schriftliche Erklärung zu schreiben, dass sie die gemachten Angaben freiwillig getätigt hat und um diese Aussprache bat. Des weiteren wurde mit ihr darüber gesprochen, dass sie gegenüber jeder anderen Person Stillschweigen über das Gespräch zu bewahren hat, wozu sie erklärte, das sei für sie das wesentlichste und von ihr würde niemand darüber Kenntnis erhalten. Des weiteren erklärte sie sich bereit, weitere Gespräche mit dem MfS zu führen und den geschilderten Sachverhalt entsprechend den vom Unterzeichner noch auftretenden Fragen zu ergänzen. Die Karin R. wollte dann vom Unterzeichner wissen, wie sie sich nun verhalten solle, was den 31.10.1979 anbetrifft. Ihr wurde dahingehend klargemacht, dass sie diesen Termin wahr-nehmen wird und uns über den Inhalt des Geschehens Mitteilung machen wird. Mit ihr wurde vereinbart, dass am Donnerstag um 09.00 Uhr in ihrer Zweitwohnung in Brandenburg durch Unterzeichner eine weitere Zusammenkunft geführt wird. Hier werden dann mit ihr die noch offenen Fragen geklärt und auch Details des Verhaltens für den 31.10.1979 gegeben [...].“
Ich reichte das Mikrofon an Stefan Heym weiter. „Ich freue mich, dass ich heute hier zu Ihnen kommen konnte. Der Pfarrer hatte erzählt, heute ist Reformationstag. Das, was ich ausgewählt habe, hat mit der Reformation zu tun. In England gab es Auseinandersetzungen Anfang des 18. Jahrhunderts zwischen der offiziellen Anglikanischen Kirche, die mit den herrschenden Schichten verbunden war, und den sogenannten Abweichlern, den Puritanern. In diesen Kämpfen griff ein Schriftsteller ein, Daniel Defoe, der ein Pamphlet geschrieben hatte, nicht unter seinem Namen, sondern anonym. Die Auseinandersetzungen endeten damit, dass der Schriftsteller Defoe an den Pranger gestellt wurde. Die Form, in der ich diese Geschichte geschrieben habe, ist das Tagebuch, Tagebucheintragungen des Polizeiagenten, der für den damaligen Premierminister die Strafverfolgung des Daniel Defoe durchgeführt hatte.“
Nach diesen einleitenden Worten las Stefan Heym aus seiner Erzählung Die Schmähschrift. Parallelen zu den Auseinandersetzungen der letzten Wochen wurden sichtbar. Ich hatte mit Stefan Heym verabredet, dass es im Anschluss an die Lesung keine Diskussion geben sollte, um andere nicht zu gefährden. In einem kleineren Kreis waren wir danach noch im Pfarrhaus zusammen. Von IM „Bertram“ wird auf acht Schreibmaschinenseiten über diesen Abend berichtet: Heym „las aus seinem Buch ‚Die Schmähschrift oder Könige gegen Defoe’. Dieses Buch ist in der DDR erschienen. Er hat es in Tagebuchform geschrieben, geführt von einem Spitzel, der nach Defoe fahndete [...]. Der Defoe wurde gefasst und für dieses Pamphlet drei Tage in London an den Pranger gestellt. Der König hatte eine Bande von Spitzbuben organisiert, die den Willen des Volkes darstellen und den Defoe mit Unrat bewerfen sollten. Es wurde nicht einberechnet, dass sich das Volk um Defoe sammelte und ‚Hoch Defoe, nieder mit der jetzigen Diktatur’ rief. Es wurden Pamphlete gegen den Staat verlesen und Defoe war der gefeiertste Held, weil er in Wort und Schrift gegen die derzeitigen Machthaber aufgetreten ist [...]. Der Schluss erregte allgemeine Heiterkeit des Publikums und danach begann ein wirklich rasender Beifall in der Kirche und Heym sah sich genötigt, ein weiteres Stück zu lesen [...]. Zusammenfassend zu der ganzen Veranstaltung möchte ich sagen, dass ich alles, die Gebete, die Worte des Pfarrers, das Vorlesen von Heym, die Veranstaltung als eine ganz starke Hetzveranstaltung gegen unsere Republik werte und dass man leider sagen muss, dass die Mehrzahl der Leute nach meiner Meinung, sich mit dem Gesagten einverstanden erklärte.“
Nach den Turbulenzen der vergangenen Wochen verfolgte die MfS-Kreisdienststelle Strausberg zielstrebig die Eröffnung des Operativen Vorgangs „Kreuz“. Am 27. November 1979 wurde ein fünfzehnseitiger Eröffnungsbericht zum OV „Kreuz“ erstellt. „Es wird vorgeschlagen, die DDR-Bürger“ Linke, Dietmar und Linke, Barbe-Maria „in einem Operativvorgang zu bearbeiten, da sie im dringenden Verdacht landesverräterischer Agententätigkeit gemäß § 100 StGB stehen.“
Das Buch von Dietmar Linke "Bedrohter Alltag - Als Pfarrer im Fokus des MfS" ist 202 in der 6. Auflage im Geest-Verlag erschienen.