Bei der Bildung der neuen Bundesregierung wurde unter anderem explizit die Repräsentation spezifisch ostdeutscher Interessen thematisiert: „Mit diesem Koalitionsvertrag können wir (…) den Osten voranbringen“, betonte der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD), der auch Ostbeauftragter seiner Partei ist. Neben solchen positiven Einschätzungen gab es jedoch auch kritische Stimmen. Vor der Vereidigung des neuen Kabinetts erklärte die Thüringer Umweltministerin Anja Siegesmund (Bündnis 90/Die Grünen), dass „zu wenige“ Ostdeutsche der künftigen Bundesregierung angehören würden.
Dass auch nach der neunten gesamtdeutschen Bundestagswahl die Vertretung der Ostdeutschen diskutiert wurde, hat unter anderem damit zu tun, dass sich die fünf Länder auf dem Territorium der ehemaligen DDR hinsichtlich des Wahlverhaltens und wirtschaftlicher Indikatoren nach wie vor deutlich von den westdeutschen Ländern unterscheiden: Ostdeutsche beteiligten sich auch 2021 seltener an der Bundestagswahl, stimmten überdurchschnittlich häufig für AfD und Linke, aber in unterdurchschnittlichem Maße für CDU und Bündnis 90/Die Grünen. Differenzen bestehen außerdem im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich: Die Löhne und Renten sind weiterhin geringer als im Westen, während für die Arbeitslosenquote Gegenteiliges zu konstatieren ist.
Die eingangs aufgegriffenen Zitate spiegeln zwei Dimensionen des von der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Hanna F. Pitkin entwickelten Konzepts der Repräsentation sozialer respektive gesellschaftlicher Gruppen wider: Der von Martin Dulig angesprochene Aspekt fokussiert auf die handlungsbezogene Repräsentation; Pitkin sprach in diesem Zusammenhang von „substantive acting for“. Der Kritikpunkt von Anja Siegesmund bezieht sich auf die personenbezogene – im Sinne von Pitkin: die deskriptive – Repräsentation.
Vor diesem Hintergrund wird – in Anlehnung an einen Beitrag für das Deutschland Archiv 2018 – analysiert,
inwiefern spezifische Interessen Ostdeutschlands in den Wahlprogrammen und der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen wurden sowie
in welchem Maße ostdeutsche Politiker*innen bei den Koalitionsverhandlungen und in der neuen Bundesregierung vertreten waren respektive sind.
Die handlungsbezogene Repräsentation Ostdeutschlands
In die Analyse der handlungsbezogenen Repräsentation Ostdeutschlands wurden die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien und die im November 2021 vorgestellte Koalitionsvereinbarung einbezogen. Im Rahmen einer Inhaltsanalyse wurden die genannten Texte hinsichtlich Passagen mit einem direkten Bezug zu den ostdeutschen Bundesländern, der dortigen Situation im Vergleich zum Westen Deutschlands und der DDR-Vergangenheit ausgewertet.
Wahlprogramme
Die drei späteren Koalitionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP berücksichtigten die spezifisch ostdeutschen Interessen in ihren Wahlprogrammen in unterschiedlicher Weise. Thematische Bezüge bestanden hauptsächlich zur Wirtschafts- und Standortpolitik im weitesten Sinne sowie zur Aufarbeitung der Folgen der DDR-Vergangenheit und des Transformationsprozesses nach der Deutschen Einheit. Wegen eines aus ihrer Sicht weiterhin bestehenden Bedarfs plädierten die Sozialdemokraten für eine fortgesetzte Erhebung des Solidaritätszuschlags für sogenannte Spitzenverdiener*innen. Während die Thematik im Wahlprogramm der Grünen keine Erwähnung fand, erklärten die Freien Demokraten eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu einer „Frage der politischen Glaubwürdigkeit“ und erhofften sich davon insbesondere eine Entlastung mittelständischer Unternehmen. Bei diesem Punkt bestehen also vor allem zwischen SPD und FDP Diskrepanzen.
Als traditionelle Vertreterin von Arbeitnehmerinteressen setzte sich mit der SPD nur eine Ampel-Partei explizit für eine verbesserte Tarifbindung als Voraussetzung für die Lohnangleichung zwischen Ost und West ein. Mit der Schaffung eines Bundestariftreugesetzes, der Begrenzung von Tarifflucht und der Ausweitung allgemein verbindlicher Tarifverträge finden sich jedoch auch einige gemeinsame Ziele von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen. Im Rahmen der Weiterentwicklung regionaler Wirtschaftsstrukturen betonte die SPD die notwendige finanzielle Entlastung der Kommunen. Dabei sollte unter anderem eine Lösung für die problematische Situation ostdeutscher kommunaler Wohnungsbauunternehmen gefunden werden, die durch zum Teil hohe unverschuldete Verbindlichkeiten aus DDR-Zeiten in ihrer Investitionskraft gehemmt sind. Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung einer Entlastung blieb die SPD allerdings unkonkret. Zur Stärkung der ostdeutschen Forschungslandschaft strebten SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter anderem die Neuansiedlung von Forschungseinrichtungen in strukturschwachen Regionen des Ostens an. Die SPD richtete ihren Fokus vor allem auf die Förderung technologischer Innovationen an ostdeutschen Forschungsstandorten.
Bündnis 90/Die Grünen setzten sich für die Förderung des Breitensports als Ort der Vermittlung demokratischer Werte ein und betonten dabei die Notwendigkeit eines besonderen Fokus auf Ostdeutschland, „denn die Diskrepanz zwischen Ost und West ist im Breitensport auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution ein Problem.“
Aus der Perspektive des sich durch den gesamten Wahlkampf ziehenden Schlagwortes „Respekt“ bezog sich die SPD auch auf die Anerkennung der besonderen Erfahrungen und Leistungen von Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse verband die Partei mit dem Ziel, „die Sichtbarkeit der Ostdeutschen in allen Bereichen zu erhöhen“. Diese Zielsetzungen wurden vor allem im Kontext der Förderung und Festigung des Vertrauens in die Demokratie in den ostdeutschen Bundesländern formuliert.
Ein wesentlicher kultureller Aspekt mit ostdeutschem Bezug, der in den Wahlprogrammen aller Koalitionsparteien vorkommt, betrifft die fortlaufende Aufarbeitung begangenen Unrechts in der DDR. Dazu strebten die Sozialdemokraten eine Stärkung der Bundesstiftung Aufarbeitung an, während sich Bündnis 90/Die Grünen für eine höhere Entschädigung für Opfer der SED-Diktatur und die FDP für die Modernisierung des Gedenkstättenkonzepts einsetzten. Durch den Aufbau eines „Zentrum[s] für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ beziehungsweise eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ wollten SPD und Bündnisgrüne die Charakteristika ostdeutscher Biografien erforschen und so die Vollendung der Deutschen Einheit unterstützen. Die Ursprungsplanung eines solchen Zentrums geht allerdings auf die Vorgängerregierung zurück.
Im Gegensatz zu den drei Parteien der späteren Ampel-Koalition widmeten die Unionsparteien und Die Linke den spezifisch ostdeutschen Interessen in ihren Wahlprogrammen mehr Aufmerksamkeit und fokussierten auch andere Aspekte: Die Linke bezeichnete Ostdeutschland als „neoliberales Versuchsfeld der Bonner Politik“ und betonte ihr Selbstverständnis als „Stimme des Ostens“. Ein programmatischer Fokus der Linken lag auf der Forderung einer „Lohnoffensive“ mit einer vollständigen Angleichung der Löhne im Osten an das Westniveau bis 2025. CDU und CSU wollten das Potenzial der ostdeutschen Länder zur stärkeren Vernetzung mit Mittel- und Osteuropa nutzen. Hinsichtlich der Neuansiedlung von Bundesbehörden im Osten wurden CDU und CDU konkreter als die anderen Parteien, indem sie explizit die Einrichtung einer digitalen Ausbildungsstätte der Bundeswehr anstrebten. Der spezifisch ostdeutsche Bezug im Wahlprogramm der AfD beschränkte sich im Wesentlichen auf das Bestreben der Partei, „Ungerechtigkeiten bei der Überleitung der Ostrenten“ zu beseitigen.
Koalitionsvereinbarung
Die in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen enthaltene Vollendung der Deutschen Einheit wird auch durch die neue Bundesregierung angestrebt. In der Präambel der Koalitionsvereinbarung heißt es dazu: „Mehr als 30 Jahre nach der Deutschen Einheit bleibt es unsere Aufgabe, die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden.“ Den Wandel ostdeutscher Lebenswirklichkeiten charakterisieren die Regierungsparteien als „Herausforderung“. Bei deren Bewältigung soll die Erforschung künftiger Transformationsprozesse im „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ eine wichtige Rolle spielen. Mit der Standortausschreibung ab Anfang 2022 will die Bundesregierung die Weichen für die Errichtung des Zentrums stellen.
Im Sinne einer verbesserten Repräsentation ostdeutscher Interessen einigten sich die Koalitionsparteien auf einen zweidimensionalen Ansatz: Bis Ende 2022 soll ein Konzept für die verstärkte personelle Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien des Bundes vorliegen. Gleichzeitig findet auf institutioneller Ebene eine Priorisierung der ostdeutschen Bundesländer bei einer allerdings nicht näher konkretisierten Neuansiedlung von Bundes- und Forschungseinrichtungen statt.
Für das Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sollen die Tarifautonomie und die Tarifbindung gestärkt werden. Hiervon erwartet sich die Ampel-Koalition unter anderem eine Angleichung der Arbeitsentgelte im Osten an das Lohnniveau im Westen Deutschlands. Im Rahmen der geplanten „Zukunftsinvestitionen und nachhaltige[n] Finanzen“ übernimmt die Koalition ein Ziel aus dem SPD-Wahlprogramm: Bei der Entschuldung belasteter Kommunen soll die spezifische Situation ostdeutscher Gemeinden berücksichtigt werden. Genauere Projekte werden hierzu jedoch (noch) nicht vorgeschlagen.
Ähnlich unkonkret sind die Vorhaben zur Entlastung kommunaler Wohnungsgesellschaften in Ostdeutschland. Dazu beabsichtigt die Bundesregierung die zügige Aufnahme von Gesprächen unter anderem mit den Ländern. Hinsichtlich der Erhebung des Solidaritätszuschlags auf sehr hohe Einkommen, zu denen sich SPD und FDP vor der Bundestagswahl deutlich gegensätzlich positioniert hatten, fanden die Koalitionäre während der Verhandlungen keine Einigung, weshalb das Thema in der Koalitionsvereinbarung nicht erwähnt wird. Im Umgang mit der DDR-Vergangenheit widmet sich die Regierung auch retrospektiven Projekten; zu diesen gibt es im Vergleich die meisten Textstellen mit ostdeutschem Bezug in der Koalitionsvereinbarung. So einigten sich die drei Parteien darauf, Opfern der SED-Diktatur und ehemaligen politischen Häftlingen den Zugang zu finanziellen Leistungen zu erleichtern und die SED-Opferrente – jedoch auch hier ohne nähere Konkretisierung – zu „dynamisieren“.
Als Teil der gesellschaftlich-historischen Bildung und Forschung zur DDR-Vergangenheit will die Regierung das Gedenkstättenkonzept unter Beteiligung der SED-Opferbeauftragten modernisieren. Orte der Friedlichen Revolution sollen zudem unterstützt werden; in welcher Form das geschehen soll, wird jedoch nicht präzisiert. Außerdem werden die Einrichtung eines Archivzentrums SED-Diktatur sowie die „Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Campus für Demokratie“ angestrebt.
Bei der Sportförderung beabsichtigt die Regierung die Vorbereitung eines Entwicklungsplans Sport mit der finanziellen Förderung von Sportstätten, vor allem auf kommunaler Ebene. Allerdings wird die besondere Priorisierung der ostdeutschen Breitensportförderung – im Gegensatz zum Wahlprogramm der Grünen – nicht mehr berücksichtigt.
Die deskriptive Repräsentation der Ostdeutschen
Für die Analyse der deskriptiven – gewissermaßen der personenbezogenen – Repräsentation der Ostdeutschen während der Koalitionsverhandlungen sowie in der Bundesregierung muss „ostdeutsch“ zunächst operationalisiert werden. „Das ist keineswegs so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag“: Eine ausschließliche Fokussierung auf den Geburtsort würde zu einer ungenauen Zuordnung führen, denn dann wäre etwa die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel als gebürtige Hamburgerin eine „Westdeutsche“. Wird hingegen auf Wahlkreise und Landeslisten sowie politische Ämter auf der Landesebene zurückgegriffen, würden beispielsweise der neue Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock, die sich beide 2021 für ein Direktmandat in Brandenburg beworben hatten, als „Ostdeutsche“ gelten. Dies wäre jedoch irreführend und widerspräche der öffentlichen Wahrnehmung der Personen. Angesichts „graduelle[r] ostdeutsche[r] Prägungen und Erfahrungen (…), die über Geburt und Sozialisation in der DDR hinausgehen können“, ist es zweckmäßig, sich an dem Ort der primären Sozialisation in den ersten 14 Lebensjahren zu orientieren. Demnach sind diejenigen, die in der DDR – beziehungsweise ab 1990 in einem der fünf ostdeutschen Länder oder Ostberlin – primär sozialisiert wurden, „Ostdeutsche“, auch wenn sie später in die Bundesrepublik respektive den Westen gezogen sein sollten.
Ostdeutsche bei den Koalitionsverhandlungen
Für die Koalitionsverhandlungen richteten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP eine Hauptrunde der Kernteams der drei Parteien und themenspezifische Arbeitsgruppen mit jeweils zwölf oder 18 Mitgliedern ein. Der 21-köpfigen Hauptrunde gehörten drei Ostdeutsche im oben definierten Sinne an: Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) aus Mecklenburg-Vorpommern, die grüne Bundestagsfraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt und Michael Kellner, dessen Funktion als Politischer Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen mit der eines Generalsekretärs vergleichbar ist. Mit einem Siebtel (14,3 Prozent) lag der Anteil über jenem an allen Parteimitgliedern von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (11,9 Prozent; ohne Berlin: 6,2 Prozent), aber erheblich unter jenem an allen Wahlberechtigten (19,9 Prozent; ohne Berlin-Ost: 18,2 Prozent).
Von den 300 Mitgliedern der Arbeitsgruppen können nur 27 – also lediglich neun Prozent – der Kategorie „primär ostdeutsch sozialisiert“ zugeordnet werden. Zwischen den einzelnen Gruppen variiert der Anteil erheblich (siehe Tabelle 1): Der höchste Anteil ist mit 41,7 Prozent in der für „Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ zuständigen Arbeitsgruppe zu verzeichnen. Die Gruppe, die sich mit Flucht, Migration und Integration beschäftigte, bestand zu einem Drittel aus Ostdeutschen. Jedes sechste Mitglied der Arbeitsgruppen für „Wirtschaft“, „Landwirtschaft und Ernährung“, „Bauen und Wohnen“ sowie „Kinder, Familie, Senioren und Jugend“ war ein*e Ostdeutsche*r.
Tabelle 1: Ostdeutsche bei den Verhandlungen der Ampel-Parteien
Eine gänzlich andere Situation ergibt sich für die neun Arbeitsgruppen, in denen keine Person mit primärer Sozialisierung in der DDR und/oder (mind.) einem ostdeutschen Bundesland vertreten war (siehe Tabelle 1). Dass die Beratungen über Demokratie, digitale Infrastruktur, Mobilität, Arbeit, Bildung, Kultur- und Medienpolitik, Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz und Verbraucherschutz, Europa sowie die Finanzen ohne eine*n Politiker*in aus dem Osten stattfanden, verwundert angesichts der Bedeutung einiger dieser Themen für Ostdeutschland, etwa hinsichtlich der Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur oder der geplanten Angleichung des Lohnniveaus.
Ostdeutsche im Kabinett Scholz
Dem Kabinett Scholz gehören mit Steffi Lemke (Grüne) aus Sachsen-Anhalt und der Brandenburgerin Klara Geywitz (SPD) zwei Ostdeutsche an:
Die aus Dessau stammende Steffi Lemke, die früher Politische Bundesgeschäftsführerin ihrer Partei war, ist nunmehr als Ministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz zuständig.
Die in Potsdam geborene Klara Geywitz, die 2019 im Duo mit Olaf Scholz beim Mitgliederentscheid der SPD über den Parteivorsitz gescheitert war, übernahm das neukonzipierte Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen.
Beide Ministerien gehören nicht zu den „klassischen“ Ressorts (z.B. Innen, Finanzen, Außen). Dieser – bereits bei früheren Bundesregierungen zu beobachtende – Aspekt ist bei dem mit 11,8 Prozent geringfügig über dem langjährigen Mittelwert (11,4 Prozent) liegenden Anteil der Ostdeutschen an allen Kabinettsmitgliedern zu berücksichtigen. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sind die Ostdeutschen unterrepräsentiert, weshalb der eingangs zitierten Einschätzung von Anja Siegesmund zuzustimmen ist. Allerdings waren die Ostdeutschen in den rot-grünen Regierungen von Gerhard Schröder (SPD) und im schwarz-gelben Kabinett von Angela Merkel (CDU) noch schlechter vertreten, sodass die Besetzung des Kabinetts von Olaf Scholz nicht ungewöhnlich ist (siehe Abbildung 1).
Im Gegensatz zur Ministerebene sind Ostdeutsche unter den 37 Staatsminister*innen und Staatssekretär*innen – auch im Langzeitvergleich (11,2 Prozent) – mit einem Anteil von 8,1 Prozent erheblich unterrepräsentiert (siehe Abbildung 1). Lediglich drei Personen können als primär ostdeutsch sozialisiert gelten:
Die irakisch-stämmige Sozialdemokratin Reem Alabali-Radovan, die 1990 in Moskau geboren wurde und seit 1996 in Mecklenburg-Vorpommern lebt, ist im Kanzleramt für Migration, Flüchtlinge und Integration zuständig.
Der Thüringer Carsten Schneider, der bisher Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion war, bekleidet das wieder in der Regierungszentrale angesiedelte Amt des Beauftragten für Ostdeutschland.
Der ebenfalls aus Thüringen stammende Bündnisgrüne Michael Kellner, der zuletzt Politischer Bundesgeschäftsführer seiner Partei war, hat nunmehr einen der drei Staatssekretärsposten im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz inne.
Fazit
Die spezifische Situation in Ostdeutschland wird von der neuen Bundesregierung inhaltlich berücksichtigt, wobei in der Koalitionsvereinbarung Konkretisierungen zur Ausgestaltung wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Vorhaben fehlen. Im gesellschaftspolitischen Bereich plant die Ampel-Koalition mit dem Aufbau eines „Zentrum(s) für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ und der verstärkten personellen Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen noch in diesem Jahr größere Projekte. Die Defizite bei der personellen Repräsentation der Ostdeutschen werden auch hinsichtlich der Zusammensetzung der neuen Bundesregierung deutlich: Mit zwei Ministerinnen sind die Ostdeutschen, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, unterrepräsentiert. Eine noch deutlichere Unterrepräsentation ist mit Blick auf die Staatssekretärsebene zu konstatieren.
Seit 1990/91 gab es allerdings Regierungen mit einem noch geringeren Anteil Ostdeutscher, sodass die Situation im Kabinett Scholz durchaus den längerfristigen Gegebenheiten entspricht. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass Bayern, wo mehr als 13 Millionen Menschen leben, im Gegensatz zu den ostdeutschen Ländern gar keine*n Minister*in stellt.
Zitierweise: Hendrik Träger/Celine Matthies, "Die Repräsentation Ostdeutschlands nach der Bundestagswahl 2021", in: Deutschland Archiv, 03.02.2022, Link: www.bpb.de/504525 Hier gibt es den Beitrag von Hendrik Träger zur Interner Link: Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 >>