In der Debatte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die derzeit in Deutschland stattfindet, nimmt der Antisemitismus eine besondere Rolle ein. Das galt insbesondere im Juli 2020, als der Prozess gegen jenen Attentäter begann, der am 9. Oktober 2019 – an Jom Kippur – die Synagoge in Halle angegriffen hatte. Es war reines Glück, dass der Mörder die Tür der Synagoge nicht öffnen konnte, um sein dort geplantes Blutbad in die Tat umzusetzen. Aus Frustration darüber, dass es ihm nicht gelang, die rund 50 Menschen im Inneren der Synagoge zu töten, erschoss er willkürlich zwei Passanten, eine 40-jährige Frau auf der Straße und einen 20-jährigen Mann in einem Imbiss. Warum tat er das? Aus Hass auf jüdische Menschen. Und, wie seine Mutter später präzisieren sollte, aus Hass auf jene, die Geld haben.
Vor Gericht zeigte er nicht die geringste Reue. Sein Hass kommt tief aus seinem Inneren, wie auch bei Anders Breivik, dem Rechtsterroristen, der im Sommer 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete.
Halle liegt in Sachsen-Anhalt, auf dem Gebiet der früheren DDR. Obwohl der Mörder erst nach dem Fall der Mauer geboren wurde, fühlten sich durch diese einfache Tatsache jene bestätigt, die der Ansicht sind, der politische Umgang der DDR mit der Nazizeit sei die Wurzel des heutigen Antisemitismus. So erklärte der (west-)deutsch sozialisierte Intellektuelle
Eine heftigere Anschuldigung ist kaum denkbar. Als emeritierter Professor und Sohn jüdischer Eltern, die aus freien Stücken nach dem Krieg nach Westdeutschland zurückgekehrt waren, ist Micha Brumlik eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Die Medien greifen das, was er sagt, gern auf. Ein US-Historiker, der meint, in der DDR die „zweite antisemitische Diktatur des 20. Jahrhunderts“ zu erkennen, unterstützt ihn nun in einem Buch, das die DDR beschuldigt, mithilfe der extremen Linken Westdeutschlands die Zerstörung Israels betrieben zu haben.
Unterschwellig gab es den Vorwurf jedoch immer. Während die Linke im 19. Jahrhundert durchaus als jüdisch geprägt betrachtet werden kann, wurde sie später selbst mit dem Antisemitismus in Verbindung gebracht.
Die Antwort auf Micha Brumlik kam von einer in Berlin-Pankow, also in Ostdeutschland, geborenen Essayistin, die allerdings beim Fall der Mauer erst 10 Jahre alt war. Charlotte Misselwitz erinnert an die Kinderärztin der Charité, Inge Rapoport, die 2017 im Alter von 104 Jahren starb. Nach dem Exil, das sie als Jüdin und Kommunistin in den USA verbracht hatte, war sie in die DDR zurückgekehrt und machte dort Karriere. Da sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebte, blieb ihr das Attentat von Halle erspart, nicht aber der Aufstieg der extremen Rechten, den sie beobachtete und in ihren Erinnerungen auch beschrieb. Es wurde bereits festgestellt, dass sich nach der Wiedervereinigung die fremdenfeindlichen und antisemitischen Taten in Deutschland häuften. Inge Rapoport war darüber keineswegs erstaunt. Hatte die DDR sich nicht mit einem Land wiedervereinigt, in dem frühere Nationalsozialisten in den höchsten Sphären Karriere machen konnten? Wenn die Juden wieder in Gefahr waren, dann genau jetzt und eben nicht zu Zeiten der DDR!
Brumlik zitiert als Quelle die Forschungen des westdeutschen Historikers Harry Waibel, der angibt, er habe Tausende Akten studiert, darunter auch Stasiakten, die er als Erster überhaupt und exklusiv gesichtet habe. Nach Waibels Angaben hatte die Stasi 7.000 rassistische und antisemitische Delikte registriert, wovon 145 Entweihungen jüdischer Friedhöfe und 200 „pogromartige Übergriffe“ in 400 DDR-Gemeinden waren, dazu zählte er auch „zehn Lynchmorde“.
Nichtsdestotrotz ist die Überzeugung, die DDR habe die Konfrontation mit der Nazivergangenheit gemieden, nach wie vor weit verbreitet. Die Mehrheit der Historikerinnen und Historiker vertritt weiterhin diesen Standpunkt. Ein Beispiel ist der aus Westdeutschland stammende Jenaer Geschichtsprofessor Norbert Frei. Seiner Meinung nach war die antifaschistische Kulturpolitik der DDR reine Routine und bestand aus bloßen Worthülsen
Genau wie Norbert Frei führt Brumlik die bekannten „autoritär-hierarchischen Strukturen“ als Ursache faschistischer Tendenzen an.
Doch wenden wir uns weiteren strittigen Punkten zu. Ging die sogenannte Entnazifizierung in der DDR zu schnell vonstatten? Nun, sie ging auf jeden Fall schneller und war mit weniger Aufwand verbunden als in der Bundesrepublik, in welche die meisten Menschen, die sich auf das sogenannte Dritte Reich tiefer eingelassen hatten, geflohen waren. Hatte die DDR Ex-Nazis reintegriert? Gewiss. Allerdings in weitaus geringerer Zahl als die Bundesrepublik und vor allem an nicht so vielen herausgehobenen Positionen wie im Westen. Wurden diese Menschen in der DDR mit ihrer Vergangenheit erpresst? Wahrscheinlich schon. Erpressung ist eine Methode, die Geheimdienste anwenden. Es stimmt allerdings, dass der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst (BND) im Unterschied zur Stasi wenig gegen alte Nazis in der Hand hatten, da ein großer Teil des Personals dieser Behörden bis in die 1970er-Jahre aus genau dieser Personengruppe stammte! Der BND wurde von Reinhard Gehlen aufgebaut, dem früheren Leiter der Abwehr (Nachrichtendienst des sogenannten Dritten Reiches). Dies geschah auf Betreiben der USA, die den Nationalsozialisten im Kampf gegen den Kommunismus übernatürliche Kräfte zugeschrieben.
Schwierig wird es hingegen, wenn man versucht, alte Nazis an der Spitze der ostdeutschen Regierung zu finden, die bis zu ihrem Verschwinden von Erich Honecker geleitet wurde, einem Opfer des „Dritten Reichs“. Während Adenauers Deutschland 1952 mit Israel seine berühmten „Reparationen“ für den Mord an sechs Millionen Juden verhandelte – also eine Finanzhilfe für Israel, für die im Gegenzug deutsche Produkte gekauft werden sollten – standen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck an der Spitze der DDR. Diese Führungskräfte mögen wenig sympathisch gewesen sein, doch sie hatten im sowjetischen Exil gelebt oder, wie Otto Grotewohl, den Nazi-Kerker überstanden, oder sie waren Kind eines Rabbiners wie Albert Norden. Warum sollten diese Menschen eine Mitschuld an der Schoah empfunden haben? Damals hatte die UdSSR die DDR, indem sie Teile ihres Eisenbahnstreckennetzes als Reparationen abbaute, bereits derart im ökonomischen Würgegriff, dass sich etwa der DDR-Minister Gerhart Ziller
Will man die Erinnerungspolitik der DDR bewerten, bietet es sich an, dies – trotz der Gefahr, anachronistisch zu werden – im Kontext der damaligen Epoche zu tun. Der vermeintliche Kult um die Antifaschisten, der für die DDR legitimierende Bedeutung hatte, erinnert an einige Aspekte der Politik und des Gedenkens im damaligen Frankreich. Auch unsere Straßen erhielten damals die Namen dieser Menschen, die in der Resistance kämpften. Wie in der DDR sparten auch unsere Sonntagsreden jenen Teil der Gesellschaft aus, der kollaboriert hatte. Auch die französische Geschichtswissenschaft trug zum Mythos von einem weitgehend widerständigen Frankreich bei. Jeder hatte also etwas zu verschweigen. Die DDR schwieg über den deutsch-sowjetischen Pakt und das Verschwinden kommunistischer Flüchtlinge in Moskau, die im KGB-Hauptquartier per Genickschuss hingerichtet wurden; die meisten westdeutschen Historiker verwendeten immer noch den Ausdruck „Invasion“, wenn sie von der Landung der Alliierten am 6. Juli 1944 sprachen; sie erteilten der Wehrmacht hinsichtlich jeglicher Beteiligung am Unternehmen Massenmord die Absolution; sie schufen den Mythos, die deutsche Diplomatie habe von den Verbrechen nichts gewusst. Martin Broszat, Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, sprach dem israelischen Historiker Saul Friedländer die notwendige Kompetenz ab, über den Genozid zu sprechen: Als Jude sei er zu stark selbst betroffen (letzterer musste später feststellen, dass Martin Broszat selbst Mitglied der NSDAP gewesen war). Die Mythen der westdeutschen Schule gerieten erst durch eine Wanderausstellung über die Wehrmacht an der Ostfront ins Wackeln, die das Hamburger Institut für Sozialforschung von 1995 bis 2004 zeigte, sowie durch die Arbeit der Historikerkommission mithilfe der diplomatischen Archive im Jahr 2010.
Derzeit erscheinen immer mehr historische Studien zu den Unterströmungen der im Aufbau befindlichen Bundesrepublik Deutschland: zum Unwillen dieser Republik, alte Nazis zur Rechenschaft zu ziehen („Kameraden“ hätten sich gegenseitig verurteilen müssen, da 90 Prozent der Richter und Rechtsanwälte in den Diensten des sogenannten Dritten Reiches gestanden hatten
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben zu tiefe Ursachen, um ihnen mit oberflächlichen Erklärungen beizukommen. Sie zeigen sich heute in ganz Deutschland – uralte, tief in die Gesellschaft eingegrabene Vorurteile werden wieder sichtbar, womit sich über den deutschen Fall hinaus die Frage stellt, wie wirksam die famose Erinnerungspolitik eigentlich ist. Diese im Sinne eines ideologischen Kampfes zu instrumentalisieren, kann kontraproduktiv sein. In einer Debatte im Jahr 2011 erinnerte der Philosoph Jürgen Habermas daran, dass der Antikommunismus der Bundesrepublik eng mit der Kontinuität der Nazi-Ideologie verknüpft gewesen sei, und dass dies nur überwunden werden könne, indem man gegen den Antikommunismus Stellung beziehe.
Zitierweise: "Rassismus und Antisemitismus in Deutschland: Die DDR auf der Anklagebank", Sonia Combe, in: Deutschland Archiv, 31.01.2022, Link: www.bpb.de/504479