Die Urgroßmutter, Golda Rosenberg, geborene Schneider
Sharon Adler: Du wurdest 1990 in Odessa, in der heutigen Ukraine geboren. 1996 bist du mit deiner Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Berlin emigriert, von wo Anfang des 20. Jahrhunderts deine in Berlin geborene Urgroßmutter in die Ukraine ausgewandert ist. Welche Migrationserfahrungen lagen zwischen diesen Daten, wie hat deine Urgroßmutter den Holocaust überlebt und wie hat sie über die Jahre ihr Judentum gelebt?
Greta Zelener: Meine 1905 geborene Uroma, Golda Rosenberg, sprach noch Deutsch und kam aus Berlin. Sie emigrierte mit ihrer Familie Anfang des 20. Jahrhunderts nach Odessa, Ukraine, und dennoch war die jüdische Religion und Kultur immer dominant. Sie lebten liberal-gläubig, Zuhause wurde Jiddisch gesprochen und man las die Klassiker jiddischer Literatur, wie Werke von Scholem Alejchem. Während des Zweiten Weltkriegs floh sie 1942 nach Taschkent, Usbekistan, um dem Holocaust zu entkommen. Als meine Urgroßmutter versuchte, ihre Cousine zur Flucht zu bewegen, war diese sich sicher, als ehemals Deutsche von den Deutschen als solche wahrgenommen zu werden. Ihr Selbstverständnis war deutsch geprägt. Sie lag leider falsch. Von acht Geschwistern überlebten nur drei. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Leid, das sie und ihre Kinder während der Flucht erleben mussten, hatte sie Angst davor, das Judentum offen als Religion auszuüben. Sie sprach auch zuhause kein Deutsch oder Jiddisch mehr. All ihre Papiere gingen während der Flucht verloren. Sie hat in den kommenden Jahren auch nie ihren Geburtstag gefeiert. Jedoch ließ sie sich nie den Lebensmut und die Lebenslust nehmen. Wieder in Odessa lebte sie ihr Judentum kulturell aus, durch jüdische Küche und jiddische Musik. Dass ich heute wieder in Berlin lebe und Deutsch, neben Russisch, meine Muttersprache ist, ist demnach auch eine Art symbolische Heimkehr. Mit mir schließt sich dieser Kreis wieder.
Die Großmutter, Elizabeth Heika Lea Furman, geborene Rosenberg
Sharon Adler: Welchen direkten Einfluss hatten die Trauma-Erfahrungen auf deine Großmutter und Mutter? Welchen Bezug hatten sie zum Judentum? Und wie geht deine Generation damit um?
Greta Zelener: Meine Großmutter gehört zu einer größtenteils schweigenden Generation in Bezug auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Zum einen, weil sie noch ein Kind war und vieles nicht in Erinnerung behalten hat, und zum anderen, weil es schwere, teils traumatisierende Ereignisse waren, über die weder ihre Mutter noch sie selbst sprechen konnten.
Das Judentum war ihnen schmerzhaft als Bürde auferlegt worden; diesen Teil von sich zu weisen und so gut es ging zu verstecken, waren sie gewohnt und hielten es somit für notwendig. Es existierten keine Räume, keine Strukturen, in denen man hätte frei und selbstbewusst jüdisch sein können. Der Vorteil meiner Generation ist es, dass seit jenen Ereignissen mehr Zeit vergangen ist. Meiner Großmutter fällt es dadurch leichter, mit mir über ihre Vergangenheit zu sprechen. Auch mir fällt es leichter, Fragen zu stellen, da ich in Berlin mit einem anderen jüdischen Selbstbewusstsein aufgewachsen bin und Zugang zu zahlreichen Informationsquellen habe, mich also vielseitig mit der Thematik auseinandersetzen kann. Gerade für die Gruppe von Kontingentflüchtlingen ist der Holocaust mit einem anderen Narrativ verbunden. Diese Generation sieht sich oftmals eher als Sieger:in denn als Opfer. Aber die Geschichten dieser Familien finden nicht genug Gehör und Wertschätzung.
Die Mutter, Zhanna Zelener, geborene Furman
Sharon Adler: In welchem (jüdischen) Bewusstsein ist deine Mutter aufgewachsen, und was waren ihre beruflichen Pläne und Interessen?
Greta Zelener: Meine Mutter, Zhanna Furman, wurde 1955 in Odessa geboren. Ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Kind war. Sie wuchs in einer Wohnung mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und dem Großvater auf. Ihre Kindheit war geprägt von sowjetischer Erziehung. Sie war Pionierin, auf Fotos, die mir bekannt sind, trägt sie Schuluniform und hat einen wachen, stolzen Blick. Schon früh las sie viel und gerne, brachte es sich eigenständig in der Stadtbibliothek als Kleinkind bei. In der Schule war sie stets Klassenbeste. Gebildet und belesen zu sein, das waren Werte, die ihr als wertvolle Eigenschaften von Zuhause mitgegeben wurden, andererseits war es bekannt, dass nur ein geringer Prozentsatz von Juden und Jüdinnen studieren konnte. Sehr gute Abschlüsse waren also eine Notwendigkeit.
Antisemitismus und Ausgrenzung von jüdisch-religiösem Leben in der Sowjetunion durch den Staat
Sharon Adler: Welche persönlichen Antisemitismuserfahrungen hat deine Mutter gemacht?
Greta Zelener: Antisemitismus konnte man nicht entfliehen, auch nicht durch herausragende Leistung. Bei der ersten Bewerbung an der Universität klappte es nicht sofort. Obwohl sie die schriftliche Aufnahmeprüfung im Fach Mathematik fehlerlos absolvierte, wurde sie abgelehnt. Später studierte sie dennoch, Ökonomie, arbeitete zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Wissenschaftsinstitut und später als Revisorin. Ideale des Sozialismus und Antisemitismus nahm man hin, passte sich an und versuchte, vieles mit Humor zu glätten. Privat jedoch witzelte man über das Regime. Heute sagt meine Mutter, der Sozialismus war wie eine mangelhafte Saat, die man versuchte, den Menschen einzupflanzen. Aus ihr wuchs zwar eine Zeit lang ein Baum, jedoch waren sowohl die Wurzeln als auch die Früchte, die er trug, faul, sodass der Baum früher oder später zu Fall kommen musste.
Sharon Adler: Durch den Paragraf 5 in den sowjetischen Pässen
Greta Zelener: Die Überlebensstrategie bestand oft in Geheimhaltung, dem Fernbleiben von allem Jüdischen, und darin, sich als Russen zu bezeichnen und als solche zu leben. Und beispielsweise auch, seinen Kindern russische Namen zu geben. 1959 waren wieder 16,2 Prozent der Odessiten Juden.
Sharon Adler: Welche persönlichen Gegenstände hat deine Familie aus der Sowjetunion mitgenommen, welche konnten sie überhaupt mitnehmen? Waren auch Judaica darunter? Bitte erzähle etwas über die Geschichte der Objekte. Was verbindest du mit ihnen?
Greta Zelener: Viel konnten wir leider nicht mitnehmen. Ein mir besonders wertvolles Stück ist ein Ring aus Rotgold von meiner Urgroßmutter. Darauf eingraviert ist ein „Г“ und ein „ж“ in kyrillischer Schrift.
Der Familienring von Gretas Urgroßmutter Golda Rosenberg mit den kyrillischen Buchstaben "Г"(G) für Golda und nun für Greta sowie "Ж"(Zh) für Zhanna, Gretas Mutter (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Der Familienring von Gretas Urgroßmutter Golda Rosenberg mit den kyrillischen Buchstaben "Г"(G) für Golda und nun für Greta sowie "Ж"(Zh) für Zhanna, Gretas Mutter (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Der erste Buchstabe ist ein „G“ und steht für Golda, meine Urgroßmutter, und der zweite ein „Zh“ für meine Mutter, Zhanna. Meine Mutter hat mich nach meiner Uroma benannt und den Ring an mich weitergegeben. Er ist heute mein Glücksbringer. Ansonsten konnten sie nur Kleinigkeiten, wie ein Schmuckkästchen, Vasen oder Porzellan mitnehmen. Im Kreis der Auswandernden wusste man, dass einem das meiste auf dem Weg heraus aus der Ukraine an der Grenze von ukrainischen Beamten abgenommen wird. Die wussten, dass kaum jemand es wagen würde, zu widersprechen und kaum jemand zurückkehren würde. Das gab ihnen den Freifahrtschein, zu plündern. Geld hat man heimlich in US-Dollar zu wechseln versucht, Judaica mitzunehmen hat meine Familie, so glaube ich, nicht gewagt, da man ja von den Grenzkontrollen wusste. Allerdings hat meine Urgroßmutter das meiste im Zweiten Weltkrieg vor der Flucht nach Usbekistan in Odessa gelassen, und diese Dinge wurden nie wiedergefunden. Für mich sind die wenigen Objekte eine Verbindung zu meiner Familiengeschichte. Sie haben schwere, aber auch viele schöne Jahre überlebt, und ich freue mich, dass wir sie bis heute haben.
Deutschland
Sharon Adler: In der Ukraine der damaligen Sowjetunion waren deine Eltern für die Außenwelt „die Juden". Nach der Immigration nach Deutschland waren sie in den Jüdischen Gemeinden „die Russen". Du hast in Berlin die jüdische Grundschule besucht, welche Erfahrungen hast du gemacht – mit Mitschüler:innen und Lehrer:innen?
Greta Zelener: Ich konnte mein Judentum, welches ich an der jüdischen Grundschule und beim Bat-Mitzwa-Unterricht kennenlernen durfte, wieder mit nach Hause bringen. Die ersten zwei Jahre in der Heinz-Galinski-Schule wurde jedoch auch ich von Mitschüler:innen als Russin wahrgenommen. Es fielen Sätze wie: „Bist du auch wirklich jüdisch?“. Alltägliches, was man früher in der Sowjetunion nie hinterfragt und als normal wahrgenommen hat, wie Essen, Musik, die Einrichtung der Wohnung, wurde nun plötzlich hinterfragt, weil es sowjetisch geprägt und weder in das „typisch“ jüdische noch das deutsche Bild gepasst hat. Heute empfinde ich diese Wahrnehmung als kulturellen Schatz und sehr bereichernd. Ich muss mich nicht entscheiden, ob ich jüdisch, deutsch oder russisch bin. Aus dem Oder ist ein Und geworden.
Sharon Adler: In deiner Dissertation beschäftigst du dich mit der jüdischen Erwachsenenbildung am Anfang des 21. Jahrhunderts. Welche Bedeutung hat in dem Kontext der Zuwanderung jüdischer „Kontingentflüchtlinge“ Integration durch Sprache beziehungsweise Spracherwerb?
Greta Zelener: So wie die Geflüchteten heute einen Integrationskurs durchlaufen müssen, dessen wichtigste Komponente der Erwerb der deutschen Sprache ist, so mussten auch Kontingentflüchtlinge Sprachkurse belegen. Die herausragende Bedeutung von Sprache als Integrationsinstrument wird auch in meiner Arbeit zu jüdischer Erwachsenenbildung in Deutschland deutlich. Rund 70 Prozent des Angebots der Jüdischen Volkshochschule Berlin bilden Sprachkurse. Mit 20 von 37 Veranstaltungen (54 Prozent) ist Deutsch die am meisten unterrichtete Sprache. Die Hälfte der Deutschkurse, 10 von 20, richtet sich explizit an Senior:innen. Seit Anbeginn der Gründung der Jüdischen Volkshochschule (JVHS) verstand diese, dass Sprache ein wesentlicher, integrierender Faktor ist. Das Beherrschen der Sprache ist nicht nur bei alltäglicher Kommunikation wichtig, sondern eine Schlüsselkompetenz im Rahmen von Bildung, Arbeit und sozialem Leben als zugehörigkeitsstiftender Faktor.
Sharon Adler: Im Rahmen des Projekts „Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven“ hast du im Dezember 2021 einen Beitrag über „Jüdische Erwachsenenbildung in Deutschland und die Rolle der Frauen“ veröffentlicht. Welchen Stellenwert hat(te) Bildung in eurer Familie, wie wichtig war deine (Aus-)Bildung für deine Eltern? Und was haben sie selbst dafür in Kauf genommen?
Greta Zelener: Wenn ich mit meinen jüdischen Freund:innen über die Erfahrungen unserer Eltern spreche, sehe ich wiederkehrende Muster in den damaligen Erwartungen dieser Generation. Man war gespannt auf Deutschland, auf den Westen, teils ehrfürchtig und oftmals hoffnungsvoll. Hoffnungsvoll auf ein Leben in stabilen politischen Verhältnissen, Demokratie und ökonomischer Sicherheit. Häufig nehme ich den Gedanken „ein besseres Leben für die Kinder“ wahr. Dafür wurde in Kauf genommen, dass die eigene Bildungs- und Berufsbiografie zurückgestellt wurde, damit die Kinder von geregelten Verhältnissen und gutem Zugang zu Bildung profitieren können. Bildung stand in meiner Familie immer an erster Stelle. Meine Eltern sind geprägt von der Erfahrung, dass nur diejenigen mit den besten akademischen Abschlüssen Erfolg haben konnten und davon, dass in der Sowjetunion die Möglichkeit für Jüdinnen und Juden zu studieren so gering war, dass nur die Besten es ins Studium schafften. Nur ein bis zwei Prozent der Studienplätze wurden an Juden und Jüdinnen vergeben.
Für meine Eltern war und ist Bildung der Schlüssel zum Erfolg. Gleichzeitig haben sie Bildung nicht nur auf schulische Institutionen beschränkt. Sie haben mich in meiner Freizeit Angebote wahrnehmen lassen, die meinen Interessen entsprachen, wie beispielsweise Malunterricht. Darin sehe ich nicht etwas inhärent Jüdisches. Meine Mutter hat mich als Dreijährige Matherätsel lösen lassen, das empfand sie als Mathematikerin als spaßig, und damit fühlte sie sich wohl. Neu war das vielseitige Angebot jüdischer Bildung. In der Grundschule durfte ich Hebräisch lernen, hatte Religions- und Tora-Unterricht. In den Ferien fuhr ich auf Machanot, jüdische Ferienlager, lernte dort Tänze und Lieder. Das alles war meiner Großmutter und meiner Mutter verwehrt geblieben. Umso wertvoller sahen sie dies für meine Erziehung an, ohne mich dazu zu drängen. Ich hatte stets selbst intrinsisches Interesse am Judentum.
Die Situation der jüdischen Einwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion – damals und heute
Sharon Adler: Wie würdest du deren Situation und Stimmung aufgrund der Nicht-Anerkennung von Schul-, Ausbildungs- und Universitätsabschlüssen beschreiben? Wie beurteilst du die Situation jüdischer Einwander:innen heute vor dem Hintergrund fehlender Rentenansprüche und der Tatsache, dass viele jüdische Zuwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion von Altersarmut betroffen sind?
Greta Zelener: In der Regel war für Juden und Jüdinnen die Anerkennung ihrer akademischen und beruflichen Abschlüsse schwieriger beziehungsweise kaum möglich. Dies führte in dieser mehrheitlich hochqualifizierten Gruppe nicht selten zu Frustration und führt im Alter nun zu Altersarmut. Meine Mutter war in Deutschland eine Zeit lang Managerin eines Nagelstudios und eines Kräuterfachgeschäfts. Kräuterheilkunde ist bis heute ein Hobby von ihr. Ihre Beschäftigungsverhältnisse in Berlin waren stets außerhalb ihres erlernten Berufs, sie arbeitete nur phasenweise. Ihr Berufsleben hier war von Brüchen und Unterbrechungen geprägt, und die Suche nach Arbeit fand oft innerhalb der russischsprachigen Community statt. Ihre Erfahrungen empfinde ich als recht repräsentativ für Kontingentflüchtlinge in Deutschland. Natürlich ist es nicht allen so ergangen, allerdings führte die Nichtanerkennung der Abschlüsse oftmals zur Unausweichlichkeit, Arbeit in niedrigeren Qualifikationsrahmen anzunehmen, als es ihren Abschlüssen entsprochen hätte.
Sharon Adler: Wie wurde der soziale Abstieg empfunden und kommuniziert?
Greta Zelener: Empfindungen diesbezüglich wurden vor mir als Kind und Jugendliche nicht kommuniziert. Ich kann mir nur denken, wie enttäuscht sie sich manchmal gefühlt haben muss, jedoch hat die Dankbarkeit, hier in Deutschland in Sicherheit, in geordneten Strukturen zu leben und der Gedanke, dass ich mir hier ein gutes Leben aufbauen kann, überwogen. Diese Dankbarkeit hingegen wurde oft kommuniziert. Auch dies beobachte ich häufig: Man möchte nicht negativ auffallen oder undankbar wirken. So wird all das Positive, was einem zuteilwurde, in den Vordergrund gestellt und über Probleme geschwiegen, beziehungsweise meist nur innerhalb des Familien- oder -Freundeskreises darüber gesprochen. Ein Unterschied zu meiner Generation, die sich immer häufiger lautstark und kritisch zu der Situation der Juden und Jüdinnen in Deutschland äußert – jede/r wie er/sie kann, innerhalb des eigenen Wirkungsfeldes und immer häufiger auch in der Öffentlichkeit.
Sharon Adler: Welche Rolle spielt das Judentum heute für dich im Privaten, und was macht jüdisches Selbstbewusstsein für dich aus? Wie äußert es sich in deinem Alltag, im Austausch, beziehungsweise der Wahl (mit) deiner Community/Partner?
Greta Zelener: Für mich ist das Judentum ortlose Heimat. Ich fühle mich mit den Menschen, die meine Erfahrungen teilen, verbunden. In dieser Verbundenheit der Community, der Schicksalsgemeinschaft und ihrer Kultur, der Geschichte und allem, was dazu gehört, sehe ich mein Judentum. Man muss die Geschichten der Generationen davor erzählen, aber gleichzeitig auch sagen, dass wir eine neue Generation sind. Wir wollen nicht nur mit dem Holocaust, „Israel-Kritik“ und Antisemitismus - also allem Negativen - verbunden werden, sondern wir sind hier, um die Gesellschaft mitzugestalten und selbstbewusst aufzutreten. Wir haben die Werkzeuge dazu, jede/r auf ihre/seine eigene, einzigartige Art und Weise.
Sharon Adler: Wo und wann spielen in deiner Beobachtung sowjetisch-jüdische Perspektiven heute eine Rolle im innerjüdischen Diskurs – wo nicht? Und wenn nicht, warum nicht?
Greta Zelener: Leider spielen sowjetisch-jüdische Perspektiven in meiner Beobachtung noch zu selten eine Rolle im innerjüdischen Kontext, wenn es um jüdische Räume außerhalb des Privaten geht. In meiner Dissertation habe ich mit Hilfe von Programmanalysen 608 Angebote jüdischer Erwachsenenbildung von jüdischen Trägern untersucht. Keines davon fand auf Russisch statt. Zumeist sind sie auf Deutsch, vereinzelt auf Englisch oder Hebräisch durchgeführt worden. Wenn es thematisch um die Sowjetunion ging, dann aus einer rein sowjetischen und nicht spezifisch sowjetisch-jüdischen Perspektive. Eine Ausweitung des Angebots und Räume, wo die Generation meiner Eltern ihre Erfahrungen einbringen und sich austauschen kann, wäre wünschenswert. Eine gewisse Hierarchisierung ist bis heute spürbar. Man sagt zwar nicht mehr „die Russen“, aber das oft nicht perfekte Beherrschen der deutschen Sprache und das lückenhafte oder fehlende Wissen um die jüdische Religionslehre führen zur Nicht-Teilhabe. Die Kinder dieser Generation, die bereits hier geboren oder aufgewachsen sind, fungieren als Sprachrohr. Sie bringen Erlebtes beispielsweise in Veranstaltungen, Medien, Forschung und Literatur ein. Das alles eben aber nur aus zweiter Hand.
Sharon Adler: Welche Werte/Prinzipien aus der jüdischen Tradition und aus deiner jüdisch-russisch-deutschen Identität würdest du an (d)eine zukünftige Tochter mitgeben?
Greta Zelener: Ich würde ihr mitgeben, dass Judentum sehr divers ist. Besonders, wenn sie in Berlin groß wird. Denn besonders hier wird das Judentum vielfältig gelebt. Kulturell vielfältig und religiös vielfältig. Sie darf offen sein, alles kennenlernen, so gut es ihr möglich ist, und dann für sich definieren, ob und wie sie das Judentum leben will. Immer wieder neu, vor dem Hintergrund ihrer Lebensbedingungen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass sie die spezifische Geschichte ihrer Vorfahren kennenlernt. Um die Erinnerungskultur in Deutschland wird sie nicht drum herumkommen. Sie darf kritisch hinterfragen, ob das die Form ist, wie Erinnerung für sie gelebt werden soll. Dafür sollte sie auch die Geschichte ihrer Familie in der Ukraine kennen.
Matroschka-Puppen aus Greta Zeleners Kindheit in Odessa, Ukraine, 1990er-Jahre (Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Matroschka-Puppen aus Greta Zeleners Kindheit in Odessa, Ukraine, 1990er-Jahre (Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Sie darf verstehen, dass Bildung bereichert. Dass Wissen uns hilft, uns selbst besser kennenzulernen und zu verstehen. Identitätslernen spielt eine große Rolle im Judentum, wir sind stets dabei, uns immer wieder selbst zu hinterfragen und räumlich und zeitlich zu verorten. Es hilft uns, unseren Platz im Judentum, in der Gesellschaft, generell im Leben immer wieder neu zu denken. Wenn sie das als wertvoll ansieht, würde mich das sehr freuen.
Zitierweise: „Greta Zelener „Für mich ist das Judentum ortlose Heimat.““, Interview mit Greta Zelener, in: Deutschland Archiv, 02.02.2022, Link: www.bpb.de/504497