Der Friedensnobelpreis 2022 für Memorial
Was bedeutet die Liquidierung wichtiger Teile des russischen Menschenrechtszentrums?
Anna Schor-Tschudnowskaja
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Im Vorfeld des Ukraine-Kriegs ordnete Moskaus oberstes Gericht Ende 2021 die Schließung der russischen NGO „Memorial International“ sowie ihres Menschenrechts-Zentrums an. Was sind die Hintergründe und Folgen? Und wie sollte deutsche Außenpolitik reagieren? Kann der nun zuerkannte Friedensnobelpreis der Organisation helfen? Eine aktualisierte Analyse von Anna Schor-Tschudnowskaja aus Wien und vier weitere Stellungnahmen.
Vor rund dreißig Jahren, Ende Dezember 1991, wurde die Sowjetunion als Subjekt des Völkerrechts und geopolitische Realität (so die damalige Formulierung) aufgelöst. Es begann die Geschichte des postsowjetischen Russlands.
Dreißig Jahre später, Ende Dezember 2021, wurde nun jene Organisation aufgelöst, die sich seit dem Ende der Sowjetunion verpflichtet hat, Staatsverbrechen und politische Verfolgung in der Sowjetunion zu dokumentieren und publik zu machen, und zwar von der Oktoberrevolution 1917 und bis zum letzten Tag der Sowjetunion1991 − damit kein Opfer vergessen bleibt, so das große Ziel. Die Rede ist von der „Internationalen Gesellschaft Memorial“, die mit der Entscheidung des Obersten Gerichts Russlands vom 28.12.2021 „liquidiert“ – so der Wortlaut des offiziellen Dokuments – wurde; am Tag darauf wurde von dem Moskauer Stadtgericht außerdem das Menschenrechtszentrum „Memorial“, ein weiterer wichtiger Bestandteil der NGO, ebenfalls „liquidiert“.
Ein Antrag auf Revision scheiterte am 28. Februar 2022. Das Oberste Gericht in Russland hat offenkundig auf Druck des Kreml hin die Auflösung von Memorial International bestätigt. Amnesty International kommentierte dies am 1. März wie folgt: "Die russische Führung hat sich mit ihrer Invasion der Ukraine und illegalen Angriffen auf die Zivilbevölkerung nicht nur endgültig von den Regeln des Völkerrechts verabschiedet. Sie beansprucht auch nach innen die alleinige Deutungshoheit über die Geschichte des Landes. Das Aus für Memorial ist eine weitere Einschränkung der seit vielen Jahren immer enger werdenden Handlungsräume für unabhängiges gesellschaftliches Engagement in Russland."
Ein Urteil im Sinne des Kreml
Die Eigenart des politischen Regimes in Russland besteht darin, dass selbst lakonisch und einfach formulierte Nachrichten alles andere als klar und verständlich sind. So auch die Nachricht, dass die zwei wichtigsten Strukturen aus dem Netzwerk der Gesellschaft „Memorial“, mit Abstand der weltweit bekanntesten Nichtregierungsorganisation (NGO) in Russland, nun definitiv zu schließen waren. Trotz aller Reputation im Ausland, oder gerade deshalb?
Das Verbot wirft viele Fragen auf: Warum „Memorial“? Warum jetzt? Und was sind Sinn und Zweck dieser Maßnahme? Sollte vor dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine Memorial als potenziell kritische Stimme ausgeschaltet werden? Als vom Krieg noch nichts zu ahnen war, hatten selbst Mitglieder von „Memorial“ und Fachleute mit politikwissenschaftlicher Expertise nur vielfältige Mutmaßungen parat, aber am häufigsten gemutmaßt wurde, dass Wladimir Putin diese (Un)rechtssprechung vom Kreml aus eingefordert hat. Mutmaßen lässt sich im Nachhinein auch, dass im Vorfeld von Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eine wichtige oppositionelle Stimme im Lande mundtot gemacht werden sollte. Denn „Memorial“ ist viel mehr als eine NGO.
Ein Produkt des sowjetischen machtkritischen Diskurses
Den offiziellen Namen „Gesellschaft ‚Memorial‘“ gibt es seit Januar 1989 und er bezeichnete von Anfang an eine ganze Familie an ‚Memorialen‘ in vielen Städten und Orten der Sowjetunion, oft vollkommen unabhängig voneinander entstanden. Als eine spontane Bewegung, eine informelle Vereinigung von Gleichgesinnten, die die neuen Freiheiten aufgriffen, formierte sich „Memorial“ etwa ab 1987 im Zuge von Perestrojka, der letzten Jahre der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, gleich in einigen Städten. Man kann somit sagen, dass „Memorial“ ein wichtiger Teil der sowjetischen Geschichte, und zwar vor allem ihres Endes war, ein Produkt des noch sowjetischen machtkritischen Diskurses – denn das Leitmotiv von Perestrojka war unter anderem, die kommunistische ‚Diktatur der Lüge‘ zu entlarven und die historische Wahrheit wie auch die − wie es damals hieß – ‚historische Gerechtigkeit‘ wiederherzustellen.
Das Wort „Memorial“ bedeutet im Russischen „Denkmal“ oder „Gedenkort“, und tatsächlich ging es damals um ein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen, welches eine wichtige symbolische Vollendung des grundlegenden politischen Umgestaltungsprozesses („Perestrojka“ bedeutet Umbau) werden sollte.
Denkmäler für die Unumkehrbarkeit des Wandels
Diese Zielvorstellungen der ersten „Memorial“-Aktivisten korrespondierten durchaus mit der damaligen geistigen Atmosphäre: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), ihr Machtanspruch und ihre Legitimationsbasis gerieten zunehmend ins Visier der öffentlichen Kritik – auch und gerade wegen des systematischen Missachtens und Verschweigens der Wahrheit vor der eigenen Bevölkerung. Die von der sowjetischen Führung unter Gorbatschow ausgerufenen neuen politischen Prinzipien äußerten sich vor allem in einer weitgehenden, bis dahin in der Sowjetgeschichte einmaligen Absage an staatliche Gewalt. Das bedeutete unter anderem, dass es nicht mehr gefährlich war, sich kritisch mit der sowjetischen Realität auseinanderzusetzen, wobei die damalige Kritik zunächst nicht auf eine Demontage, sondern auf eine Verbesserung, eine Erneuerung des sowjetischen Systems abzielte.
Weniamin Joffe, damals Direktor des Peterburger „Memorial“ („NIZ“), erinnerte sich:
„Als die kommunistische Ideologie in der UdSSR zu wackeln und auseinanderzufallen begann, entstand bei sehr unterschiedlichen Menschen gleichzeitig die Idee, in Moskau wie auch überall im Land den Opfern von politischen Repressionen unter dem kommunistischen Regime Denkmäler zu errichten − als Zeichen der Veränderung des Bewusstseins des Volkes und auch als Garantie für Unumkehrbarkeit der Wende in der Gesellschaft und im Staat“ (S. 17).
Geleitet von dieser Idee der Unumkehrbarkeit griffen einige Aktivisten den Beschluss des XXII. Parteitages der KPdSU vom Oktober 1961 wieder auf: Darin wurde (unter KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow) festgehalten, dass es in Moskau ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Repressionen unter Josef Stalin geben soll. Die Verwirklichung dieses alten Beschlusses wurde zum Ziel einer kleinen Gruppe von Perestrojka-Aktivisten, die sich „Memorial“ nannte und als unmittelbarer Vorgänger der späteren Gesellschaft „Memorial“ zu betrachten ist. Es war damals weder eine politische, noch eine oppositionelle Bewegung. Sie formierte sich eher als eine klassische zivilgesellschaftliche Initiative, die keine Machtforderungen stellte, sondern eigene Interessen öffentlich kommunizierte und mit friedlichen politischen Mitteln durchzusetzen versuchte.
Doch die „Memorial“-Initiative konnte von Anfang an nicht ausschließlich dem Denkmal gewidmet sein, denn der Wunsch zu gedenken zog unweigerlich weitere prinzipielle Fragen nach sich: Wer waren die Opfer und wie viele waren es? Warum gab es so viele, wer waren die Täter? Wie und wo findet man alle Namen? Die Antworten auf diese Fragen mussten erst gefunden werden. So verschob sich die Tätigkeit von „Memorial“ zunehmend in Richtung Archivarbeit, „oral history“ und historische Expertise. Bemerkenswert ist die damit verbundene Veränderung im Selbstbewusstsein und bei den Zielen der Aktivisten der damals noch jungen Bewegung: Ging es ihnen zunächst um die Durchsetzung beziehungsweise Vollendung einer staatlichen Initiative zum Andenken an die Opfer des Staatsterrors unter Stalin, artikulierten sich ab circa 1988 zunehmend Zweifel an der Richtigkeit des so eng aufgefassten Zieles.
Diese Zweifel gingen mit vorsichtigen machtkritischen Fragen einher: Ist es überhaupt die Sache der Staatsmacht, jenen ein Denkmal zu errichten, die sie selbst ja umgebracht hat? Und ist diese Staatsmacht tatsächlich soweit anders geworden, dass dieses Denkmal keine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer wird? Es etablierte sich zunehmend die Vorstellung, dass die Vergangenheit und das private wie öffentliche Erinnern nicht unbedingt voll und ganz jenem Staat anzuvertrauen sind, der die Geschichte, ihre Namen und Fakten, über Jahrzehnte hinweg systematisch zu manipulieren oder zu leugnen wusste.
Unter Stalin fünf Millionen Verhaftete, eine Million Getötete
Heute, über dreißig Jahre später, verfügt das ExpertInnenteam von „Memorial“ nicht nur über die einzigartige Expertise in Bezug auf historische und sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sondern auch über einzigartige Archiv- und Informationsbestände (auf Papier wie digital), umfassende Datenbanken mit Namen der Opfer, Museen und Bibliotheken zum Thema politische Repression in der Sowjetunion. Dabei ist die Arbeit alles andere als vollendet.
Nach vorläufigen Schätzungen von „Memorial“ wurden während Stalins Herrschaft etwa 5 Millionen Menschen allein aufgrund einzelner politischer Anschuldigungen verhaftet und mindestens eine Million von ihnen erschossen; viele weitere kamen in den Lagern um. In diesen Zahlen sind die Opfer der administrativen politischen Repression (zum Beispiel Massendeportationen) nicht enthalten, die von Memorial-HistorikerInnen auf rund 6 Millionen geschätzt werden, auch wären noch viele Millionen Opfer von Hungersnot zu berücksichtigen. Die von „Memorial“ mühsam erstellte digitale Datenbank der Opfer enthält derzeit „nur“ circa drei Millionen Namen, riesige Arbeit steht noch bevor.
Vier Arbeitsbereiche "Memorials"
Sammeln, bearbeiten und veröffentlichen gehören nach wie vor zu den genuinen Tätigkeiten von „Memorial“, allerdings bezeichnet sich die Gesellschaft inzwischen als „historisch-aufklärerisch“ und unterscheidet gleich vier Arbeitsbereiche: historische Arbeit, aufklärerische Arbeit, Wohltätigkeit und Menschenrechtsarbeit. Sie gibt an, die Menschenrechtsarbeit zu den aktuellen Fällen der politischen Verfolgung im postsowjetischen Russland mit der historischen Arbeit zur politischen Verfolgung in der Sowjetunion verbinden zu müssen – die beiden Arbeitsfelder seien unzertrennlich. Darüber hinaus gibt sie an, einen öffentlichen Diskussionsraum schaffen zu wollen zu den Schlüsselfragen der Gegenwart und der Vergangenheit, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, und vor allem der jungen Menschen, auf das Problem der Wechselbeziehungen zwischen dem Staat, der Gesellschaft und dem Individuum in der Vergangenheit und Gegenwart zu lenken, wobei hier darunter problematische Wechselbeziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum in Russland heute wie auch in der Sowjetunion zu verstehen sind. Diese problematische Wechselbeziehungen tangieren nun auch unmittelbar das Schicksal von „Memorial“ selbst. Von einer breiten gesellschaftlichen Anerkennung seiner Arbeit kann man nicht sprechen. Seit vielen Jahren war „Memorial“ in seiner Arbeit nicht nur mit verschiedenen politisch gewollten Hindernissen konfrontiert, sondern sah sich auch Gleichgültigkeit und bisweilen Feindseligkeit in der Bevölkerung gegenüber.
Dennoch hat die Organisation landesweit Dutzende Zweigstellen, viele unterschiedliche Menschen arbeiten (meistens ehrenamtlich) für sie oder mit ihr zusammen. Die Dachorganisation nennt sich „Internationale Gesellschaft ‚Memorial‘“, weil sie nicht nur in Russland, sondern unter anderem auch in der Ukraine, in Tschechien, Italien und Deutschland Zweigstellen oder Tochterverbände hat. Und heute wie vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren: Es gibt im postsowjetischen Russland keine andere vergleichbare Vereinigung von Menschen, die etwas gegen das Verblassen und Verschwinden der Erinnerung an die Opfer des Sowjetregimes tun wollen. Man kann mit Gewissheit sagen, dass es vor allem „Memorial“ zu verdanken ist, dass es überhaupt ein bescheidenes Andenken an diese Opfer gibt; alle nennenswerte Projekte in diesem Zusammenhang wären ohne „Memorial“ undenkbar, seien es Denkmäler, Geschichtswettbewerbe unter Schülerinnen und Schülern oder das Anbringen von Gedenktafeln an den letzten Wohnadressen von Opfern, das Projekt heißt „Die letzte Adresse“, entstanden nach dem Vorbild der „Stolpersteine“ in Deutschland.
Verschwiegene Verdienste
Die nun vom russländischen Obersten Gericht ausgesprochene Anordnung zu „Liquidierung“ von „Memorial“, die mit keinem Wort die Verdienste dieser Organisation auch nur erwähnt, wirft die Frage nach jenem politischen und gesellschaftlichen Stimmungsbild auf, in dem „Memorial“ seine Ziele heute und in der Zukunft zu verwirklichen versucht. Dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion formuliert nun der Staatsanwalt seinen Vorwurf an „Memorial“ folgendermaßen: Die „Internationale Gesellschaft Memorial“ „spekuliert mit dem Thema der Staatsrepressalien und lässt ein falsches Bild der Sowjetunion als eines terroristischen Staates entstehen“ Er bestätigte mit seiner Rede im Saal des Obersten Gerichts, dass (sowjetischer) Staatsterror ein unerwünschtes Thema bleibt, dass Recherchen zu den Opfern der politischen Verfolgung dem Image Russlands schaden und daher keine Anerkennung verdienen. Das gegenwärtige Regime unter Waldimir Putin hat ein ganz anderes Verständnis von Gedenken und Aufklären als jenes während der Perestrojka vor dreißig Jahren. Die Wege einer postsowjetischen Transformation sind unergründlich.
In diesen dreißig Jahren legte die Gesellschaft Russlands eine bemerkenswerte Entwicklung zurück. Ende 1990 befragten Soziologen die SowjetbürgerInnen nach der historischen Bedeutung der Figur von Josef Stalin. Die Sowjetgeschichte war noch nicht zu Ende, die Sowjetunion zerfiel erst ein Jahr später. Millionen Menschen in der Sowjetunion waren Nachkommen von Opfern des Staatsterrors. Der Tod Stalins lag nur 37 Jahre zurück. Und obwohl die mit seiner Herrschaftsperiode einhergehenden Ereignisse noch ziemlich präsent im kollektiven Bewusstsein der Sowjetbürger waren, zeigten sich die meisten Befragten damals überzeugt, dass der Name Stalin in Zukunft wenig Beachtung verdienen werde. Es stellte sich heraus, dass nur 10 Prozent der Befragten davon ausgingen, dass Stalin in Zukunft noch irgendetwas bedeuten werde; die absolute Mehrheit (70%) gab damals an, „dass Stalin vergessen wird und dass sein Name bereits im Jahr 2000 keine wesentliche Rolle mehr spielen wird“.
Stalins wieder wachsendes Ansehen
Aber es kam ganz anders. Laut verschiedenen Beobachtungen und den Befragungen des renommierten russländischen Meinungsforschungsinstituts „Levada Zentr“ stieg die positive Einstellung zu Stalin in den letzten Jahren kontinuierlich an. Im März 2019 hat sie ihren (vorläufigen?) Höhepunkt erreicht: jeder/jede zweite der Befragten gab an, für Stalin positive Gefühle zu empfinden (genannt wurden vor allem Achtung, gefolgt von Sympathie und Begeisterung). Zum Vergleich: 2008 hatten noch insgesamt 31 Prozent von einer positiven Einstellung zu Stalin berichtet. Auf die Frage, „welche Rolle Stalin im Leben unseres Landes gespielt“ habe, sprachen ihm im März 2019 18 Prozent eine „positive“ und weitere 52 Prozent eine „eher positive“ Rolle zu. Eine negative Rolle Stalins sahen nur knapp unter 20 Prozent der Befragten.
Die pauschale Sympathie mit dem ehemaligen totalitären Herrscher geht vor allem auf den Mythos von einer glorreichen und gefürchteten Supermacht zurück, der viele in Russland nachtrauern, allen voran die gegenwärtige Staatsspitze. Aber diese nostalgische Affinität zu einer mythisch aufgeladenen Großmacht verbindet sich auch mit ganz konkreten skurrilen Einstellungen zu eigener Familiengeschichte, zum Beispiel mit der Bereitschaft, bei allem Wissen um Verbrechen Stalins diese zu rechtfertigen.
Nach den Daten aus einer russlandweiten Befragung des Allrussisches Meinungsforschungszentrums WZIOM in Moskau 2017 verurteilen nur knapp die Hälfte der Befragten die stalinistischen Säuberungen, 43 Prozent hielten sie (aus welchen Gründen auch immer) für „gerechtfertigt“. Bei dieser Befragung wurde allerdings besonders auf Nachkommen der Opfer geachtet: 57 Prozent der befragten Nachkommen der Opfer gaben an, die stalinistischen Repressalien zu verurteilen, während 33 Prozent erklärten, dass sie eine „notwendige Maßnahme“ gewesen seien, um „im Land Ordnung zu gewährleisten“. Somit hielt jeder Dritte die Opfer in der eigenen Familie für politisch gerechtfertigt, ja notwendig. Es fällt nicht leicht zu urteilen ist, ob diese Zahl groß oder klein ist. Auch fehlen weitgehend die entsprechenden Forschungen zu der Frage, welche Rolle solche Einstellungen in der russländischen Gesellschaft spielen und wie politisch wirksam sie sind. Manche Beobachter sind heute geneigt, das Urteil gegen „Memorial“ auch mit solchen Stimmungen in Verbindung zu bringen.
Droht ein Ende von "Memorials" kompletter Arbeit?
Wird es nun nochmals breiten Protest gegen die Schließung von „Memorial“ geben? Wohl kaum, da derzeit jedweder Protest auch gegen den Ukrainekrieg Putins umgehend durch Massenverhaftungen beendet wird. Wird die Organisation ihre Arbeit somit beenden? Auch dies sicherlich nicht. Die beantragte formale Auflösung der beiden Teilorganisationen von „Memorial“ bedeutet eine enorme Behinderung der Arbeit, Verlust von personellen Ressourcen und Infrastruktur sowie die Herausforderung einer Neuaufstellung. Manche Teilorganisationen von „Memorial“ werden von dieser Auflösung nur mittelbar betroffen und können ihre Arbeit mehr oder weniger fortsetzen.
Ob aber mit dieser Diskreditierungskampagne auch die von „Memorial“ initiierte öffentliche Bewegung und die Ergebnisse ihrer jahrelangen Arbeit „liquidiert“ werden können, werden erst die kommenden Jahre zeigen. Entscheidend wird sein, inwieweit sich „Memorial“ nicht als juristische Organisation erweist die man per Federstrich „liquidieren“ kann, sondern das, was sie schon immer sein wollte: eine breite gesellschaftliche Bewegung.
In den letzten Jahren hat Russlands Staatsführung viel unternommen, um die Arbeit von „Memorial“ zu diskreditieren, am relevantesten ist hierbei die Verfolgung sogenannter „ausländischer Agenten“, denn genau dieses Gesetz wurde nun formal als Vorwand für die Schließung von beiden Strukturen von „Memorial“ herangezogen. Als am 21. November 2012 in Russland dieses neue Gesetz in Kraft trat, das die Tätigkeit der NGOs neu regulieren sollte, wurde schnell klar, dass diese Gesetzgebung eine Offensive gegen alle zivilgesellschaftlichen Initiativen bedeutet.
Alle, die als „politisch tätig“ zu bezeichnen wären (und sei es, dass sie ökologische Projekte umsetzen oder Diskussionsveranstaltungen zu aktuellen Ereignissen organisieren) und aus dem Ausland Geld erhalten (selbst wenn es nur eine Auszeichnung oder eine einmalige private Spende ist), werden von dem Register der „ausländischen Agenten“ erfasst und verpflichtet, sich als solche bei jedem Auftritt und jeder Veröffentlichung (und sei es nur ein Post auf Facebook) zu bezeichnen. Mit anderen Worten sie sollen sich öffentlich als jene bezeichnen, die ausländischen Interessen dienen und damit zum einen keine wirklich unabhängige NGO mehr sein können und zum anderen eine Tätigkeit ausüben, die gegen (!) die Gesellschaft in Russland gerichtet sei, − denn ein „ausländischer Agent“ kann nur ein Feind sein. „Memorial“ erklärte dieses Gesetz von Anfang an als rechtswidrig und reichte dagegen Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.
Wachsender Kreis Verdächtigter
Seit 2012 wurden viele weitere Gesetzesänderungen vorgenommen, die den Status der „ausländischen Agenten“ bestimmen, auch wird beständig der Kreis von ‚potentiell Verdächtigen‘ erweitert. Mittlerweile sind davon nicht nur NGOs, sondern Medien und Journalisten, verschiedene Vereine und Einzelpersonen betroffen. Das (wahrscheinlich mit Absicht) höchst unklar bleibende Gesetz definiert auch zehn Jahre nach seinem Inkrafttreten kaum etwas genau und erweist sich gerade deswegen mittlerweile als äußerst effektives Unterdrückungsmittel der politisch unliebsam gewordenen Einzelpersonen oder Organisationen.
In der Tat erfasst das Register der „ausländischen Agenten“ bereits nicht nur Dutzende lokale zivilgesellschaftliche Initiativen im ganzen Land (darunter einige „Memorial“-Zweigstellen), das bekannte Sacharow-Zentrum in Moskau, Dutzende Massenmedien und journalistisch tätige Einzelpersonen sowie mit dem Moskauer Lewada-Zentrum das führende unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands. Viele weitere, die unter solchen Bedingungen ihre Arbeit aufgeben und sich auflösen mussten, sind in dem Register nicht mehr enthalten.
Sie alle aber vereinen Menschen, die sich eine eigene Meinung und reflexive Auseinandersetzung mit Fakten nicht nehmen lassen wollen. Und sie alle, und das ist die bittere Ironie der Lage, werden mit der gesetzlich vorgeschriebenen Markierung als „ausländischer Agent“ öffentlich als Personen und Organisationen dargestellt, die per definitionem käuflich und korrupt seien und nicht an einer anderen Meinung, sondern an Subversion und Sabotage interessiert. So wie einst in der Sowjetunion ‚bürgerlich‘ ausschließlich negativ konnotiert und mit Feindseligkeit des ‚Auslands‘ assoziiert war, so werden zunehmend auch solche Wörter wie Menschenrechte oder Menschenrechtsarbeit, Zivilgesellschaft oder Opposition als negativ konnotierte Bezeichnung für falsche, unmoralische und russophobe Politik des ‚Auslands‘ (vor allem des ‚Westens‘) verstanden. Und damit ist das nun beendete Verfahren gegen „Memorial“ auch eine Botschaft, innen- wie außenpolitisch.
Aussetzung des Urteils verlangt
Der EGMR hatte auf diese Botschaft schon Ende 2021 reagiert, noch am Tag der ersten Urteilsverkündung verlangte er eine Aussetzung des Verbotsurteils gegen „Memorial“: es müsse ihm ermöglicht werden, drei in den letzten Jahren (unter Beteiligung von „Memorial“ bzw. von dessen Menschenrechtszentrum) eingebrachte Anträge gegen das russländische Gesetz über die „ausländischen Agenten“ zu prüfen. Solange der EGMR in dieser Sache kein Urteil gesprochen hat, dürfen Organisationen, die diese Anträge gestellt haben, wegen angeblicher Verletzung eben des Gesetzes über „ausländische Agenten“ eigentlich nicht verboten werden. Es war aber zweifelhaft, dass Russland dieser Forderung des EGMR entsprechen sollte.
Immer weniger ist die Staatspitze Russlands willig, auf rechtliche bzw. völkerrechtliche Gebote einzugehen. Das „feindselige Ausland“ und die „russophobe Außenpolitik“ anderer (und vor allem westlicher) Staaten und Organisationen ist ein täglich wiederkehrendes Propagandamotiv in den Massenmedien, nicht nur jetzt während des Ukrainekriegs. So wird auch die Kritik an der Auflösung von „Memorial“ als russophobe und daher nicht ernst zu nehmende, weil voreingenommene Kritik abgetan – genauso wie die ganze Arbeit von dieser Organisation für die Staatsanwaltschaft und Richter als russlandfeindlich gilt.
Darüber hinaus spielt es eine wichtige Rolle, dass solche Gerichtsentscheidungen in Russland nicht nur die Umsetzung von konkreten Maßnahmen zum Ziel haben, wie zum Beispiel die Auflösung einer bekannten NGO. Sie dienen genauso, wenn nicht vorrangig der Vertuschung und Imitation, dem Verbreiten von falschen Informationen, dem Verdrehen von Tatsachen und der Profanierung von Begriffen.
Der bekannte deutsche Osteuropahistoriker Karl Schlögel stellte vor einigen Jahren fest: „Seit der Okkupation der Krim [2014] ist nicht nur die wie selbstverständlich daherkommende dreiste Lüge in die russischen Fernsehkanäle eingewandert, sondern überhaupt soll uns klargemacht werden, dass es einen Unterschied zwischen facts und fiction, zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr gibt“.
Doch diese perfide Strategie der Verwirrung und Diskreditierung stellte das Wahrzeichen der Regierungszeit von Waldimir Putin auch vor 2014 dar. Zahlreiche Imitationen füllten den politischen Raum Russlands seit Putin an der Macht ist: ‚Freie Presse‘, ‚unabhängiges Gericht‘, ‚Parlament‘ und andere – alle diese Institutionen wurden ‚eingerichtet‘, ohne wirklich etabliert zu werden – wie reine Fassaden, ‚Potemkinsche Dörfer‘, mit denen man stolz auf internationalen diplomatischen Bühnen reüssierte. Die dazugehörigen Begriffe wurden im öffentlichen Diskurs konsequent profaniert, ausgehöhlt, sie verloren zunehmend an Substanz und eine ihnen zustehende Bedeutung. Die gezielte Zersetzung der grundlegenden politischen Begriffe und der damit verbundenen Institutionen sollte sowohl innenpolitisch wirken als auch in den außenpolitischen Bereich exportiert werden. Die Schließung von „Memorial“ ist nur ein weiterer Zug in diesem bösen Spiel.
Herausforderung für die deutsche Außenpolitik
Für die deutsche Außenpolitik gegenüber Russland stellt das eine schwierige Herausforderung dar: Das gegenwärtige Regime dort schottet sich immer mehr ab, setzt auf Krieg und Konfrontation und lehnt ‚westlich geprägte‘ normativ aufgeladene Begriffe wie ‚Demokratie‘, ‚Rechtstaatlichkeit‘ oder ‚Menschenrechte‘ und nunmehr auch Diplomatie ab. Unter Putin ist Russland ein autoritärer Staat, der darauf besteht, als solcher respektiert zu werden. Doch bei dieser Anerkennung bleibt es nicht, es geht ihm offensichtlich auch darum, die normativen Standards des demokratischen Regierens und der freien Öffentlichkeit insgesamt zu diskreditieren, zu zeigen, dass diese Standards und diese Institutionen auch ‚im Westen‘ schon längst nur Worthülsen sind. Paradoxerweise stellt dies nicht so sehr eine Herausforderung an die deutsche Außen-, sondern vielmehr an die deutsche Innenpolitik dar: Es geht darum, die eigene Glaubwürdigkeit und die eigenen politischen Begrifflichkeiten zu verteidigen.
Der Willkür einer autoritären Staatsmacht kann man versuchen, die Sprache des Rechtes entgegensetzen, allerdings nur, solange der autoritäre Staat nicht auf nackte Gewalt setzt. Im Falle des Regimes von Putin hat Deutschland mit einem Gegenüber zu tun, das innen- wie außenpolitisch viel mehr Gewalt toleriert beziehungsweise für notwendig erachtet als es in westlichen Demokratien und der gegenwärtigen deutschen Politik der Fall ist. Auf viele der Gewaltformen Russlands kann Deutschland allerdings reagieren. Denn es geht nicht nur um Gewalt der Waffen, sondern um Staatsrepressalien gegen Andersdenkende aber auch um Korruption, Willkür und Lüge, denn auch sie sind gefährliche Formen von Gewalt.
Die Aufgabe besteht darin, auf absichtliche Verwirrung mit klaren Rechtsbegriffen zu antworten, die Tatsachen strickt beim Namen zu nennen – bereits das hilft Verfolgten und Eingesperrten enorm! Auch im Falle von politischen und wirtschaftlichen Erpressungen (wie bei Gaslieferungen) oder Drohungen mit militärischer Destabilisierung kann man die Willkür der russländischen korrupten Staatsspitze mit nüchterner Sprache des Rechts erwidern und demaskieren. Dieser Sprache sind freilich Grenzen gesetzt, allerdings wurde ihr Potential noch bei weitem nicht ausgeschöpft.
Nobelpreis und Reaktion
Der am 7. Oktober vom Nobelpreiskomitee zuerkannte Friedensnobelpreis für Memorial dürfte der kaltgestellten Menschenrechstorganisation wieder Mut machen und Auftrieb verleihen. Doch am Tag der Bekanntgabe der Preisverleihung durch das Osloer Nobelpreiskomitee sorgte Moskaus staatsgesteuerte Justiz erneut für Ernüchterung. Memorial verlor seinen Stammsitz in Moskau. Gerichtlich wurde das Gebäude dem russischen Staat zugesprochen.
Zwei Tage darauf hielt die Mitbegründerin von Memorial, Irina Scherbakowa, in der Leipziger Nikolaikirche eine "Rede zur Demokratie" am Tag der Erinnerung an den Externer Link: 9. Oktober 1989, als in Leipzig die Friedliche Revolution in Fahrt kam. Nachdenklich äußerte sie, dass Memorial den Nobelpreis nur schweren Herzens annehmen könne. Denn die Organisation habe ihr Ziel – die Aufarbeitung der Verbrechen des sowjetischen Staates, damit diese nicht wieder passieren – nicht erreicht. "Wir müssen nun darüber reflektieren, warum unsere Stimmen zu schwach warum die russische Gesellschaft uns nicht zuhören wollte, als wir von Verbrechen und Gräueltaten (…) gesprochen haben." Nun würden sich ähnliche russische Gräueltaten in der Ukraine wiederholen, sei es in Butscha, Isjum und anderswo - mit zu wenig Widerspruch aus der russischen Gesellschaft, kritisierte die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin. Wenn sie nun die vielen Kerzen beim Leipziger "Lichtfest" sehe, denke sie daran, "dass sie auch den Opfern gelten, die dieser blutige Krieg in der Ukraine gebracht hat.“
Angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine mahnte Irina Scherbakowa: „Eine Zeit lang schienen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie eine Selbstverständlichkeit zu sein. Diese schreckliche moralische, wirtschaftliche und politische Katastrophe zeigt nun, wie wertvoll das alles ist - und dass es jeden betrifft“.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, Was bedeutet die Liquidierung vom Teilen "Memorials"?, in: Deutschland Archiv, 03.03.2022, aktualisiert 10.10.2022. Link: Externer Link: www.bpb.de/345507/. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, Diplom-Psychologin und Soziologin, geboren in Kyiv (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und 2022 Externer Link: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345507/der-friedensnobelpreis-2022-fuer-memorial/.
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